SucheScriptoriumBuchversandArchiv IndexSponsor

[396]
Deutschland, Deutschland über alles
Eugen Schmahl

Als es den Deutschen wieder zum Bewußtsein kam, daß sie eine Nation seien, stellte Ernst Moritz Arndt die Frage an sie: "Was ist des Deutschen Vaterland?" Die Antwort, die er gab, lautete aus der dichterischen in die Alltagssprache übersetzt: Nicht nur Bayernland, nicht nur Schwabenland, nicht nur das Land, in dem die Rebe blüht, oder durch das die Donau ihre Wellen wirft, nicht nur das Land der Marschen und der Masurischen Seen oder das der Heide, sondern alles dieses für sich und alles dieses zusammen. So haben wir denn auch im Liede bekennen gelernt: "Von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt - Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt..."

Das ist für uns heute eine so selbstverständliche Wirklichkeit, daß es niemandem mehr in den Sinn kommen würde, zu fragen, wie Ernst Moritz Arndt das noch tat. Denn wir leben in diesem Deutschland, das vor hundert Jahren noch ein Traum und eine Aufgabe war, und dieses Deutschland lebt in uns. Aber wir sind zugleich auch Schlesier und Thüringer, wir sind Schwaben und Pfälzer geblieben, und unsere Heimatliebe ist durch die Liebe zum großen einigen, deutschen Vaterlande nicht geringer geworden. Sie hat sich vielmehr vertieft und speist aus ihren Wurzeln unser gemeindeutsches Denken, Fühlen und Wollen. Eins findet sich im anderen wieder, wird erweitert und emporgehoben. Der Hamburger, der Hesse, der Märker und der Westfale vermögen ebenso wenig ohne Deutschland zu leben, wie Deutschland ohne sie. Die Staats- und Stammesgrenzen haben sich geöffnet, ohne aufgegeben zu sein, das Volksbewußtsein hat sich umfassend geweitet, ohne Ursprung und Eigenart verloren zu haben.

Nur in den ganz großen Städten mit hin- und herwandernder Bevölkerung bestand lange Zeit die Gefahr, daß durch das An- und Abschwemmen nicht seßhaft gewordener Massen, durch den ständigen Mischungs- und Kreuzungsvorgang, der sich unter ihnen abspielte, ein Zustand erzeugt wurde, dessen geflügeltes Wort einmal war: Wo es mir gut geht, da ist mein Vaterland. Aber alle die Städte, die wir mit Stolz deutsche Städte nennen und zu deren Art und Charakter, zu deren Landschaft und Landsmannschaft wir uns besonders hingezogen fühlen, haben eingeborenes Lebensgefühl bewahrt. Tradition und [397] Kunst, die uns Zeugnis von ihrer hohen Blütezeit geben, saugen immer wieder neue Kraft daraus. Wir suchen deshalb ebensogern die Dorfschenke auf, an deren anspruchslosen Tischen Bauerngesichter von ihren Geschlechterfolgen und von Wind und Wetter, die über sie hingegangen sind, erzählen, wie die Ratskeller alteingesessener Stadtbürgerschaft mit ihren Bräuchen und Emblemen. Wir nehmen aus dem Wald und seiner heimlichflüsternden Landschaftssprache ein ähnliches, deutsches Erlebnis mit, wie aus den Gewölben eines Domes, in dem die Ehrfurcht vor Gott und seiner Schöpferkraft umgeht.

Natur und Volksart klingen immer zusammen, sie formen einander und gehen dann ineinander über. Die Landschaft ist stets am Werk, den Menschen, der sich ihr anvertraut, in sich einzubeziehen, bis er ganz in sie verwachsen ist. Gelingt ihr das nicht, so stößt sie ihn wieder aus. Der Mensch schafft in der Landschaft und sie wirkt im Menschen. Aus diesem Zusammenspiel entsteht sogar eine eigene Sprache: Die Mundart, in der sich Artcharakter vom Volke her und Lebensgefühl von der Landschaft her ein Stell-dich-ein geben. In Liedern und Melodien schwingt sich der Gleichklang rhythmisch aus. Auf Sondertafeln der Geschichte, die niemals zufällig verläuft, sondern nach dem "Gesetz, nach dem sie angetreten", ist die ursprüngliche und unabänderliche Zusammengehörigkeit von Mensch und Landschaft aufgezeichnet.

Wir sind und bleiben dem Boden, auf dem wir stehen, und den Bedingungen seines Wachstums unterworfen. Der Boden Deutschlands aber ist vielgestaltig, zerrissen und durchschnitten, von wechselnden Formen, von gegensätzlicher Struktur. Zwischen der weiten, ostdeutschen Tiefebene und dem abgeschlossenen bayerischen Gebirgstal, zwischen dem kleinbäuerlichen, schwäbischen Idyll und der Industrielandschaft des Ruhrgebiets gibt es kaum Vergleichsmöglichkeiten. Sie sind ein Widerspiel. Aber sie sind hier und dort vom deutschen Leben erfüllt und deutsche Arbeit hallt in ihnen wider. Denn der Rhythmus des Blutes schlägt durch. Er weist allerdings verschiedene Stufungen auf. Handgriff und Tanzschritt, Gesichtsausdruck und Sprache, die den Gedanken formt, wissen davon zu erzählen. Deshalb verstehen sich auch Landsleute so gut, sie verstehen sich, wie man so sagt, auf den ersten Blick. Denn da ist ja jede Bewegung und jede Schwingung vertraut und bekannt. Es bleiben keine Fragen mehr offen, man versteht sich so. Das gibt wiederum, auf das ganze Deutschtum hin gesehen, einen Akkord von tief zu hoch, von weich zu herb. Und dieser Akkord tönt klar über dem deutschen Land.

Das deutsche Land ist die große Einheit, in die jeder deutsche Mensch einbezogen ist. Sie ist sein Schicksal und sein Beruf. Denn in dieser Einheit erfüllt sich sein Schicksal erst. Sie ist die Aufgabe, die uns allen gegeben ist, das Werk, in dem wir bleiben, und das die Generationen wie die Stämme zusammenfügt. Wir können nicht von ihr sprechen, ohne immer wieder an ihre Vielfalt zu denken, in der sie sich aufblättert, um ganz zu blühen. Wir lieben die Einheit gerade in ihrer Vielfältigkeit und sind stolz darauf, daß sie sich in soviel Wundern offenbart. Wer Deutschland kennenlernen will, der muß um seine Landschaften und Stämme wissen. Darum haben wir ja auch den Weg durch das deutsche Land vom Norden kommend über den Osten nach der Mitte, von da herüber zum Rhein und über die Mainbrücke zum Süden gemacht. Wir wollten den Dingen einmal auf den Grund sehen, wollten nicht nur im Eisenbahnabteil an Stationen, Feldern und Wäldern vorbeigefahren [398] werden, sondern überall mitten hineingestellt sein, damit die mancherlei Vorstellungen, die in den Köpfen unterwegs sind, einer Anschauung Platz machen, von der Wirklichkeit des Lebens in Geschichte und Gegenwart bestimmt. So sind wir durch die Marschen gewandert, sind nach Ostpreußen gekommen, haben in Schlesien die Romantik eines Josef von Eichendorff aufgesucht, in Elsaß-Lothringen haben wir dem bleibenden Takte deutschen Blutes nachgespürt, das deutsche Österreich hat sich uns erschlossen, nicht nur von Wien her und den süßen Geschichten, die darüber im Umlauf sind, wir waren unter den Deutschen in Banat und in Siebenbürgen. Aber auch die Schweiz ist deutsches Land. Von den bayerischen Bergen und den Tiroler Alpen führen die Wege direkt hinüber. Die Deutschen im Baltikum, als Ausläufer deutscher Ostkolonisation, wiesen uns in das weite russische Reich, das viele deutsche Bauern in geschlossenen Siedlungsgebieten bewahrte. Unter der afrikanischen Sonne in den alten deutschen Kolonien haben wir einen neuen deutschen Sondertyp angetroffen, und wir sind über das Meer getragen worden, um eine Vorstellung von dem neuen Lebensraum und der neuen Form des Lebens zu gewinnen, die unsere Landsleute in Süd- und Nordamerika gefunden haben. So haben wir die Deutschen überall aufgesucht und haben zugleich jedem, wo er sich nur befinden mag, von den anderen erzählt. Da aber nicht einer über alle sprechen kann, haben wir die deutschen Jungen im Chor sprechen lassen, in der Gewißheit, daß sich jede Stimme von selbst zum deutschen Liede fügt. So ruht jedes Wort im Erlebnis der Landschaft und hat seine Fülle aus dem Blut ihrer Bewohner. Jede Zeile ist Selbstzeugnis, Selbstcharakteristik und Selbstbekenntnis. Sie ist zugleich auch Niederschlag der eigenwilligen deutschen Individualität, die sich bis in die Stämme und Landschaften hinein und, wo sie nur hinkommen mag, die Sonderform ihres Daseins sucht. Das aber macht Deutschland erst reich und in seinem Reichtum besonders schön. Was in diesem Buche über Westfalen gesagt ist möge zum Schluß über alles deutsche Land und Volk gesetzt sein:

"Das Lächeln der Schöpfung hängt über dir.
Gestern, heute und noch -
Lächle du Schöpfungsakt! -
Und wie du auch lächelst, Deutschland bleibt dein freies Kind."

Faksimile der Niederschrift des Deutschlandliedes.
[399]      Faksimile der Niederschrift des Deutschlandliedes
von Hoffmann v. Fallersleben.

Seite zurückInhaltsübersichtnächste
Seite

Deutsches Land: Das Buch von Volk und Heimat
Unter Mitarbeit von Schriftstellern aller deutschen Stämme
herausgegeben von Dr. Eugen Schmahl.
Mit einem Geleitwort von Dr. Hans Steinacher,
Reichsführer des Volksbundes für das Deutschtum im Ausland,
und mit einem Geleitschreiben von Hans Grimm.