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Die echten deutschen Minderheitsgebiete (Teil 10)

Das Deutschtum im früheren und im jetzigen Ungarn (Teil 7)

Die ungarische Nationalitätenpolitik

Es wurde bereits erwähnt, daß nach dem ursprünglichen, vom Prinzen Eugen entworfenen Plane Südungarn nach der Vertreibung der Türken ein deutsches Land werden sollte, daß aber im Jahre 1773 dies Ziel aufgegeben und das Banat, die Batschka und die Schwäbische Türkei wieder der ungarischen Regierung unterstellt wurden. Damit war im Prinzip etwas sehr wesentliches, ja Entscheidendes geschehen; praktisch geschah zunächst noch nicht viel im Sinne einer planmäßigen Madjarisierung. Nach der Revolution im Jahre 1848, die in Ungarn nur mit russischer Hilfe niedergeworfen werden konnte, folgten die zwei Jahrzehnte des sogenannten Absolutismus. In dieser Zeit wurde wieder ganz Ungarn von deutschen Beamten ohne Rücksicht auf die madjarischen Wünsche und Ansprüche verwaltet. 1867 kam der "Ausgleich" zwischen Österreich und Ungarn, und damit begann die eigentliche national-ungarische Periode. Kaindl gibt in seiner Geschichte des Deutschtums in Ungarn von dieser Epoche die folgende Schilderung:

      "Die verschiedenen Freiheiten und Vorrechte, die die deutschen Ansiedler in alter und neuerer Zeit erworben hatten, gingen allmählich verloren. Sie waren teils veraltet, teils wurden sie den Deutschen von ihren Gegnern entfremdet... So schwer aber auch diese Verluste waren, das höchste Gut, ihr Volkstum und ihre Sprache, wurde damals den ungarländischen Deutschen durch das Nationalitätengesetz (44. Gesetzartikel aus dem Jahre 1868) gewährleistet. Die führenden Männer Ungarns, Franz Deák, Graf Julius Andrássy der Ältere und Baron F. Eötvös, haben sich darin ein bleibendes Denkmal ihrer Staatsklugheit gesetzt. Das Gesetz über die Gleichberechtigung der Nationalitäten ist vor allem ein Sprachengesetz, d. h. es setzt fest, wie weit ein jeder seine Muttersprache im öffentlichen Leben Ungarns gebrauchen darf. Danach ist jeder Bewohner Ungarns berechtigt, an die Staatsregierung in Budapest, also an die Ministerien, seine Eingaben in der eigenen Muttersprache abzufassen; die Regierung ist verpflichtet, in ihrem Bescheide neben der madjarischen auch diejenige Sprache anzuwenden, in der die Eingabe geschrieben war. Die Gesetze werden in madjarischer Sprache erlassen, sind jedoch auch in der Sprache aller im Lande wohnenden Nationalitäten in rechtsgültiger Übersetzung herauszugeben. Im Komitat können die Protokolle der Komitatsversammlungen auch in nichtmadjarischer Sprache geführt werden, wenn es ein Fünftel der Mitglieder verlangt; das geschieht z. B. in den Siebenbürger Komitaten Hermannstadt, Groß-Kokeln und Kronstadt. In den Komitatsversammlungen kann ein jeder, der das Recht hat, dort zu sprechen, bedingungslos seine Muttersprache gebrauchen. Die Komitatsbeamten (Stuhlrichter, Oberstuhlrichter, Vizegespane usw.) haben sich in ihrem »Amtsgebiete im amtlichen Verkehr mit Gemeinden, Versammlungen, Vereinen, Anstalten und Privaten nach Möglichkeit der Sprache der letzteren zu bedienen.« An seine Komitatsbehörde [322] darf jeder Bürger in seiner Muttersprache Eingaben richten; ebenso können Gemeinden an das Komitat, in dem sie liegen, in ihrer eigenen Amtssprache schreiben. Ein deutsches Ortsamt ist also nicht verpflichtet, an den vorgesetzten Stuhlrichter oder das Komitatsamt madjarisch zu schreiben. An andere Komitate können Einzelpersonen und andere Gemeinden deutsch schreiben, wenn diese Komitate ihre Protokolle auch in deutscher Sprache führen. »Die Gemeindevertretungen wählen selbst ihre Protokoll- und Amtssprache.« Danach kann also in Gemeinden, in denen die Mehrzahl der Gemeindevertreter deutsch ist, stets die deutsche Sprache gewählt werden; in ihr muß dann ausnahmslos der Magistrat, das Ortsamt und der Notar die Geschäfte und Protokolle führen. In Gemeinden, wo die Deutschen nicht die deutsche Amtssprache fordern können, dürfen sie die Führung der Protokolle in deutscher Sprache verlangen, wenn sie wenigstens ein Fünftel der Gemeindevertretung (Kommunität) ausmachen. In jeder Gemeinde- und Kirchenversammlung darf man ungehindert seine Muttersprache gebrauchen; ebenso darf jedermann an seine Gemeinde- und Kirchenbehörde Eingaben in seiner Muttersprache richten. »Die Gemeindebeamten sind verpflichtet, in ihrem Verkehr mit den Gemeindebewohnern deren Sprache zu gebrauchen.« Auch vor Gericht darf sich jeder unter Umständen seiner Muttersprache bedienen. Das kann dann geschehen, wenn das Gericht in seiner Gemeinde oder in seinem Komitate das Deutsche als Amtssprache verwendet oder zumindestens das Protokoll in deutscher Sprache abgefaßt wird. In diesem Falle müssen sich auch die Richter und ebenso die Grundbuchämter der deutschen Sprache bedienen. »Niemandes Nationalität kann als Hindernis bei der Erreichung eines Amtes oder einer Würde angesehen werden. Vielmehr wird die Staatsregierung dafür sorgen, daß bei den gerichtlichen und administrativen Behörden des Landes, und besonders als Obergespane, aus den verschiedenen Nationalitäten in den nötigen Sprachen bewanderte und auch sonst befähigte Personen angestellt werden.« Die Bestimmung der Unterrichtssprache in den staatlichen Anstalten gehört zu den Agenden des Unterrichtsministeriums. Dieses ist aber verpflichtet, »in den Staatslehranstalten möglichst dafür zu sorgen, daß die Bürger einer jeden Nationalität des Landes, wenn sie in größeren Massen zusammenleben, in der Nähe der von ihnen bewohnten Gegend sich in ihrer Muttersprache bilden können bis dahin, wo die höhere akademische Bildung beginnt.« Einzelne Staatsbürger, Gemeinden, Kirchen und Vereine haben das Recht, Elementar-, Mittel- und höhere Schulen zu errichten. »Die Sprache der Privatinstitute und Vereine wird durch den Gründer bestimmt.«"

"Würde dieses Gesetz beobachtet werden," schrieb Kaindl im Jahre 1912, "so wäre die Lage der Deutschen in Ungarn unstreitlich eine günstigere. Bedauerlicherweise ist aber der Geist, der die Schöpfer dieses gerechten Gesetzes beseelte, im Schwinden begriffen. Seine beiden Bestimmungen wurden durch neuere Gesetze und Maßregeln abgeschwächt und durchbrochen." Unter diesen Abschwächungen und Durchbrechungen war schon das Gesetz vom Jahre 1879 zu nennen, durch das nicht nur die madjarische Sprache in den Volksschulen zu einem verpflichtenden Lehrgegenstand gemacht, sondern auch der Schulbehörde das Recht eingeräumt wurde, jeden Lehrer zu entfernen, dessen Schüler nach Beendigung des 4. Schuljahres der madjarischen Sprache in Wort und Schrift nicht mächtig waren. Daß damit alle anderen Fächer auf die Stufe von Nebenfächern herabgedrückt wurden, verstand sich von selbst. Trotzdem waren die Ergebnisse im Madjarischen durchweg mangelhaft, und ebensowenig konnte ein ordentliches Deutsch bei den Kindern erreicht werden.

[323] Der madjarische Chauvinismus fing an, sich überhaupt gegen die deutsche Sprache in Ungarn zu richten. So auch gegen die deutschen Theater. Als dem alten deutschen Theater in Budapest 1880 die Erneuerung der abgelaufenen Konzession verweigert wurde, gab es darüber eine starke Erregung sogar in Deutschland. Als auch der alte Kaiser Wilhelm sich vorsichtig der Sache annahm, wurde die Konzession erneuert. 1889 aber brannte das Theater, wie ein ungarischer Abgeordneter in offener Parlamentssitzung sagte, "mit Gottes Hilfe" ab, und nun blieben alle die Gesuche um Wiederaufbau vergeblich. In Preßburg und Ödenburg sollten deutsche Theatervorstellungen einfach durch ministeriellen Befehl abgeschafft werden; der Widerstand der Deutschen war aber erfolgreich. In Südungarn, Fünfkirchen zum Beispiel, gingen die ministeriellen Verbote durch.

Von dem Kampf gegen die deutschen Ortsbezeichnungen, von der ungarischen "Gesellschaft für Namensmadjarisierung", von der im ungarischen Parlament und in der ungarischen Presse um sich greifenden Liebhaberei, beschimpfende Ausdrücke gegen die Deutschen und gegen die deutsche Sprache zu gebrauchen, soll hier nicht weiter die Rede sein. Ein Teil der Schuld daran trugen die Deutschen selbst mit ihrem geringen Selbstgefühl und ihrer häufig hervortretenden Neigung, sich an das "vornehmere" Madjarentum anzuschmiegen.

      "So hieß, um zunächst einige Politiker zu nennen, der einstige Präsident der Kossuthpartei Iranyi ursprünglich Halbschuh; der Präsident der Ugronpartei Szederkenyi hieß Schönnagel und der größte Schreier dieser Partei Csatar hatte den gut deutschen Namen Löffelholer; der gewesene Ackerbauminister Daranyi nannte sich früher Grieskorn, der Abgeordnete Endrei - Engel, der Abgeordnete Gajari - Bettelheim. Ebenso finden sich solche madjarische Deutsche unter den Schriftstellern und Künstlern: die bekannten Gelehrten Paul und Johann Hunfalvy waren Zipser Deutsche und hießen Hundsdorfer, der Kulturhistoriker Ipolyi - Stummer, der Literaturhistoriker Toldy - Schedel, der Maler Munkacsy - Lieb, die Malerin Vilma Parlaghy - Brachfeld usw." (Kaindl).

Im Jahre 1907 wurde das berüchtigte Apponyische Schulgesetz erlassen, das als Inbegriff madjarischer Unterdrückung der Nationalitäten im ungarischen Inlande wie im Auslande in üblem Gedächtnis fortlebt. Es wurde später von Graf Apponyi selbst als sein größter politischer Fehlgriff bezeichnet. Auf der einen Seite unterstützte es auch die nichtstaatlichen Schulen reichlich, auf der andern Seite ging es in der Ausmerzung der Minderheitssprachen und in der Aufdrängung des Madjarischen bis an die Grenze des Möglichen. Der große Irrtum dabei war, zu erwarten, daß die Nationalitäten an den ungarischen Staat darum anhänglicher werden würden, weil sie gezwungen würden, die Staatssprache zu erlernen und die Muttersprache darüber zu vernachlässigen. In die Verhältnisse dieses letzten Jahrzehntes vor dem Weltkriege in Ungarn gewähren die Romane und Erzählungen von Adam Müller-Guttenbrunn einen lebendigen Einblick, der, wenn auch nicht immer ganz frei von tendenziösen Häufungen, so doch in dem für uns wesentlichen Punkte, dem [324] Kampf um die sprachliche und gesinnungsmäßige Madjarisierung mit allen Mitteln, ebenso treu wie anschaulich ist. Die ungarische Nationalitätenpolitik hat bei den Deutschen in Ungarn nur wenig Widerstand gefunden. Eine gewisse Bewegung mit dem Zwecke, sich wieder auf das nationale Selbstgefühl und auf die Erhaltung der Sprache zu besinnen, entstand allerdings schon in den letzten Jahren des alten Ungarn. Sie nahm ihren Ursprung in der Stadt Werschetz im südlichen Banat, die heute zu Jugoslawien gehört. Auch der Widerhall, den Adam Müller mit seinen - in Ungarn verbotenen - Büchern hier und da im ungarländischen Deutschtum fand, war ein Zeichen dafür, daß sich ein leiser deutscher Wind von innen heraus erhob. Man merkte das namentlich daran, daß junge deutsche Leute aus dem Banat und den benachbarten schwäbischen Siedlungsgebieten anfingen, nicht mehr auf die madjarischen Universitäten zu gehen, sondern deutsche, namentlich österreichische Hochschulen aufzusuchen. Es entstanden auch Verbindungen schwäbischer Hochschüler, in deren Natur es lag, daß sich das deutsche Wissen und die deutsche Gesinnung ihrer Angehörigen über die Studienzeit hinaus im Berufsleben in der Heimat fortsetzten und zur Stütze für das deutsche Gefühl auch bei der Masse des Schwabentums wurden. Ob diese Bewegung mit der Zeit, sei es auch nur teilweise, zu einem Erfolg geführt hätte, wird sich heute, nachdem alle Verhältnisse anders geworden sind, schwer beurteilen lassen. Infolge des Zusammenbruchs hat Ungarn ja nicht nur seine rumänischen, serbischen, slowakischen und sonstigen nichtdeutschen Minderheiten, sondern auch den größten Teil seines Deutschtums verloren. Daß mit diesem Wechsel der Wiederherstellung - in vielen Fällen sollte man besser sagen: der erstmaligen Aufrichtung - eines bewußten Volksgefühls bei den früher ungarländischen Deutschen gedient wurde, ja daß er über die Erhaltung desselben überhaupt im positiven Sinne entschieden hat, kann heute nicht mehr bezweifelt werden. Ganz dasselbe aber muß auch von demjenigen Deutschtum gesagt werden, das nach dem Zusammenbruch in den reduzierten Grenzen des ungarischen Staates geblieben ist.

Man muß, um diesen Vorgang zu verstehen, sich hauptsächlich die Wirkung des Weltkriegs auf das deutsche Gefühl der Schwaben in Ungarn vorstellen. Da das Schwabentum von Beginn seiner Existenz auf ungarischem Boden an kein Volk gewesen ist, sondern nur eine bäuerliche Schicht, für deren Angehörige der soziale Aufstieg zugleich die Madjarisierung bedeutete, so war es natürlich, daß sich ein Gefühl derart entwickelte: wenn einer von uns etwas werden will, so muß er erst den Schwaben ausziehen. Im Volksausdruck war "herrisch", d. h. herrschaftlich, geradezu soviel wie ungarisch. Wohin der Schwabe auch kam und wo er sich auch bewegen mochte: stets machte er die Erfahrung, daß er außerhalb seiner engeren Dorfgemeinschaft und Nachbarschaft nichts galt. Er konnte sich nicht verständigen, nicht auftreten, war der "dumme Schwab". Das ging soweit, daß, wenn Schwaben auf dem Wege der Madjarisierung aufgestiegen und zu Stellung und Einfluß in der ungarischen [325] Gesellschaft gelangt waren, sie selbst untereinander wie auf stillschweigende Verabredung von ihrem Schwabentum nicht sprachen und natürlich erst recht nicht ihre schwäbische Muttersprache gebrauchten. Ihr Schwabentum war soviel wie ein Stück Vergangenheit, das man nicht berührte, weil es keine Ehre brachte. Um das richtig zu verstehen, muß außerdem natürlich bedacht werden, daß es zur Zeit, da der Weltkrieg ausbrach, seit vierzig oder fünfzig Jahren in Ungarn keine wirklichen deutschen Gymnasien mehr gegeben hatte, daß also die Schwaben gar kein Verhältnis zur deutschen Bildung besaßen und vom Deutschen Reich wenig mehr wußten, als was darüber in den ungarischen Lehrbüchern und Zeitungen stand. In Budapest gab es zwar eine höhere deutsche Schule, die vom Reiche aus gegründet war und unterhalten wurde, aber sie existierte nur für die Kinder von deutschen Reichsangehörigen. Für Kinder mit ungarischer Staatsangehörigkeit war der Besuch verboten.

Man sieht leicht, wo der entscheidende Punkt für eine mögliche Änderung dieser Zustande lag: bei der Erweckung des deutschen Selbstgefühls unter den Schwaben. Kam es einmal dazu, daß in dem ungarländischen Schwaben das Gefühl wach wurde, Schwabe sein heißt Deutscher sein, und deutsch sein ist keine Schande, sondern eine Ehre - so war mit einemmal die fehlende Grundlage für eine von innen heraus kommende Belebung des deutschen nationalen Empfindens unter dem Schwabentum geschaffen. Eben dieser Vorgang hat sich bei ihm durch den Weltkrieg vollzogen. Die ungeheuren Leistungen Deutschlands wurden in aller Welt bekannt. Deutsche Truppen marschierten zu vielen Tausenden durch Ungarn gegen Serbien, wurden in den Schwabendörfern einquartiert und mit Begeisterung aufgenommen. Die deutschen Soldaten waren erstaunt, mit einem Male mitten in Ungarn Landsleute zu finden, die mit ihnen deutsch sprachen. Auf der Seite der Schwaben handelte es sich nicht bloß um irgendein Erstaunen, sondern in ihnen brach, man könnte sagen als elementares Ereignis, plötzlich und überwältigend ein Stolz darauf durch, daß diese berühmten Truppen, diese Armee, dieses Deutschland mit ihnen vom selben Blut und Stamm waren. Dies Erlebnis war noch stärker bei den schwäbischen Soldaten aus Ungarn, die selber im Felde mit deutschen Truppen zusammen fochten, ja, selbst bei denen, die in die Gefangenschaft gerieten, tief nach Rußland, nach Sibirien hineinkamen und überall die Erfahrung machten, daß sie als Menschen mit deutscher Sprache und von deutschem Stamme mehr bedeuteten, sich besser verständigen konnten, als der Rumäne, Slowake oder sogar Madjare, der draußen in der Fremde zu etwas sehr Unbedeutendem, zu etwas viel Kleinerem zusammenschrumpfte, als der Deutsche. Von der Tiefe dieses Erlebnisses im Schwabentum sich eine Vorstellung zu machen, ist für den Draußenstehenden nicht leicht. Oft genug unbeholfen im Ausdruck, gefühlsmäßig sentimental bis zu Tränen bei öffentlichen Feiern und Reden, läßt es sich in seiner innerlich umgestaltenden Kraft nur vergleichen mit dem Erlebnis eines Menschen in einfacher und gedrückter, alles Selbstgefühl ertötender Lage, der plötzlich erfährt, daß er von edlem Stamme ist und [326] das Recht hat, sein Haupt hoch zu tragen. Natürlich ist damit nicht gesagt, daß dieses das Erlebnis jedes einzelnen Schwaben ist. Als persönliches Erlebnis haben es sicher nur die wenigsten durchgemacht, aber nichts war selbstverständlicher, als daß die Wirkung auf die Masse sich fortpflanzte. Die Schwaben wissen jetzt, daß sie Deutsche sind, Verwandte und Angehörige des großen Deutschtums im Deutschen Reiche. Dieser einmal geschehene Vorgang ist auch mit keinen Mitteln mehr rückwärts zu revidieren, mögen auch noch so viel unterdrückungspolitische Maßnahmen gehäuft werden.

Unmittelbar nach dem Umsturz trat in Ungarn die vorher befolgte Politik, die Nationalitäten, besonders die Deutschen, als "willkommenen Rohstoff zur Hervorbringung von Madjaren" zu benutzen, sichtbar zurück. Die neuen Grenzen Ungarns standen noch nicht fest. Rumänen und Serben machten beide den Versuch, durch den Schein einer liberalen Minderheitenpolitik möglichst viele Deutsche "freiwillig" in ihre Staaten hinüberzulocken, und auch in Ungarn wurde ein eignes Gesetz erlassen, das den Deutschen eine weitgehende kulturelle Autonomie einräumte. Ein Schwabe, der Professor Bleyer an der Budapester Universität, der selbst schon als junger Mann den Durchbruch des deutschen Volksgefühls in seinem Schwabentum erlebt hatte, wurde zeitweilig sogar zum deutschen Nationalitätenminister ernannt. Auf dem Gebiet der Schule, des Presse- und des Vereinsrechts wurden liberale Zugeständnisse gemacht. Diese Politik aber dauerte nicht lange. In der Baranya, die bis zur endgültigen Festsetzung der Grenzen von den Serben besetzt worden war, hatten die Deutschen, mit serbischer Duldung, sogleich einige deutsche Schulen eingerichtet. Diese mußten sofort verschwinden. Auch der deutsche Minderheitsminister mußte zurücktreten.

Die formelle Grundlage der heutigen Nationalitätenpolitik in Ungarn bildet eine auf Grund der früheren Gesetzgebung erlassene Regierungsverordnung vom 22. Juni 1923, bei der freilich alles darauf ankommt, wie ernsthaft sie gemeint ist und wie ernsthaft sie durchgeführt wird. Unter gewissen Vorbehalten räumt sie den Minderheiten, unter denen in Ungarn praktisch nur noch die Deutschen in Betracht kommen, folgende Rechte ein: Gebrauch der Muttersprache im Verkehr mit den Verwaltungsbehörden und Gerichten; Einrichtung von muttersprachlichen oder gemischtsprachlichen Schulen; Gründung von Vereinen zu kulturellen und wirtschaftlichen Zwecken. Am wichtigsten hiervon sind die Schulrechte. Die Regierungsverordnung sieht drei Typen von Schulen vor: A, B und C. Typus A sind Schulen, in denen der ganze Unterricht in deutscher Sprache erfolgt und das Ungarische in einer reichlich bemessenen Zahl von Stunden den Kindern als Fremdsprache gelehrt wird. Tupus B bedeutet, daß die eine Hälfte der Fächer in deutscher, die andere in ungarischer Sprache gelehrt wird; Typus C endlich hat ungarische Unterrichtssprache und Deutsch als Lehrfach. Nach der Verordnung sind die Schulgemeinden, d. h. die Gesamtheit der Eltern, deren Kinder die betreffende Schule besuchen wollen, berechtigt, sich für Tupus A, B oder C zu entscheiden. Tatsächlich ist es, mit Ausnahme einiger [327] Schulen im ungarisch gebliebenen Teile des Burgenlandes, noch nicht vorgekommen, daß einer Schulgemeinde gestattet worden wäre, den Typus A zu wählen. Die Verwaltungsbeamten, die Lehrer und die Pfarrer sorgen dafür, daß, wenn überhaupt ein deutscher Unterricht zustande kommt, höchstens Typus C gewählt wird, und auch der mit nur zwei deutschen Stunden wöchentlich. Es gibt nicht wenige Pfarrer, sogar solche von ursprünglich schwäbischer Herkunft, die so madjarisch gesinnt sind, daß sie selbst den Religionsunterricht in ungarischer Sprache geben, wobei natürlich von einer Einwirkung auf das Gemüt der deutschen Kinder nicht die Rede sein kann. Allerdings ist dies nicht die Regel; der Religionsunterricht soll deutsch sein und ist es wohl auch überwiegend.

Auf dem Gebiet des Vereinswesens war ein für das Deutschtum wichtiger Vorgang die Gründung eines "Ungarländischen Deutschen Volksbildungsvereins". Allerdings verlangte die Regierung die Aufnahme von Vertrauensleuten, madjarisch gesinnte Schwaben, in den Vorstand, doch gehen die eigentlichen Hindernisse der Vereinsarbeit weniger von diesen aus, als von den lokalen Behörden und "Autoritäten". Die Ergänzung des Volksbildungsvereins bildet das 1920, gleich nach dem Umsturz, von Bleyer gegründete Sonntagsblatt, eine Wochenzeitung für das deutsche Volk in Ungarn. Das Sonntagsblatt ist ausgezeichnet geleitet und geschrieben; für die Wiedererweckung des ungarländischen Deutschtums ist es von höchstem Wert. Unbedingt staatstreu und loyal, verficht es die nationalen Forderungen und Rechte der Deutschen ebenso fest wie geschickt, und in seinen Artikeln spiegelt sich am besten die Summe der Hindernisse, die ungeachtet aller "liberal" sein sollenden Gesetze und Verordnungen, der Erstarkung des deutschen Volksgefühls bei den ungarländischen Schwaben bereitet werden. Aus einem solchen Artikel (von Franz Bonitz) in der Nummer vom 14. März 1926, der die charakteristische Überschrift trägt "Kirschenkerne", seien die folgenden Abschnitte wiedergegeben, in denen die heutige Lage des Deutschtums in Ungarn charakterisiert wird:

      "Wie kann es kommen, wie darf es geschehen, daß dem auf Grund des Gesetzes gebildeten, unter dem Schutze des Gesetzes stehenden Ungarländischen Deutschen Volksbildungsverein in verschiedenen deutschbewohnten Gegenden, einmal hier, das andere Mal dort, einmal im Oberstuhlrichteramt, das andere Mal in der Notarstube oder gar in der Kirche, im Hause Gottes, Kirschenkerne auf den Weg gestreut werden? Welche Denkweise mag es wohl sein, welche einzelne in ungarischer Sprache erscheinende Zeitungen von Fall zu Fall dazu bewegt, in jedem Deutschen Ungarns, der es wagt deutsch zu reden, gleich einen Vaterlandsverräter, einen »Pangermanen« zu erblicken? Eine in Baja erscheinende ungarische Zeitung hält sich darüber auf, daß die Vaskuter Vereinsgruppe eine Dilettantenvorstellung veranstaltete und eine deutsche Posse: »Der böse Geist Lumpazivagabundus« gab. Das sei eine »Friedensstörung«, ein Zeichen der »Sonderziele« der Deutschen, eine »Scheidewand« zwischen Ungarn und Deutschen, eine Versündigung gegen die ungarische Idee. Ja, um Gotteswillen: Vaskut ist doch eine deutsch-ungarische Gemeinde, ihre Bevölkerung ist deutsch-ungarisch, und welchem bösen Geist Lumpazivagabundus kann es vernünftigerweise einfallen, es als Versündigung [328] gegen das ungarische Vaterland zu bezeichnen, wenn deutsche junge Leute ein harmloses, unpolitisches Theaterstück in deutscher Sprache aufführen?
      Ein anderer Kirschenkern: In manchen Baranyaer deutschbewohnten Gemeinden wird vom Lehrer oder Notar die Mär verbreitet, »in der Baranya dürfen keine Ortsausschüsse mehr gegründet werden und die bereits gegründet sind, werden nicht genehmigt.« Die Wahrheit ist die: In der Baranya bestehen tatsächlich - nicht vom Volksbildungsverein hervorgerufene - Schwierigkeiten, allein es sind Verhandlungen im Zuge, und von einem Verbot der Bildung von Ortsgruppen kann keine Rede sein. Der Verein wandelt seinen geraden Weg und überläßt das Manipulieren mit Kirschenkernen einigen unüberlegten Lehrern und Notaren.
      Ein anderer Kirschenkern: In einer deutschbewohnten Gemeinde erläßt der Herr Oberstuhlrichter ein Verbot, wonach es den dortigen Deutschen einfach untersagt ist, dem Volksbildungsverein beizutreten. Aber, aber! Glaubt der Herr Oberstuhlrichter wirklich, stärker zu sein, als der Obergespan, der Ministerpräsident oder gar das - Gesetz?
      Und noch ein Kirschenkern: In einer Baranyaer Gemeinde stellt sich der übrigens hochachtbare Herr Pfarrer im Meßornat vor den Altar und läßt eine geharnischte Predigt gegen den »Ungarländischen Deutschen Volksbildungsverein« los. Der Verein, sagt er mit dem Brustton der Überzeugung, wandle auf Irrwegen, er will, daß unsere Schwaben keine Ungarn mehr sein sollen, er will die Zustände anno 1848 oder gar 1918 wieder heraufbeschwören, er, der Herr Pfarrer, als »Stellvertreter Gottes« (!!) fühlt sich verpflichtet, seine Gläubigen in der Kirche, vor dem Tabernakel vor dem Volksbildungsverein zu warnen."

Man kann ein solches Verhalten des Ungarntums, des amtlichen wie des nichtamtlichen, gegenüber der deutsch-schwäbischen Bewegung wohl verstehen. Es rührt vor allen Dingen daher, daß den Ungarn die Natur des Geschehnisses, das sich bei den Schwaben vollzogen hat, das bei ihnen wie ein elementarer Durchbruch erlebt wurde und immer noch weiter erlebt wird, gar nicht klar ist. Die ungarischen Behörden und die ungarische Gesellschaft glauben unwillkürlich, es handle sich um etwas wie eine künstlich von außen hereingetragene Bewegung. Sie werden sich aber, auch wenn es ihnen zunächst schwer fällt, damit abfinden müssen, daß hier die Auferweckung eines fast schon eingeschlafenen Volksbewußtseins zu einem Leben geschehen ist, für das es trotz aller dagegen gesetzten Hindernisse kein Zurück mehr geben wird, sondern nur noch ein Vorwärts.

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Deutschtum in Not!
Die Schicksale der Deutschen in Europa außerhalb des Reiches.
Paul Rohrbach