II. 3. Polnische Verdrängungstendenzen a) Allgemeines Wenn man alle Maßnahmen, die der polnische Staat bzw. die polnischen Behörden der deutschen Volksgruppe gegenüber angewandt haben, zusammenstellt, sie überprüft und analysiert, dann erkennt man, daß sie in zwei Gruppen zusammenzufassen und einzuordnen sind. Die einen sollten dazu dienen, die Deutschen aus dem polnischen "Nationalstaat" zu verdrängen, die anderen die nicht zu verdrängenden Deutschen zu assimilieren, im polnischen Volkstum aufgehen zu lassen. Die polnische Minderheitenpolitik war unverkennbar von diesen zwei Zielen beseelt. Als der einfachste Weg zur Umwandlung ihres Nationalitätenstaat in einen Nationalstaat erschien der, die Minderheiten soweit wie möglich zu verdrängen. Dieses Ziel ist oft genug von maßgeblicher Seite ausgesprochen worden, so z. B. im Sommer 1923 von dem Ministerpräsidenten der nationalen Koalition, General Sikorski, der sich offen über die notwendige Entdeutschung des Landes ausließ, so Ende 1929 von Pilsudskis damaligen Außenminister August Zaleski, der nach [103] Abschluss des deutsch-polnischen Liquidationsabkommens mit Genugtuung darauf hinwies, daß trotz des einen polnischen Verzichtes noch vier Wege zur Entfernung der Deutschen aus Polen übrig geblieben wären.23 Und noch am 19. 2. 1938 stellte ein Sprecher des im Zeichen von Marschall Rydz-Smigly organisierten Regierungslagers - OZN -, Oberst Miedzinski, stellvertretender Sejmmarschall und Hauptschriftleiter der Gazeta Polska, im Diskussionsklub des Sejm öffentlich die weiter unten noch von uns behandelte Forderung auf, daß das deutsche Element zu der Bedeutung und zahlenmäßigen Stärke zurückgeführt werden müsse, welche es vor den Teilungen Polens gehabt habe.24 Die Ausrichtung war also dieselbe geblieben. Um die Deutschen verdrängen zu können, entzog man ihnen in den ersten Jahren des polnischen Staates mit Vorliebe die Rechtsgrundlage ihrer Existenz in Polen, indem man ihnen die polnische Staatsangehörigkeit nicht zuerkannte - trotz des Vorlegens der rechtlichen Voraussetzungen -, sie dann gegen ihren Willen als "Optanten" behandelte und als Reichsdeutsche abschob. Dieser Prozess, der 1926 für Posen-Westpreußen im wesentlichen als eine die Massen betreffende Erscheinung abgeschlossen war, hat dessen ungeachtet nie ganz aufgehört. In Oberschlesien lebte er nach dem Ablauf der Genfer Konvention (15. 7. 1937), in einigen weiteren Grenzgebieten nach Verschärfung des Grenzzonengesetzes wieder auf. Als Hauptmittel der Veränderung wurde jedoch in der gesamten Zeit und somit auch in der Berichtszeit der Entzug der Lebensgrundlage oder deren Einschränkung bzw. Einengung angewandt. Wenn die Deutschen kein Brot mehr in Polen fanden, dann waren sie gezwungen abzuwandern, sei es ins Mutterland oder nach Übersee, so folgerte ganz richtig die polnische öffentliche Meinung. Daher müsste man sich Mühe geben, den Deutschen ihr Brot zu nehmen, das übrige würde sich schon [104] finden. Und es wurde ihnen auch genommen, wo sich nur entsprechende Möglichkeiten boten. Eingedenk aber der den Minderheiten sowohl durch die internationalen Verträge als auch in der Staatsverfassung zugesicherten "Gleichberechtigung" wurden die Deutschen durch keine gesetzliche Bestimmung in ihren wirtschaftlichen Betätigungsmöglichkeiten eingeschränkt. Die polnischen Behörden wandten vielmehr eine andere Methode an, die der Lodzer polnischen Wirtschaftsjournalist Pawel Zielina, Geschäftsführer des Verbandes der Textilindustrie in Polen, Anfang 1937 wie folgt charakterisiert: "Den demoliberalen Grundsätzen der Gleichheit huldigend, hatte unser Staat nicht den Mut, Beschränkungen der wirtschaftlichen Freiheit ausschließlich fremden Elementen aufzuerlegen. Man führte daher Beschränkungen für alle ein, machte sie aber elastisch, um den Verwaltungsorganen die Möglichkeit zu geben, sie dort mit aller Schärfe anzuwenden, wo es im Interesse der Allgemeinheit erforderlich war, und Vergünstigungen und Erleichterungen dort zu gewähren, wo sich diese Schärfe erübrigte".25 Nach Auffassung weitaus der meisten polnischen Behörden erheischte aber das Interesse der Allgemeinheit eine Verdrängung oder zumindest Ausschaltung der Deutschen. Daher konnten Deutsche in den dreißiger Jahren überall dort, wo staatliche oder kommunale Konsense zur Ausübung eines Berufes erforderlich waren, in keinem Fall mehr mit der Zuteilung eines solchen rechnen. Früher erteilte Genehmigungen wurden bei jeder sich bietenden Gelegenheit rückgängig gemacht. Als z. B. die Zahl der Kassenärzte Westpreußens um 15% verringert werden sollte, wurden zum 1. 11. 1933 von den 35 deutschen Kassenärzten (bei 325 polnischen) 14 abgebaut, d. i. 40%.26 In Königshütte wurde im Januar 1938 den letzten zwei deutschen Ärzten die Kassenpraxis [105] gekündigt, obwohl zu gleicher Zeit neue Verträge mit polnischen Ärzten abgeschlossen wurden.27 Kassenverträge mit deutschen Apotheken wurden gekündigt. Um die deutschen Gastwirte zu treffen, war schon am 23. 4. 1920 ein Antialkoholgesetz erlassen worden, das die Zahl der Gaststätten einschränken sollte. In dessen Zeichen wurden in Posen-Westpreußen von 1925 bis 1933 über 450 deutschen Gastwirten die Konzessionen zum Alkoholausschank entzogen und nicht nur deren Existenz ruiniert, sondern auch der deutschen Bevölkerung die deutschen Lokale als Sammel- und Treffpunkte genommen. Dafür aber wurden 300 Neukonzessionen an Polen erteilt. Diese Angelegenheit beschäftigte noch in der Berichtszeit den Völkerbundrat, der die entsprechenden Eingaben des Abgeordneten Graebe vom 28. 7. 1930 geprüft hatte und am 17. 1. 1935 "die Erwartung aussprach, daß die durch Maßnahmen örtlicher Verwaltungsorgane herbeigeführte Benachteiligung der deutschen Bevölkerung in Zukunft vermieden werden wird". Diese Polen gegenüber geäußerte Erwartung des Völkerbundes dürfte diesmal sogar eingetroffen sein. Abgesehen vom Sommer 1939 wurde deutschen Gastwirten die Konzession nicht mehr entzogen - da es deutsche Gastwirte mit Alkoholkonzession in Westpolen in nennenswerter Zahl nicht mehr gab. Dafür konnte Senator Wiesner in einer Anfang September 1938 dem Ministerpräsidenten überreichten Denkschrift 236 Fälle nachweisen, in denen den Deutschen systematisch die Konzession für den Verkauf von Monopolartikeln (Tabak, Spirituosen, Streichhölzer) entzogen worden war, wodurch diese Familien ihre Lebensgrundlage verloren hatten.28 In der Berichtszeit in den Staatsdienst zu kommen, war, wie es der Abgeordnete von Saenger am 6. 2. 1935 im Sejm ausführte, für einen Deutschen unmöglich,29 wurden doch alle von früher her im Staatsdienst beschäftigten Deutschen im Laufe der Zeit hinausgedrängt oder zur Verleugnung ihres [106] Volkstums gezwungen. So wurden Deutsche, die man als Fachkräfte nicht missen wollte, zwar gehalten, aber sie durften keinen deutschen Vereinen angehören, ihre Kinder nicht in deutsche Schulen schicken, zu Hause nicht laut deutsch sprechen oder gar deutsche Lieder singen. Wie mit den deutschen Lehrern im Staatsdienst umgegangen wurde, wird in dem nächsten Kapitel dargelegt werden. Daß "für Deutsche kein Platz im polnischen staatlichen Gerichtswesen" sei, hatte der Präsident des Appellationsgerichtes Posen einem deutschen Gerichtsreferendar unverblümt erklärt.30 Die von dem Direktor der Minderheitenabteilung im Völkerbund, dem Norweger Colban, an Senator Hasbach im Herbst 1928 gerichtete, naiv anmutende, aber ernst gemeinte Frage: "Wie viele Starosten, wie viele Richter und Notare stellt die deutsche Bevölkerung?"31 zeugte schon damals von der großen Diskrepanz zwischen den Auffassungen in Westeuropa und der polnischen Wirklichkeit. Die deutschen Eisenbahn-, Post- und Telegraphenangestellten in Bromberg, die die ersten Säuberungen in den zwanziger Jahren überstanden hatten, wurden 1933 nach z. T. 27 Dienstjahren entlassen, nachdem sich die Polizei vorher in der Nachbarschaft nach Umgangssprache, Schulbesuch der Kinder, Zeitungsbezug und dergl. erkundigt hatte. Die Pension wurde ihnen unter irgendwelchen Vorwänden gekürzt oder überhaupt nicht gewährt. Auch andere Berufsgruppen spürten den polnischen Druck. Daß deutsche Kaufleute und Handwerker bei Vergebung öffentlicher Aufträge grundsätzlich unberücksichtigt blieben, hatte sich schon seit den zwanziger Jahren eingebürgert. In der Berichtszeit wurde darüber hinaus bei jeder Gelegenheit ein scharfer Boykott sämtlicher deutscher Handels- und Gewerbeunternehmen von dem Westverband und verwandten Organisationen verhängt. Die Boykottpropaganda wurde ganz offen ohne Tarnung oder Bemäntelung entwickelt. Als Grund wurde die "deutsche [107] Wirtschaftsexpansion" angegeben und daraus die Notwendigkeit der Schwächung des Deutschtums und der Stärkung des Polentums gefolgert. Vielfach wurde auch der durch den polnischen Druck und durch die Aufrüttelung der Volksgruppe hervorgerufene Zusammenhalt, der die Deutschen erkennen ließ, daß sie aufeinander angewiesen waren, und der sie sich gegenseitig fördern und unterstützen hieß, also die Notwehr, so hingestellt, als boykottiere die deutsche Volksgruppe die polnischen Unternehmer und Arbeiter, so daß die Polen zu Gegenmaßnahmen schreiten müssten. Dabei hatten die deutschen Parlamentarier schon in einer im Frühjahr 1934 - also zu Beginn der Neuorganisierung des Deutschtums - eingereichten Sammeleingabe an die polnische Regierung feststellen müssen: "Die Boykottbewegung währt schon über 1¼ Jahre in ungebrochener Schärfe. Den Staatsbeamten und staatlichen Arbeitern ist es geradezu verboten, in deutschen Betrieben zu kaufen".32 Staatliche Kredite wurden Deutschen überhaupt nicht, steuerliche Erleichterungen so gut wie gar nicht gewährt. Daß aber bei der Steuerbemessung die Deutschen "bevorzugt" wurden, daß ein sogen. "Minderheitenzuschlag", der zwar in keiner Vorschrift enthalten war, aber noch überall von den deutschen Unternehmern und Besitzern zusätzlich erhoben wurde, das ist vielfach von deutscher Seite, so u. a. von Senator Hasbach und von dem Abgeordneten von Saenger, von der parlamentarischen Bühne aus erklärt worden.33 Wie sehr man ausländische Besitzer in Polen gelegener Betriebe durch eine rücksichtslose Anwendung der Steuergesetze zwang, die deutschen Angestellten und sogar deutsche Arbeiter zu entlassen, oder wie man besonders reichs- oder volksdeutsche Inhaber dadurch reif machte für die Abtretung ihrer Betriebe oder der maßgebenden Beteiligung an polnische staatliche oder national gemischte Gesellschaften, das wird anhand [108] einiger markanter Beispiele aus Ostoberschlesien noch dargelegt werden. Diese Maßnahmen beschränkten sich aber nicht nur auf das ehemals preußische Teilgebiet, sie machten sich auch im ehemals russischen Gebiet, so im Lodzer und im Bialystoker Industriegebiet bemerkbar. Bei manchen in französischen oder amerikanischen Händen befindlichen Industriekonzernen war übrigens die Anwendung eines Druckes gar nicht nötig, da sich diese z. T. schon von selbst darum bemühten, durch Entlassung deutscher Beamter und Angestellter sowie durch verstärkte Einstellung polnischen leitenden Personals die Gunst der Behörde zu erringen.
Ein Kapitel für sich war die Erlangung von
Auslandsreisepässen. Wer ins Ausland reisen wollte, sei es aus
geschäftlichen Gründen, sei es zu
Studien- oder zu Heilzwecken, der musste jedesmal einen dornenvollen,
langwierigen, kostspieligen und oft vergeblichen Instanzenweg zur Erlangung
einer Ausreisegenehmigung beschreiten. Ein Auslandsreisepass kostete in den
zwanziger Jahren 500, zu Beginn der Berichtszeit 400 Zloty, also ungefähr
zwei Monatsgehälter eines Volksschullehrers, eine für den
Durchschnittsbürger unerschwingliche Summe. Da der Kontakt der
Volksdeutschen mit deutschen Ländern bzw. mit dem deutschsprachigen
Ausland überhaupt nicht gern gesehen wurde, wurden diese an sich schon
komplizierten Passbestimmungen von den polnischen
Verwaltungsbehörden Deutschen gegenüber ganz besonders scharf
ausgelegt. Ihnen wurden Ermäßigungen der Passgebühren
kaum gewährt und oft auch bei Bereitschaft zur Erlegung der vollen
Gebühr die Ausstellung bzw. die Erneuerung des Reisepasses nach
monatelangen Bemühungen verweigert, was u. a. am 19. 12. 1938 dem
leitenden Mann des Deutschen Volksbundes in Ostoberschlesien, dem
ehemaligen Abgeordneten Dr. h.c. Otto Ulitz widerfuhr.34 Demgegenüber waren
Auswandererpässe nach Deutschland ohne weiters zu haben und kosteten
nur 1 Zloty.
23Perdelwitz, Richard: "20 Jahre polnische Minderheitenpolitik gegen die Deutschen." S. 28, in: Grenzmärkische Heimatblätter. XVI. Jg. S. 24-56; Schneidemühl 1940. ...zurück... 24Nation und Staat. Jg. X, S. 395 u. S. 416f; Wien 1937. ...zurück... 25Zitiert nach Heike, Otto: Das Deutschtum in Polen 1919-1939. S. 96; abgeschl. Bonn 1953. ...zurück... 26Eingabensammlung der deutschen Volksgruppe in Westpolen. 1936, S. 11. Hrsg. von der Deutschen Vereinigung; Bromberg 1936. ...zurück... 27Nation und Staat. Jg. X, S. 331; Wien 1937. ...zurück... 28Osteuropa. Jg. XIV S. 45f; Königsberg 1939. ...zurück... 29Nation und Staat. Jg. VIII, S. 394; Wien 1935. ...zurück... 30Eingabensammlung der deutschen Volksgruppe in Westpolen. 1936, S. 15. Hrsg. von der Deutschen Vereinigung; Bromberg 1936. ...zurück... 31Heidelck, Friedrich: Der Kampf um den deutschen Volksboden im Weichsel- und Wartheland von 1919 bis 1939. S. 254; abgeschl. Breslau 1943. ...zurück... 32Eingabensammlung der deutschen Volksgruppe in Westpolen. 1936, S. 10. Hrsg. von der Deutschen Vereinigung; Bromberg 1936. ...zurück... 33Nation und Staat. Jg. VIII, S. 394; Wien 1935. ...zurück...
34Nation und Staat. Jg. XII,
S. 339; Wien 1939. ...zurück...
|