[321]
Die echten deutschen Minderheitsgebiete (Teil
10)
Das Deutschtum im früheren und im jetzigen Ungarn (Teil
7)
Die ungarische
Nationalitätenpolitik
Es wurde bereits erwähnt, daß nach dem ursprünglichen, vom
Prinzen Eugen entworfenen Plane Südungarn nach der Vertreibung der
Türken ein deutsches Land werden sollte, daß aber im Jahre 1773
dies Ziel aufgegeben und das Banat, die Batschka und die Schwäbische
Türkei wieder der ungarischen Regierung unterstellt wurden. Damit war im
Prinzip etwas sehr wesentliches, ja Entscheidendes geschehen; praktisch geschah
zunächst noch nicht viel im Sinne einer planmäßigen
Madjarisierung. Nach der Revolution im Jahre 1848, die in Ungarn nur mit
russischer Hilfe niedergeworfen werden konnte, folgten die zwei Jahrzehnte des
sogenannten Absolutismus. In dieser Zeit wurde wieder ganz Ungarn von
deutschen Beamten ohne Rücksicht auf die madjarischen Wünsche
und Ansprüche verwaltet. 1867 kam der "Ausgleich" zwischen
Österreich und Ungarn, und damit begann die eigentliche
national-ungarische Periode. Kaindl gibt in seiner Geschichte des Deutschtums in
Ungarn von dieser Epoche die folgende Schilderung:
"Die verschiedenen Freiheiten und
Vorrechte, die die deutschen Ansiedler in alter und neuerer Zeit erworben hatten,
gingen allmählich verloren. Sie waren teils veraltet, teils wurden sie den
Deutschen von ihren Gegnern entfremdet... So schwer aber auch diese Verluste
waren, das höchste Gut, ihr Volkstum und ihre Sprache, wurde damals den
ungarländischen Deutschen durch das Nationalitätengesetz (44.
Gesetzartikel aus dem Jahre 1868) gewährleistet. Die führenden
Männer Ungarns, Franz Deák, Graf Julius Andrássy der
Ältere und Baron F. Eötvös, haben sich darin ein bleibendes
Denkmal ihrer Staatsklugheit gesetzt. Das Gesetz über die
Gleichberechtigung der Nationalitäten ist vor allem ein Sprachengesetz,
d. h. es setzt fest, wie weit ein jeder seine Muttersprache im
öffentlichen Leben Ungarns gebrauchen darf. Danach ist jeder Bewohner
Ungarns berechtigt, an die Staatsregierung in Budapest, also an die Ministerien,
seine Eingaben in der eigenen Muttersprache abzufassen; die Regierung ist
verpflichtet, in ihrem Bescheide neben der madjarischen auch diejenige Sprache
anzuwenden, in der die Eingabe geschrieben war. Die Gesetze werden in
madjarischer Sprache erlassen, sind jedoch auch in der Sprache aller im Lande
wohnenden Nationalitäten in rechtsgültiger Übersetzung
herauszugeben. Im Komitat können die Protokolle der
Komitatsversammlungen auch in nichtmadjarischer Sprache geführt
werden, wenn es ein Fünftel der Mitglieder verlangt; das geschieht
z. B. in den Siebenbürger Komitaten Hermannstadt,
Groß-Kokeln und Kronstadt. In den Komitatsversammlungen kann ein
jeder, der das Recht hat, dort zu sprechen, bedingungslos seine Muttersprache
gebrauchen. Die Komitatsbeamten (Stuhlrichter, Oberstuhlrichter,
Vizegespane usw.) haben sich in ihrem »Amtsgebiete im amtlichen
Verkehr mit Gemeinden, Versammlungen, Vereinen, Anstalten und Privaten nach
Möglichkeit der Sprache der letzteren zu bedienen.« An seine
Komitatsbehörde [322] darf jeder Bürger
in seiner Muttersprache Eingaben richten; ebenso können Gemeinden an
das Komitat, in dem sie liegen, in ihrer eigenen Amtssprache schreiben. Ein
deutsches Ortsamt ist also nicht verpflichtet, an den vorgesetzten Stuhlrichter oder
das Komitatsamt madjarisch zu schreiben. An andere Komitate können
Einzelpersonen und andere Gemeinden deutsch schreiben, wenn diese Komitate
ihre Protokolle auch in deutscher Sprache führen. »Die
Gemeindevertretungen wählen selbst ihre Protokoll- und
Amtssprache.« Danach kann also in Gemeinden, in denen die Mehrzahl der
Gemeindevertreter deutsch ist, stets die deutsche Sprache gewählt werden;
in ihr muß dann ausnahmslos der Magistrat, das Ortsamt und der Notar die
Geschäfte und Protokolle führen. In Gemeinden, wo die Deutschen
nicht die deutsche Amtssprache fordern können, dürfen sie die
Führung der Protokolle in deutscher Sprache verlangen, wenn sie
wenigstens ein Fünftel der Gemeindevertretung (Kommunität)
ausmachen. In jeder Gemeinde- und Kirchenversammlung darf man ungehindert
seine Muttersprache gebrauchen; ebenso darf jedermann an seine
Gemeinde- und Kirchenbehörde Eingaben in seiner Muttersprache richten.
»Die Gemeindebeamten sind verpflichtet, in ihrem Verkehr mit den
Gemeindebewohnern deren Sprache zu gebrauchen.« Auch vor Gericht
darf sich jeder unter Umständen seiner Muttersprache bedienen. Das kann
dann geschehen, wenn das Gericht in seiner Gemeinde oder in seinem Komitate
das Deutsche als Amtssprache verwendet oder zumindestens das Protokoll in
deutscher Sprache abgefaßt wird. In diesem Falle müssen sich auch
die Richter und ebenso die Grundbuchämter der deutschen Sprache
bedienen. »Niemandes Nationalität kann als Hindernis bei der
Erreichung eines Amtes oder einer Würde angesehen werden. Vielmehr
wird die Staatsregierung dafür sorgen, daß bei den gerichtlichen und
administrativen Behörden des Landes, und besonders als Obergespane, aus
den verschiedenen Nationalitäten in den nötigen Sprachen
bewanderte und auch sonst befähigte Personen angestellt werden.«
Die Bestimmung der Unterrichtssprache in den staatlichen Anstalten gehört
zu den Agenden des Unterrichtsministeriums. Dieses ist aber verpflichtet,
»in den Staatslehranstalten möglichst dafür zu sorgen,
daß die Bürger einer jeden Nationalität des Landes, wenn sie in
größeren Massen zusammenleben, in der Nähe der von ihnen
bewohnten Gegend sich in ihrer Muttersprache bilden können bis dahin, wo
die höhere akademische Bildung beginnt.« Einzelne
Staatsbürger, Gemeinden, Kirchen und Vereine haben das Recht,
Elementar-, Mittel- und höhere Schulen zu errichten. »Die Sprache
der Privatinstitute und Vereine wird durch den Gründer
bestimmt.«"
"Würde dieses Gesetz beobachtet werden," schrieb Kaindl im Jahre 1912,
"so wäre die Lage der Deutschen in Ungarn unstreitlich eine
günstigere. Bedauerlicherweise ist aber der Geist, der die Schöpfer
dieses gerechten Gesetzes beseelte, im Schwinden begriffen. Seine beiden
Bestimmungen wurden durch neuere Gesetze und Maßregeln
abgeschwächt und durchbrochen." Unter diesen Abschwächungen
und Durchbrechungen war schon das Gesetz vom Jahre 1879 zu nennen, durch
das nicht nur die madjarische Sprache in den Volksschulen zu einem
verpflichtenden Lehrgegenstand gemacht, sondern auch der Schulbehörde
das Recht eingeräumt wurde, jeden Lehrer zu entfernen, dessen
Schüler nach Beendigung des 4. Schuljahres der madjarischen
Sprache in Wort und Schrift nicht mächtig waren. Daß damit alle
anderen Fächer auf die Stufe von Nebenfächern herabgedrückt
wurden, verstand sich von selbst. Trotzdem waren die Ergebnisse im
Madjarischen durchweg mangelhaft, und ebensowenig konnte ein ordentliches
Deutsch bei den Kindern erreicht werden.
[323] Der madjarische
Chauvinismus fing an, sich überhaupt gegen die deutsche Sprache in
Ungarn zu richten. So auch gegen die deutschen Theater. Als dem alten deutschen
Theater in Budapest 1880 die Erneuerung der abgelaufenen Konzession
verweigert wurde, gab es darüber eine starke Erregung sogar in
Deutschland. Als auch der alte Kaiser Wilhelm
sich vorsichtig der Sache annahm,
wurde die Konzession erneuert. 1889 aber brannte das Theater, wie ein
ungarischer Abgeordneter in offener Parlamentssitzung sagte, "mit Gottes Hilfe"
ab, und nun blieben alle die Gesuche um Wiederaufbau vergeblich. In
Preßburg und Ödenburg sollten deutsche Theatervorstellungen
einfach durch ministeriellen Befehl abgeschafft werden; der Widerstand der
Deutschen war aber erfolgreich. In Südungarn, Fünfkirchen zum
Beispiel, gingen die ministeriellen Verbote durch.
Von dem Kampf gegen die deutschen Ortsbezeichnungen, von der ungarischen
"Gesellschaft für Namensmadjarisierung", von der im ungarischen
Parlament und in der ungarischen Presse um sich greifenden Liebhaberei,
beschimpfende Ausdrücke gegen die Deutschen und gegen die deutsche
Sprache zu gebrauchen, soll hier nicht weiter die Rede sein. Ein Teil der Schuld
daran trugen die Deutschen selbst mit ihrem geringen Selbstgefühl und
ihrer häufig hervortretenden Neigung, sich an das "vornehmere"
Madjarentum anzuschmiegen.
"So hieß, um zunächst
einige Politiker zu nennen, der einstige Präsident der Kossuthpartei Iranyi
ursprünglich Halbschuh; der Präsident der Ugronpartei Szederkenyi
hieß Schönnagel und der größte Schreier dieser Partei
Csatar hatte den gut deutschen Namen Löffelholer; der gewesene
Ackerbauminister Daranyi nannte sich früher Grieskorn, der
Abgeordnete Endrei - Engel, der Abgeordnete
Gajari - Bettelheim. Ebenso finden sich solche madjarische Deutsche unter
den Schriftstellern und Künstlern: die bekannten Gelehrten Paul und
Johann Hunfalvy waren Zipser Deutsche und hießen Hundsdorfer, der
Kulturhistoriker Ipolyi - Stummer, der Literaturhistoriker
Toldy - Schedel, der Maler Munkacsy - Lieb, die Malerin Vilma
Parlaghy - Brachfeld usw." (Kaindl).
Im Jahre 1907 wurde das berüchtigte Apponyische Schulgesetz erlassen,
das als Inbegriff madjarischer Unterdrückung der Nationalitäten im
ungarischen Inlande wie im Auslande in üblem Gedächtnis fortlebt.
Es wurde später von Graf Apponyi selbst als sein größter
politischer Fehlgriff bezeichnet. Auf der einen Seite unterstützte es auch die
nichtstaatlichen Schulen reichlich, auf der andern Seite ging es in der Ausmerzung
der Minderheitssprachen und in der Aufdrängung des Madjarischen bis an
die Grenze des Möglichen. Der große Irrtum dabei war, zu erwarten,
daß die Nationalitäten an den ungarischen Staat darum
anhänglicher werden würden, weil sie gezwungen würden, die
Staatssprache zu erlernen und die Muttersprache darüber zu
vernachlässigen. In die Verhältnisse dieses letzten Jahrzehntes vor
dem Weltkriege in Ungarn gewähren die Romane und Erzählungen
von Adam Müller-Guttenbrunn einen lebendigen Einblick, der, wenn auch
nicht immer ganz frei von tendenziösen Häufungen, so doch in dem
für uns wesentlichen Punkte, dem [324] Kampf um die
sprachliche und gesinnungsmäßige Madjarisierung mit allen Mitteln,
ebenso treu wie anschaulich ist. Die ungarische Nationalitätenpolitik hat bei
den Deutschen in Ungarn nur wenig Widerstand gefunden. Eine gewisse
Bewegung mit dem Zwecke, sich wieder auf das nationale Selbstgefühl und
auf die Erhaltung der Sprache zu besinnen, entstand allerdings schon in den
letzten Jahren des alten Ungarn. Sie nahm ihren Ursprung in der Stadt Werschetz
im südlichen Banat, die heute zu Jugoslawien gehört. Auch der
Widerhall, den Adam Müller mit
seinen - in Ungarn verbotenen - Büchern hier und da im
ungarländischen Deutschtum fand, war ein Zeichen dafür, daß
sich ein leiser deutscher Wind von innen heraus erhob. Man merkte das
namentlich daran, daß junge deutsche Leute aus dem Banat und den
benachbarten schwäbischen Siedlungsgebieten anfingen, nicht mehr auf die
madjarischen Universitäten zu gehen, sondern deutsche, namentlich
österreichische Hochschulen aufzusuchen. Es entstanden auch
Verbindungen schwäbischer Hochschüler, in deren Natur es lag,
daß sich das deutsche Wissen und die deutsche Gesinnung ihrer
Angehörigen über die Studienzeit hinaus im Berufsleben in der
Heimat fortsetzten und zur Stütze für das deutsche Gefühl
auch bei der Masse des Schwabentums wurden. Ob diese Bewegung mit der Zeit,
sei es auch nur teilweise, zu einem Erfolg geführt hätte, wird sich
heute, nachdem alle Verhältnisse anders geworden sind, schwer beurteilen
lassen. Infolge des Zusammenbruchs hat Ungarn ja nicht nur seine
rumänischen, serbischen, slowakischen und sonstigen nichtdeutschen
Minderheiten, sondern auch den größten Teil seines Deutschtums
verloren. Daß mit diesem Wechsel der
Wiederherstellung - in vielen Fällen sollte man besser sagen: der
erstmaligen Aufrichtung - eines bewußten Volksgefühls bei
den früher ungarländischen Deutschen gedient wurde, ja daß er
über die Erhaltung desselben überhaupt im positiven Sinne
entschieden hat, kann heute nicht mehr bezweifelt werden. Ganz dasselbe aber
muß auch von demjenigen Deutschtum gesagt werden, das nach dem
Zusammenbruch in den reduzierten Grenzen des ungarischen Staates geblieben
ist.
Man muß, um diesen Vorgang zu verstehen, sich hauptsächlich die
Wirkung des Weltkriegs auf das deutsche Gefühl der Schwaben in Ungarn
vorstellen. Da das Schwabentum von Beginn seiner Existenz auf ungarischem
Boden an kein Volk gewesen ist, sondern nur eine bäuerliche Schicht,
für deren Angehörige der soziale Aufstieg zugleich die
Madjarisierung bedeutete, so war es natürlich, daß sich ein
Gefühl derart entwickelte: wenn einer von uns etwas werden will, so
muß er erst den Schwaben ausziehen. Im Volksausdruck war "herrisch",
d. h. herrschaftlich, geradezu soviel wie ungarisch. Wohin der Schwabe
auch kam und wo er sich auch bewegen mochte: stets machte er die Erfahrung,
daß er außerhalb seiner engeren Dorfgemeinschaft und Nachbarschaft
nichts galt. Er konnte sich nicht verständigen, nicht auftreten, war der
"dumme Schwab". Das ging soweit, daß, wenn Schwaben auf dem Wege
der Madjarisierung aufgestiegen und zu Stellung und Einfluß in der
ungarischen [325] Gesellschaft gelangt
waren, sie selbst untereinander wie auf stillschweigende Verabredung von ihrem
Schwabentum nicht sprachen und natürlich erst recht nicht ihre
schwäbische Muttersprache gebrauchten. Ihr Schwabentum war soviel wie
ein Stück Vergangenheit, das man nicht berührte, weil es keine Ehre
brachte. Um das richtig zu verstehen, muß außerdem natürlich
bedacht werden, daß es zur Zeit, da der Weltkrieg ausbrach, seit vierzig
oder fünfzig Jahren in Ungarn keine wirklichen deutschen Gymnasien mehr
gegeben hatte, daß also die Schwaben gar kein Verhältnis zur
deutschen Bildung besaßen und vom Deutschen Reich wenig mehr
wußten, als was darüber in den ungarischen Lehrbüchern und
Zeitungen stand. In Budapest gab es zwar eine höhere deutsche Schule, die
vom Reiche aus gegründet war und unterhalten wurde, aber sie existierte
nur für die Kinder von deutschen Reichsangehörigen. Für
Kinder mit ungarischer Staatsangehörigkeit war der Besuch verboten.
Man sieht leicht, wo der entscheidende Punkt für eine mögliche
Änderung dieser Zustande lag: bei der Erweckung des deutschen
Selbstgefühls unter den Schwaben. Kam es einmal dazu, daß in dem
ungarländischen Schwaben das Gefühl wach wurde, Schwabe sein
heißt Deutscher sein, und deutsch sein ist keine Schande, sondern eine
Ehre - so war mit einemmal die fehlende Grundlage für eine von
innen heraus kommende Belebung des deutschen nationalen Empfindens unter
dem Schwabentum geschaffen. Eben dieser Vorgang hat sich bei ihm durch den
Weltkrieg vollzogen. Die ungeheuren Leistungen Deutschlands wurden in aller
Welt bekannt. Deutsche Truppen marschierten zu vielen Tausenden durch Ungarn
gegen Serbien, wurden in den Schwabendörfern einquartiert und mit
Begeisterung aufgenommen. Die deutschen Soldaten waren erstaunt, mit einem
Male mitten in Ungarn Landsleute zu finden, die mit ihnen deutsch sprachen. Auf
der Seite der Schwaben handelte es sich nicht bloß um irgendein Erstaunen,
sondern in ihnen brach, man könnte sagen als elementares Ereignis,
plötzlich und überwältigend ein Stolz darauf durch, daß
diese berühmten Truppen, diese Armee, dieses Deutschland mit ihnen vom
selben Blut und Stamm waren. Dies Erlebnis war noch stärker bei den
schwäbischen Soldaten aus Ungarn, die selber im Felde mit deutschen
Truppen zusammen fochten, ja, selbst bei denen, die in die Gefangenschaft
gerieten, tief nach Rußland, nach Sibirien hineinkamen und überall
die Erfahrung machten, daß sie als Menschen mit deutscher Sprache und
von deutschem Stamme mehr bedeuteten, sich besser verständigen konnten,
als der Rumäne, Slowake oder sogar Madjare, der draußen in der
Fremde zu etwas sehr Unbedeutendem, zu etwas viel Kleinerem
zusammenschrumpfte, als der Deutsche. Von der Tiefe dieses Erlebnisses im
Schwabentum sich eine Vorstellung zu machen, ist für den
Draußenstehenden nicht leicht. Oft genug unbeholfen im Ausdruck,
gefühlsmäßig sentimental bis zu Tränen bei
öffentlichen Feiern und Reden, läßt es sich in seiner innerlich
umgestaltenden Kraft nur vergleichen mit dem Erlebnis eines Menschen in
einfacher und gedrückter, alles Selbstgefühl ertötender Lage,
der plötzlich erfährt, daß er von edlem Stamme ist und [326] das Recht hat, sein
Haupt hoch zu tragen. Natürlich ist damit nicht gesagt, daß dieses das
Erlebnis jedes einzelnen Schwaben ist. Als persönliches Erlebnis haben es
sicher nur die wenigsten durchgemacht, aber nichts war
selbstverständlicher, als daß die Wirkung auf die Masse sich
fortpflanzte. Die Schwaben wissen jetzt, daß sie Deutsche sind, Verwandte
und Angehörige des großen Deutschtums im Deutschen Reiche.
Dieser einmal geschehene Vorgang ist auch mit keinen Mitteln mehr
rückwärts zu revidieren, mögen auch noch so viel
unterdrückungspolitische Maßnahmen gehäuft werden.
Unmittelbar nach dem Umsturz trat in Ungarn die vorher befolgte Politik, die
Nationalitäten, besonders die Deutschen, als "willkommenen Rohstoff zur
Hervorbringung von Madjaren" zu benutzen, sichtbar zurück. Die neuen
Grenzen Ungarns standen noch nicht fest. Rumänen und Serben machten
beide den Versuch, durch den Schein einer liberalen Minderheitenpolitik
möglichst viele Deutsche "freiwillig" in ihre Staaten
hinüberzulocken, und auch in Ungarn wurde ein eignes Gesetz erlassen, das
den Deutschen eine weitgehende kulturelle Autonomie einräumte. Ein
Schwabe, der Professor Bleyer an der Budapester Universität, der selbst
schon als junger Mann den Durchbruch des deutschen Volksgefühls in
seinem Schwabentum erlebt hatte, wurde zeitweilig sogar zum deutschen
Nationalitätenminister ernannt. Auf dem Gebiet der Schule, des
Presse- und des Vereinsrechts wurden liberale Zugeständnisse gemacht.
Diese Politik aber dauerte nicht lange. In der Baranya, die bis zur
endgültigen Festsetzung der Grenzen von den Serben besetzt worden war,
hatten die Deutschen, mit serbischer Duldung, sogleich einige deutsche Schulen
eingerichtet. Diese mußten sofort verschwinden. Auch der deutsche
Minderheitsminister mußte zurücktreten.
Die formelle Grundlage der heutigen Nationalitätenpolitik in Ungarn bildet
eine auf Grund der früheren Gesetzgebung erlassene Regierungsverordnung
vom 22. Juni 1923, bei der freilich alles darauf ankommt, wie ernsthaft sie
gemeint ist und wie ernsthaft sie durchgeführt wird. Unter gewissen
Vorbehalten räumt sie den Minderheiten, unter denen in Ungarn praktisch
nur noch die Deutschen in Betracht kommen, folgende Rechte ein: Gebrauch der
Muttersprache im Verkehr mit den Verwaltungsbehörden und Gerichten;
Einrichtung von muttersprachlichen oder gemischtsprachlichen Schulen;
Gründung von Vereinen zu kulturellen und wirtschaftlichen Zwecken. Am
wichtigsten hiervon sind die Schulrechte. Die Regierungsverordnung sieht drei
Typen von Schulen vor: A, B und C. Typus A sind Schulen, in denen der
ganze Unterricht in deutscher Sprache erfolgt und das Ungarische in einer
reichlich bemessenen Zahl von Stunden den Kindern als Fremdsprache gelehrt
wird. Tupus B bedeutet, daß die eine Hälfte der Fächer
in deutscher, die andere in ungarischer Sprache gelehrt wird; Typus C
endlich hat ungarische Unterrichtssprache und Deutsch als Lehrfach. Nach der
Verordnung sind die Schulgemeinden, d. h. die Gesamtheit der Eltern,
deren Kinder die betreffende Schule besuchen wollen, berechtigt, sich für
Tupus A, B oder C zu entscheiden. Tatsächlich ist es, mit Ausnahme
einiger [327] Schulen im ungarisch
gebliebenen Teile des Burgenlandes, noch nicht vorgekommen, daß einer
Schulgemeinde gestattet worden wäre, den Typus A zu
wählen. Die Verwaltungsbeamten, die Lehrer und die Pfarrer sorgen
dafür, daß, wenn überhaupt ein deutscher Unterricht zustande
kommt, höchstens Typus C gewählt wird, und auch der mit
nur zwei deutschen Stunden wöchentlich. Es gibt nicht wenige Pfarrer,
sogar solche von ursprünglich schwäbischer Herkunft, die so
madjarisch gesinnt sind, daß sie selbst den Religionsunterricht in
ungarischer Sprache geben, wobei natürlich von einer Einwirkung auf das
Gemüt der deutschen Kinder nicht die Rede sein kann. Allerdings ist dies
nicht die Regel; der Religionsunterricht soll deutsch sein und ist es wohl
auch überwiegend.
Auf dem Gebiet des Vereinswesens war ein für das Deutschtum wichtiger
Vorgang die Gründung eines "Ungarländischen Deutschen
Volksbildungsvereins". Allerdings verlangte die Regierung die Aufnahme von
Vertrauensleuten, madjarisch gesinnte Schwaben, in den Vorstand, doch gehen
die eigentlichen Hindernisse der Vereinsarbeit weniger von diesen aus, als von
den lokalen Behörden und "Autoritäten". Die Ergänzung des
Volksbildungsvereins bildet das 1920, gleich nach dem Umsturz, von Bleyer
gegründete Sonntagsblatt, eine Wochenzeitung für das
deutsche Volk in Ungarn. Das Sonntagsblatt ist ausgezeichnet geleitet und
geschrieben; für die Wiedererweckung des ungarländischen
Deutschtums ist es von höchstem Wert. Unbedingt staatstreu und loyal,
verficht es die nationalen Forderungen und Rechte der Deutschen ebenso fest wie
geschickt, und in seinen Artikeln spiegelt sich am besten die Summe der
Hindernisse, die ungeachtet aller "liberal" sein sollenden Gesetze und
Verordnungen, der Erstarkung des deutschen Volksgefühls bei den
ungarländischen Schwaben bereitet werden. Aus einem solchen Artikel
(von Franz Bonitz) in der Nummer vom 14. März 1926, der die
charakteristische Überschrift trägt "Kirschenkerne", seien die
folgenden Abschnitte wiedergegeben, in denen die heutige Lage des Deutschtums
in Ungarn charakterisiert wird:
"Wie kann es kommen, wie darf es
geschehen, daß dem auf Grund des Gesetzes gebildeten, unter dem Schutze
des Gesetzes stehenden Ungarländischen Deutschen Volksbildungsverein
in verschiedenen deutschbewohnten Gegenden, einmal hier, das andere Mal dort,
einmal im Oberstuhlrichteramt, das andere Mal in der Notarstube oder gar in der
Kirche, im Hause Gottes, Kirschenkerne auf den Weg gestreut werden? Welche
Denkweise mag es wohl sein, welche einzelne in ungarischer Sprache
erscheinende Zeitungen von Fall zu Fall dazu bewegt, in jedem Deutschen
Ungarns, der es wagt deutsch zu reden, gleich einen Vaterlandsverräter,
einen »Pangermanen« zu erblicken? Eine in Baja erscheinende
ungarische Zeitung hält sich darüber auf, daß die Vaskuter
Vereinsgruppe eine Dilettantenvorstellung veranstaltete und eine deutsche Posse:
»Der böse Geist Lumpazivagabundus« gab. Das sei eine
»Friedensstörung«, ein Zeichen der
»Sonderziele« der Deutschen, eine »Scheidewand«
zwischen Ungarn und Deutschen, eine Versündigung gegen die ungarische
Idee. Ja, um Gotteswillen: Vaskut ist doch eine
deutsch-ungarische Gemeinde, ihre Bevölkerung ist
deutsch-ungarisch, und welchem bösen Geist Lumpazivagabundus kann es
vernünftigerweise einfallen, es als Versündigung [328] gegen das ungarische
Vaterland zu bezeichnen, wenn deutsche junge Leute ein harmloses, unpolitisches
Theaterstück in deutscher Sprache aufführen?
Ein anderer Kirschenkern: In manchen Baranyaer
deutschbewohnten Gemeinden wird vom Lehrer oder Notar die Mär
verbreitet, »in der Baranya dürfen keine Ortsausschüsse mehr
gegründet werden und die bereits gegründet sind, werden nicht
genehmigt.« Die Wahrheit ist die: In der Baranya bestehen
tatsächlich - nicht vom Volksbildungsverein
hervorgerufene - Schwierigkeiten, allein es sind Verhandlungen im Zuge,
und von einem Verbot der Bildung von Ortsgruppen kann keine Rede sein. Der
Verein wandelt seinen geraden Weg und überläßt das
Manipulieren mit Kirschenkernen einigen unüberlegten Lehrern und
Notaren.
Ein anderer Kirschenkern: In einer deutschbewohnten
Gemeinde erläßt der Herr Oberstuhlrichter ein Verbot, wonach es den
dortigen Deutschen einfach untersagt ist, dem Volksbildungsverein beizutreten.
Aber, aber! Glaubt der Herr Oberstuhlrichter wirklich, stärker zu sein, als
der Obergespan, der Ministerpräsident oder gar
das - Gesetz?
Und noch ein Kirschenkern: In einer Baranyaer Gemeinde
stellt sich der übrigens hochachtbare Herr Pfarrer im Meßornat vor
den Altar und läßt eine geharnischte Predigt gegen den
»Ungarländischen Deutschen Volksbildungsverein« los. Der
Verein, sagt er mit dem Brustton der Überzeugung, wandle auf Irrwegen, er
will, daß unsere Schwaben keine Ungarn mehr sein sollen, er will die
Zustände anno 1848 oder gar 1918 wieder heraufbeschwören, er, der
Herr Pfarrer, als »Stellvertreter Gottes« (!!) fühlt sich
verpflichtet, seine Gläubigen in der Kirche, vor dem Tabernakel vor dem
Volksbildungsverein zu warnen."
Man kann ein solches Verhalten des Ungarntums, des amtlichen wie des
nichtamtlichen, gegenüber der
deutsch-schwäbischen Bewegung wohl verstehen. Es rührt vor allen
Dingen daher, daß den Ungarn die Natur des Geschehnisses, das sich bei
den Schwaben vollzogen hat, das bei ihnen wie ein elementarer Durchbruch erlebt
wurde und immer noch weiter erlebt wird, gar nicht klar ist. Die ungarischen
Behörden und die ungarische Gesellschaft glauben unwillkürlich, es
handle sich um etwas wie eine künstlich von außen hereingetragene
Bewegung. Sie werden sich aber, auch wenn es ihnen zunächst schwer
fällt, damit abfinden müssen, daß hier die Auferweckung eines
fast schon eingeschlafenen Volksbewußtseins zu einem Leben geschehen
ist, für das es trotz aller dagegen gesetzten Hindernisse kein Zurück
mehr geben wird, sondern nur noch ein Vorwärts.
|