[124]
Westpreußen und die
Grenzmark
Paul Fechter
Ein Novembertag an der Weichsel. Im abendlichen Licht versinkt drüben
Marienwerder, dessen prachtvolle
Burg- und Domanlage mit dem phantastischen Griff des Danskers von der
Höhe in die Niederung herab fast noch deutlicher als die Marienburg
über der Nogat erkennen läßt, wie die große Zeit der
späten Gotik sich im Osten, nicht mehr im Westen abgespielt hat; fern unter
der Sonne dämmern im Dunst die Höhen jenseits des Stromes herauf,
der breit, majestätisch, ruhig und leer seine Bahn zieht.
Wir stehen auf dem Deich an dem berühmten deutschen "Zugang zur
Weichsel" bei Kurzebrack. Unten im neuen Hafen, der den Polen gehört,
obwohl er auf der deutschen Seite liegt, hat gerade der kleine Dampfer angelegt,
der ein- oder zweimal wöchentlich von Marienburg her die Fahrt
stromaufwärts macht. Pustend kommt die Kleinbahnlokomotive von
Marienwerder herangewackelt; sie darf jetzt über den
Vier-Meter-Streifen bis ans Wasser fahren, um dort die Güter, die das
Schiff gebracht hat, in Empfang zu nehmen und heraufzuschleppen. Wir
dürfen nicht auf den deutschen Zugang zur Weichsel; man darf ihn nur mit
einem Ausweis der Polen betreten. Der Pole, der auf der deutschen Seite am
Hafen rechts neben dem Wegeinschnitt haust, ist zwar gerade nicht da, ist unten
an der Landungsstelle, aber die Sache ist riskant, wenn man nicht viel Zeit zur
Verfügung hat. Man geht lieber ein Stück stromaufwärts den
Damm entlang, der hier für eine kurze Strecke unter deutscher Verwaltung
steht; dann kommt ein polnisches Stück, dann wieder ein deutsches, wieder
ein polnisches, zuletzt noch ein deutsches. Alles auf Grund von Versailler
Weisheit, die hier selbst den Polen schließlich zu dumm geworden ist.
Wir stehen auf dem Damm bei den herrlichen alten Bäumen über der
alten versumpften Hafenanlage aus der Friderizianischen Zeit. Der
mächtige Strom leuchtet im abendlichen Licht; nur ein dunklerer Schatten
liegt drüben spitz stromaufwärts über seiner Mitte. Man
versucht zu erkennen, was diesen Schatten bedingt. Der Begleiter lacht: "Eine
Sandbank. Der ganze Strom ist voll."
Er wendet den Kopf nach der anderen Seite, nach Norden zu, wo man fern im
grauen Nebeldunst die Türme von Mewe ahnt: "Passen Sie einmal
auf."
Ein Schiff kommt schattenhaft aus dem schon abendlich sinkenden Grau von
Norden her, ein polnischer Dampfer. Er fährt ungefähr in der Mitte
der Weichsel stromaufwärts. "Geben Sie
acht - jetzt wird er gleich nach der polnische Seite hinüber
abbiegen."
Ein paar Augenblicke später schlägt das Fahrzeug wirklich einen
Haken nach rechts bis fast ans Ufer heran.
"So - jetzt wird er eine Weile drüben entlangfahren."
Der Dampfer tuts.
[125] "Und nun kommt er auf unsere Seite
herüber - über die Stommitte
hinweg - sehen Sie?"
Der Dampfer gehorcht, nähert sich, als ob er aufkreuzt, schräg
aufwärts steuernd dem deutschen Ufer. "Und jetzt wird er wieder nach der
Fahrrinne in der Mitte zurückkehren."
Auch das trifft ein. Auf einen fragenden Blick zuckt der Mann die Achseln. "Alles
Sandbänke, Herr. Man muß heute sehr genau Bescheid wissen, wenn
man nicht alle Augenblicke festsitzen will. Der ganze Strom versandet, weil die
Polen nicht baggern."
Das ist Westpreußen - an seinem Strom, an seiner Weichsel.
Eine Stunde später kommen wir die Straße entlang, die von
Marienwerder südwestwärts zu der Stelle führt, an der einst
die mächtige Eisenbahnbrücke nach Münsterwalde
hinüberging. Von der Brücke ist nichts mehr zu sehen: die Polen
haben sie abgerissen, weil sie möglichst wenig Verbindungen über
den Strom hinüber und herüber bestehen lassen wollten.
Da der innere Damm und das Land zwischen dem äußeren und dem
inneren Damm hin wieder polnisch ist, besteht ohne Visum keine
Möglichkeit, bis an die Weichsel heranzukommen. An der Grenzlinie
hört die Straße auf; sie verliert ihren Sinn; einen Kilometer weiter
hört sie überhaupt auf, endet am Ufer in der leeren Luft. Neben ihr
liegen auf dem hohen Bahndamm die verrosteten Eisenbahnschienen der
Bahnstrecke, die einst über die Münsterwalder Brücke
hinüber nach Westen führte, und den Mittelgegenden des deutschen
Ostens, insonderheit der Stadt Marienwerder und ihrem Hinterland eine zwei
Stunden schnellere Verbindung mit Berlin gewährte. Da wo sich heute die
Grenze hinzieht, geht über die Eisenbahnschienen ein Querdamm, ein
Balken, in halber Mannshöhe; hier ist die Welt zu Ende, und nicht weit
dahinter sind es die Schienen auch: sie sind aufgerissen, der leere Bahndamm
zieht sich sinnlos noch bis zu der leeren Weichsel hin.
[126] Auf der andern Seite der Straße liegen
verlassen zwei Grenzbuden, die deutsche und die polnische. Sie sind unbewohnt,
die Fenster vernagelt; in dem Kalkbewurf sieht man noch die Kugelspuren von
der letzten freundnachbarlichen Begegnung zwischen Polen und Deutschen.
Das ist Westpreußen - zwei Beispiele für unzählige. So wie
hier am Strom in Jahrhunderten gewordene natürliche Verbindungen
abgehackt, unterbrochen, unterbunden und zerstört wurden, so sind
längs der Grenzen auf beiden Seiten des Korridors unzählige
Bahnen, Straßen,
Chausseen, Landwege ihres Sinns beraubt; die
natürliche Bewegung des Lebens im Raum wurde abgerissen, dem
westöstlichen Strom der Volksbewegung, die hier die natürlich ist,
hart und feindselig vernichtend und künstlich die südnördliche
entgegengestellt, ohne daß das natürliche Rückgrat einer
solchen Bewegung, der Strom, die Weichsel in diese politische Richtung
hineinbezogen, als natürlicher Orientierungsfaktor benutzt wurde. Man hat
aus Westpreußen mit dem Korridor das Herzstück herausgeschnitten
und hat zugleich doch das organische Rückgrat des Gebiets, das man uns
nahm, den Strom im Weichselland, fast möchte man sagen eingehen lassen.
Die Weichsel, zu deutschen Zeiten der natürliche, sinnvolle
Verbindungsweg aus dem damals russischen Polen durch das deutsche Gebiet zur
Ostsee, das natürliche Transportmittel für Holz und alle
möglichen Waren, ist heute nicht nur tot in bezug auf den Verkehr; sie
stirbt auch, weil nichts für sie getan wird, als Strom. Sie versandet, weil
keine Fahrrinne wie zu deutscher Zeit durch Baggern frei erhalten wird. Sie kehrt,
weil Polen an dem Strom, der bei Danzig mündet, gar kein Interesse hat,
sondern seinen staatlichen Wirtschaftswillen auf die südnördliche
Bahnlinie nach Gdingen konzentriert, in den Urzustand zurück. In den
Deichverhältnissen des Grenzgebiets hat die harte Lebensnotwendigkeit
über den politischen Irrsinn gesiegt: da hat sich, um eine einheitliche
Erhaltung der für beide Völker lebensnotwendigen Dämme zu
sichern, ein deutsch-polnischer Deichverband gebildet, der versucht, eine
vernünftige Pflege der Deiche durchzuführen. Der Strom selber, an
dem die Deutschen keinen Anteil haben, verkommt.
Das Schicksal Westpreußens ist im Grunde viel härter gewesen als
das Ostpreußens. Das Diktat von Versailles riß sein Kernstück,
das Weichselland, heraus und gab es an Polen, trennte Danzig und das Werder ab
und ließ nur kümmerliche Reste der Provinz übrig. Das Reich
hat die beiden Reststreifen Westpreußens in entgegengesetzte Richtungen
orientiert, hat den Strich östlich der Weichsel zu Ostpreußen
geschlagen, also daß seine Bewohner mehr oder weniger gezwungen sind,
nach Königsberg als dem neuen Zentralpunkt des Landes zu blicken, und
hat den westlichen Rest, die Grenzmark, nach dem Reich hin, nach Westen
eingeordnet. Man wollte die Überreste zu größeren
Verwaltungsverbänden
hinzuschlagen - obwohl es vielleicht viel sinnvoller und zukunftshaltiger
gewesen wäre, die Landstreifen zu beiden Seiten des Korridor
selbständig zu erhalten, unter dem Namen Westpreußen, unter einer
gemeinsamen Verwaltung und so über den Korridor hinweg eine
unsichtbare, aber fühlbare Brücke zu schlagen. Man konnte dadurch
die Vorstellung Westpreußen nicht nur in sich selbst, sondern auch im
Reich viel lebendiger erhalten und konnte zugleich den leeren Raum unter dieser
Brücke den Nachgeborenen als ständige [127] Aufgabe vor Augen halten. Heute ist es so,
daß der Begriff Westpreußen im Bewußtsein der
Jüngeren bereits im Versinken ist, während die Bezeichnung
Grenzmark in dem Menschen im Reich die gefährliche Vorstellung erzeugt,
daß die heutige vom Reich aus gesehen diesseitige Grenze gegen Polen die
eigentliche ist.
[127]
Im polnischen Korridor.
Strohhütte der polnischen Grenzwache bei Kurzebrack an der Weichsel.
|
Westpreußen hätte es durchaus verdient, in der Vorstellung der
Menschen im Reich als ein Ganzes weiterzuleben, und nicht nur, wie es heute der
Fall ist, mit seinem Leben und seiner Schönheit zu einem fast
sekundären Anhängsel Ostpreußens gemacht zu sein. Die
Unterschiede der Geschichte und die Verschiedenheiten des Bodens, des Blutes,
der Sitten hat im deutschen Osten die gleiche Differenzierung der Menschen und
ihrer Lebensformen geschaffen wie im Westen, im Süden des Reichs. Es
hatte seinen guten Sinn, daß das Land rechts und links der Weichsel
Westpreußen hieß; ein gut Stück der preußischen
Geschichte lebte in dieser Bezeichnung mit. Die Menschen, die das Land
zwischen der Passarge und den Grenzen Pommerns bewohnten, waren und sind
östliche Menschen, aber zum Teil von sehr andrer Art als die eigentlichen
Ostpreußen: man braucht nur einmal die Jugenderinnerungen des
Westpreußen Halbe neben denen des Ostpreußen Ludwig Passarge zu
lesen. Die Schönheit des westpreußischen Landes ist sehr verschieden
von der des eigentlichen Ostens, und sein Lebensraum, wie man heute wohl sagt,
hatte durch See [128] und Weichsel eine
erheblich andere Orientierung als der des Ordensstaates Ostpreußen, der
heute dem ganzen Bereich jenseits des Korridors den Namen gegeben hat. Es ist
sehr merkwürdig, wie verschieden schon der Charakter der Landschaft im
Westpreußischen gegenüber dem der ostpreußischen Gebiete
ist. Ostpreußen, das ist die Steilküste des Samlandes und das kurische
Haff mit dem toten Wunder seiner riesigen Dünen. Das ist Masuren mit
seinen dunklen Wäldern und den weiten, einsamen Seen: das ist das noch
unentdeckte Wunder der Niederung, des Landes der Litauischen Geschichten
zwischen Ruß und Gilge - das ist die Rominter Heide und das
Instertal. Westpreußen aber ist ganz etwas anderes. Westpreußen ist
die viel südlichere Schönheit des Frischen Haffs mit dem Hohen
Land von Elbing, den bewaldeten Höhen über Cadinen und dem
Thüringen-Idyll der Rehberge. Es ist das Land der Oberländischen
Seen zwischen Eylau und Allenstein, die ganz anders sind als die masurischen,
ebenso unberührt, ebenso einsam, aber von einem helleren höheren
Zauber überleuchtet. Westpreußen ist die Danziger Bucht mit dem
südlichen Reiz ihrer waldigen Hügelwelt und ihrer silbernen
Freundlichkeit; es ist das Werder mit seiner holländischen Weite und
Fruchtbarkeit, durch das majestätisch und ruhig im Gefühl des trotz
allem nicht Gebändigtseins die schon fast russische Breite der Weichsel
dahinzieht.
[129]
Danzig. Blick auf die Frauenkirche.
|
Westpreußen ist Marienburg, diese höchste Leistung der
späten Gotik, mit der im Reich kaum ein zweites Schloß wetteifern
kann: es ist das weite Land um die Weichsel zwischen Thorn und der Montauer
Spitze, diese ungeheure Melancholie des Stroms zwischen Osten und Westen, auf
den hin das Land seit uralten Zeiten, als hier die Goten noch hausten, orientiert
war. Ostpreußen - das ist Härte und Herbheit und ein Rest von
dem Willen zum Vorstoßen ins Unbekannte, den einst der Orden
mitgebracht hat. Westpreußen - das ist Reichtum und Blick
über die See, Handel und Handwerk in viel
höhe- [129] rem Maße als
drüben. Man braucht nur einmal Königsberg und Danzig miteinander
zu vergleichen, so hat man den ganzen Wesensunterschied der beiden
östlichen Bezirke. Königsberg ist heute noch Vorort des Reichs mit
der Front nach Nordosten, eine preußische Stadt der Verwaltung und der
Landwirtschaft, eine Burg und eine Festung. Danzig, vielleicht die schönste
unter den deutschen Städten überhaupt, ist die alte Stadt des
monumentalen Bürger- und Handelsgeistes, der reichen Kaufherren und
Geschlechter, kriegerisch, aber aus sich selbst ein Ding für sich, viel mehr
der Welt verbunden durch ihren Handel als dem Lande, das sich hinter ihren
Mauern weitete. Eine Anlage wie der Lange Markt, wie die reichen Gassen um
das Wunder der ragenden Frauenkirche hat es in Königsberg nie gegeben;
diesen Reichtum besaß nur Westpreußen.
Infolgedessen hat der westliche Teil der beiden preußischen Provinzen auch
viel mehr gelitten als der östliche. Westpreußen war nicht nur
Landwirtschaft, Bauernland und was dazu
gehörte - so herrlich und so reich die Welt seiner Güter, seiner
Bauernhöfe auch war und ist. Es war Industrie, war Handel, nicht nur im
Ostseebereich. Danzig war die Zentrale des russischen Holzhandels bis England
hinauf, der heute bis auf klägliche Reste zerschlagen ist, zum Teil von den
Russen selber. Elbing, das war neben Danzig Zentrum des östlichen
Schiffbaues, besaß in der Schichauwerft eine der stärksten
Stätten der Marinebautätigkeit, über die das Reich
verfügte.
[130]
Die stillgelegte Schichau-Werft bei Danzig
mit dem berühmten 250-t-Kran "Der krumme Gottlieb".
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Heute wächst da, wo Hunderte von Torpedobooten gebaut
wurden, wo die großen Öldampfer entstanden und unzähliges
andere, mannshoch Gras und Unkraut; die Riesenkräne rosten und stehen
leer. Die Fensterscheiben der weiten Hallen, die den ganzen Stadtteil am
Fluß entlang bis hinauf an den alten Friedhof der Leichnamskirche
aufgefressen haben, fallen von Tag zu Tag mehr den Steinwürfen der
Jungens zum Opfer. Das ganze Riesenwerk einschließlich der
Lokomotivwerkstätten in Trettinkenhof ist zerfallen und dem Untergang
geweiht. Es fertigt Schulbänke und dergleichen, soweit es überhaupt
noch etwas fertigt. Auf dem Marktplatz aber stehen in dichten Gruppen die
Arbeitslosen; denn die andern Fabriken in der Stadt, Komnick,
Neufeld - wie sie alle hießen - sind in gleicher Weise
zusammengebrochen. Das Diktat von Versailles hat sein Werk getan, so sichtbar
und bösartig, wie man es anderswo selten erleben kann.
[131]
Posen. Jesuitenkirche (17. Jahrhundert).
|
Man begegnet seinen Spuren hier überall im Lande. Gewiß, die
Städte haben auch in [130] Westpreußen da
und dort neue Schulen gebaut und neue Krankenhäuser; Marienburg; das
durch den Irrsinn des Friedensdiktats Grenzstadt gegen Danzig geworden ist, also
daß ein Teil seiner eigenen Einwohner drüben in der Vorstadt Kalthof
jenseits der Nogat, wenn er unter den Lauben etwas einkaufen will, ja nicht seinen
Paß vergessen darf, um die Schiffbrücke unter dem Schloß
passieren zu können - Marienburg unter seinem rührigen
Bürgermeister hat sich ein neues Rathaus geschaffen und durch den
verstärkten Verkehr innerhalb des östlichen Randgebiets, durch die
visumfreie Autobuslinie nach Danzig und die Weichselbahn, die jetzt aus dem
Süden alles herüberbringt, was ins Reich will, eine Menge neues
Leben bekommen. Elbing versucht, sich zum Hafen des gesamten
westpreußischen Hinterlandes bis nach Osterode hinauf zu machen mit
Hilfe des oberländischen Kanals, der heute die wichtigste
südnördliche Verkehrsader im westlichen Teil Ostpreußens
geworden ist. Aber das sind alles Versuche, noch das Bestmögliche aus
Zuständen zu machen, die eigentlich widernatürlich sind. Der
östliche Restteil Westpreußens vom Oberland bis zum Frischen Haff
ist seiner Natur nach durchaus nicht in der Richtung nach Norden orientiert; sein
natürliches Auswirkungsgebiet geht nach
Westen - und ist ihm heute durch den Korridor versperrt oder genommen.
Das war ja die Absicht von Versailles, die Insel Ostpreußen durch die neue
Grenzziehung dem Reich gegenüber so zu isolieren eben durch das
ausfallende Korridor-Zwischenstück, daß keine Tarifpolitik der
Eisenbahn, keine noch so überlegten neuen Verbindungen einen wirklich
funktionierenden und natürlichen Ersatz an Absatzgebieten und
Lebenswegen schaffen konnte. Wenn die Erzeugnisse des östlichen
Restbestandes von Westpreußen heute nordwärts über Elbing
ihren Weg suchen, so stoßen sie eigentlich schon ins Leere, während
sie früher unmittelbar im angrenzenden Gebiet, in den Teilen der eigenen
Provinz, die heute herausgeschnitten sind, Absatz und Verwendung fanden. Das
Gleiche gilt von dem westlichen Restbestand Westpreußens, dem heutigen
Bezirk der Grenzmark. Es hat das gleiche schwere Schicksal erlitten; seine
natürlichen Verkehrswege nach Osten sind genau in der gleichen sinnlosen
Weise abgerissen, zerstört, unterbrochen; das Leben stößt dort
nach Osten hin in seine natürlichen Richtung ins Leere und auf
Grenzmauern, an denen es hilflos, wie die neuen Chausseen und Eisenbahnen
deutlich zeigen, nach Norden und Süden abgleitet, neue Wege sucht, die
doch keinen Sinn haben [131] können.
Drängt es aber nach Westen, so stößt es auf Bereiche, die aus
sich selber leben, selbst geben möchten. Liest man die Geschichte der
Grenzmark Posen-Westpreußen während der Nachkriegsjahre, so
erlebt man eines der traurigsten Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte, einen
Verfall, der noch über den der östlichen Landesteile hinausgeht. Dort
hat sich der ganze deutsche Bereich trotz mancher inneren Kämpfe etwa
gegen die Vorherrschaft Königsberg, zu einer Einheit
zusammengeschlossen, die gemeinsam kämpft und gemeinsam wirbt; die
Grenzmark aber steht für sich, wird vom Reich aus noch gar nicht als Osten
empfunden und hat auch nicht wie die westpreußischen Reste jenseits der
Weichsel ein Anlehnungsgebiet, weil Pommern, die Mark selber, unter den neuen
Verhältnissen leidend, nicht in gleicher Weise die Randbezirke zu sich
hinzunehmen konnten, wie es Ostpreußen mit dem Rest des Weichsellandes
tat.
Da, wo das rechte hohe Weichselufer, auf dessen Höhe Marienwerder
thront, gegenüber der Montauer Spitze auf die Nogat stößt,
westlich von Stuhm, ragt auf dem hohen Land das
Westpreußenkreuz - an der sogenannten Dreiländerecke, die
der überlegte Irrsinn von Versailles hier mitten im deutschen Bereich
geschaffen hat. Das Land östlich von Nogat und Weichsel ist deutsch; die
Spitze des Werders zwischen Nogat und Weichsel ist Freistaat
Danzig - und drüben liegt Polen. Das Kreuz, das im deutschen Osten
heute schon ein allgemein bekanntes Symbol der Landesnot geworden ist, ragt fast
im Mittelpunkt des einstigen nördlichen Westpreußen auf. Das
Gefühl, aus dem es an dieser Stelle entstand, ist vollkommen richtig;
[132] es ist, als ob dieses
Kreuz Brennpunkt und Sinnbild dessen geworden ist, was dieses alte deutsche
Land seit fünfzehn Jahren erduldet hat und zugleich, was aus der heutigen
Situation ihm und damit den Menschen im ganzen Reich an Aufgaben
erwächst, was die Zukunft an Lösungen für dieses
gequälte und zerrissene Kernstück des deutschen Ostens und damit
des Gesamtreichs wird bringen müssen. Das Kreuz steht hochragend, hell
und einsam über der wunderbaren großen Landschaft des Stromtals,
über der Gegend, die heute ebenso wie Oberschlesien Land unter dem
Kreuz geworden ist. Weiter im Norden ragt der Wunderbau der Marienburg auf,
Dokument einer siebenhundertjährigen Geschichte, die an eine noch viel
ältere deutsche Zeit dieser Gegend wieder anknüpfte. Das einsame
Kreuz auf dem Weichselufer bei Stuhm aber weist nicht in die Vergangenheit,
sondern in die Zukunft - in eine Zukunft, der es einmal gelingen muß,
dieses Kreuz, dankbar für die Mahnung, die es stumm in die Welt rief,
wieder abzutragen, weil eine glücklichere Zeit ihm seinen tragischen Sinn
genommen hat.
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