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Vorwort.

Es war ursprünglich meine Absicht, bloß die deutsch-tschechischen Hochschulfragen in einem kleinen Artikel zu behandeln. Aber bald erkannte ich, daß eine historisch-politische Einführung für die richtige Beurteilung des kulturellen Streites unerläßlich sei. Eine solche, das Wichtigste zusammenfassende Schrift besitzen wir noch nicht, dafür jedoch eine Menge mehr oder minder belangreicher, in der Regel auf einen bestimmten Zeitabschnitt, eine Einzelfrage beschränkter Hilfsbücher. Aus diesen zu schöpfen und das gewonnene Material möglichst übersichtlich zu sichten, war ich ernstlich bestrebt. Neues statistisches Material bietet mein letztes Kapitel: Zur Hochschulfrage.

In meiner Vaterstadt Brünn, dann in Prag aufgewachsen und ausgebildet, hatte ich später als k. k. Bibliotheksbeamter in beiden Landessprachen Böhmens zu amtieren. Jetzt seit einigen Jahren in der Schweiz in einem gemischtsprachigen Kanton an der deutschen Sprachgrenze tätig, bin ich wohl in der Lage, mich einer gewissen Objektivität gegenüber den böhmischen Verhältnissen, die ich nie aus den Augen verlor, rühmen zu dürfen. Die Tschechen mögen von der deutschen Mehrheit in der Eidgenossenschaft lernen, wie man eine nationale Minderheit behandelt.

Aufrichtigen Dank schulde ich dem zeitigen Prorektor der Prager deutschen Universität Professor Dr. August Sauer, sowie meinen hiesigen Kollegen Dr. Anton Piccardt und Dr. Richard Zehntbauer für mannigfache Winke. Der letztgenannte bereitet unter anderen Voraussetzungen eine Schrift vor, die den Verfassungswandlungen Österreichs seit 1848 nachgeht und sich an die Juristen wendet, während ich weitere Kreise vor Augen habe.

Freiburg im Ächtland, Ostern 1909.

Wilhelm Kosch.      

[5=Inhaltsübersicht][7]
Das tschechische Volk
und die Anfänge seiner politischen Emanzipation.

Die Geschichte des deutschen Volkes in Österreich ist seit jenem Völkerfrühling 1848 ein unablässiger, harter, trauriger Kampf ums Dasein. Zum Teil von frivolen und selbstsüchtigen Führern in die Irre geleitet, durch die Würfel der Geschichte von ihren Stammesbrüdern getrennt, den immer mehr sich auslebenden slawischen Völkern ohne Rückhalt preisgegeben, von heftiger Zwietracht in den eigenen Reihen erschüttert, von Zweifeln an ihrer nationalen Zukunft übermannt, so stehen voll banger Sorge die Deutschen in Österreich heute da.

Die Bestandteile Österreich-Ungarns.
Zum besseren Verständnis:
die Bestandteile Österreich-Ungarns bis (größtenteils) 1918.
(Kartenskizze © Scriptorium.)
Die nationale Frage in Österreich ist nicht zuletzt eine wichtige Brot- und Magenfrage. Sie reicht weit über die Grenzen Böhmens hinaus. Es kann dem deutschen Fabrikanten, Kaufmann, Gewerbetreibenden nicht einerlei sein, daß seine Waren in Böhmen boykottiert werden, wie das z. B. der Prager Stadtrat systematisch tut. Slawische Arbeiter überfluten das deutsche Sprachgebiet, unterbieten das deutsche Angebot, organisieren sich, verlangen eigenen Gottesdienst und eigene Schulen, und so gehen zahlreiche Landstriche ihres ursprünglich rein deutschen Charakters verlustig. Handel und Wandel stehen im engsten Bund mit der Kultur. Und mehr als einmal greift die nationale Frage in die soziale über. Es wäre daher in hohem Grad einseitig und leichtfertig, in dem Kampf zwischen Deutschen und Tschechen, wie dies leider häufig genug geschieht, eine verhältnismäßig unbedeutende Angelegenheit streitsüchtiger Politiker an der Grenze zu erblicken.

Böhmen ist seit Jahrhunderten der Herd aller großen europäischen Umwälzungen gewesen. Lange vor Luther sagte sich Hus von Rom los. Lange vor Napoleon stellten tschechische Adelige und fanatisierte Volksmassen die Forderung nach dem Nationalstaat auf. Der Dreißigjährige Krieg nahm in Böhmen [8] seinen Anfang. Und auf den böhmischen Schlachtfeldern wurde schließlich der Kampf zwischen Preußen und Österreich um die Vorherrschaft in Deutschland entschieden.

Die Tschechen umfassen heute ungefähr sechs Millionen Sprachgenossen und sind besonders im mittleren und östlichen Böhmen, im westlichen und mittleren Mähren, in Österreichisch-Schlesien zwischen Oder und Ostrawica ansässig. In Böhmen bilden sie ungefähr 63% der Gesamtbevölkerung, in Mähren 72%, in Schlesien 23%. Die Deutschen dagegen stehen ihnen in Böhmen mit 37%, in Mähren mit 28%, in Schlesien mit 49% gegenüber.

Für den nationalen Kampf kommt vorwiegend Böhmen in Betracht. Schlesien ist als Kronland sehr klein und außerdem zum Teil von Polen bewohnt, die mit den Tschechen nicht immer Hand in Hand gehen. Mähren zwar mit seinen mehr als 2½ Millionen Einwohnern, überaus fruchtbar, die Kornkammer Österreichs genannt, spielt in unserer Frage eine weitaus wichtigere Rolle. Aber die mährischen Verhältnisse sind von den böhmischen grundverschieden. Vor allem ist Mähren von seinem stolzeren, bedeutenderen Nachbarland, dem Königreich Böhmen, in seinem Ansehen stets verdunkelt worden. Die Blicke der europäischen Staatenlenker haben sich immer auf Böhmen, kaum je aber auf Mähren gerichtet. So fühlte sich Böhmen von vornherein als tonangebend, das Blut seiner Helden rollte lebhafter, ihr Geist war höheren Dingen zugewandt, ihr Tatendrang erschöpfte sich nicht in inneren Vorgängen. Außer Brünn besitzt Mähren nur sehr kleine Städte. Seine Bevölkerung ist in erster Reihe ackerbautreibend. Der mährische Bauer ist ein Muster beharrlichen Fleißes und ruhiger Lebensweise, er hält treu an ererbten Sitten und Gebräuchen, an seiner katholischen Religion, er ist konservativ seinem innersten Wesen nach. Ein gelungenes Bild des tschechisch-mährischen Charakters zeichnet die Baronin Ebner-Eschenbach in ihrer Meisternovelle Božena. Die Deutschen sitzen vor allem in den Städten, dann in den Randgebieten gegen Preußen und Niederösterreich, ein gleichfalls eher langsamer als übereiliger Menschenschlag ohne große Pläne, beharrlich, jeder Umwälzung abhold. Die Deutschen und die Tschechen in Mähren haben denn auch eine Art Frieden geschlossen durch die neue mährische Landtagswahlordnung vom 27. November 1905. Das Wesentliche davon ist die Abgrenzung der beiden Nationalitäten in zwei selbständigen Wahlkatastern. In Mähren also stehen sich im Wahlkampf nicht mehr Deutsche und Tschechen gegenüber, die nationalen Sitze im Landtag sind gesetzlich fest- [9] gelegt, wenn auch das Kurienprinzip noch nicht vollständig durchgeführt erscheint und der vor allem aus Böhmen ins Land getragene Streit die Gemüter stets aufs neue erregt. Freilich haben die Deutschen, als sie, bis 1905 noch in der politischen Übermacht, die neue Landtagswahlordnung schufen, sich freiwillig in die Minderheit begeben und zahllose nationale Vorteile dem nationalen Ausgleich geopfert.

Ganz anders nun sind die Verhältnisse in Böhmen. Der Tscheche Böhmens ist hitzig, leidenschaftlich, fanatisch, revolutionär. Er kennt keine Tradition. Er hat Könige abgesetzt und mit dem republikanischen Gedanken gespielt. Anarchistische Geheimbünde sind in der Chronik Prags immer wiederkehrende Tatsachen. So zeigen die Tschechen Böhmens gegenüber denen Mährens im Charakter die größte Verschiedenheit. Auf der andern Seite ist der Deutschböhme lebhafter, entschiedener, unternehmungslustiger, nackensteifer, freilich auch redseliger als sein Stammesgenosse in Mähren. In Böhmen überwiegt eben die Industrie. Leider ist eine Völkerpsychologie für beide Länder, so reizvoll und ergiebig sie auch wäre, noch nicht geschrieben.

Aber es fehlt uns noch Wichtigeres: eine modernen Ansprüchen genügende Geschichte der beiden Länder. Zwar besitzen die Tschechen für die Zeit bis 1526 ihren Franz Palacký (1844 ff.) für Böhmen, Beda Dudík (1860 ff.) für Mähren, die Deutschböhmen L. Schlesinger (1869), die Deutschmährer Christian d'Elvert (1848–84), aber diese Werke sind veraltet. Frz. von Krones vortreffliche Geschichte Mährens bis zur Gegenwart (1892) ist nur ein Abriß. Und ob Ad. Bachmann in seiner Geschichte Böhmens (1899 ff.) und Berthold Bretholz, der ausgezeichnete Kenner und Darsteller des mährischen Mittelalters (1893), einmal auch die Vorgänge seit dem Jahre 1848 behandeln werden, steht noch dahin. Nicht einmal eine irgendwie erschöpfende Bibliographie über die letzten Jahrzehnte steht uns zur Verfügung. Heinrich Friedjung in seinen bestechend geschriebenen und tief eindringenden Werken Kampf um die Vorherrschaft in Deutschland (1896, 7. Aufl. 1907) und Österreich von 1848–1860 (1908 f.), worin wir stets auf die böhmische Frage zurückgeführt werden, gibt noch die meisten Quellennachweise, daneben J. A. Freiherr von Helfert in seinen sehr breitspurigen, nur mit Vorsicht zu gebrauchenden Schriften: Geschichte Österreichs vom Ausgang des Wiener Oktoberaufstands (1869 ff.), Prager Juniaufstand 1848 (1897), Aufzeichnungen und Erinnerungen aus jungen Jahren (1904), Olmütz und Kremsier (1905), Geschichte der österreichischen Revolution (1907 ff.) vom tschechisch-feudalen Stand- [10] punkt. Eine wichtige Materialsammlung, allein nicht immer praktisch angeordnet, mehr im Stofflichen aufgehend stellt Gustav Kolmers großangelegtes Sammelwerk Parlament und Verfassung in Österreich (1902 ff.) dar. Es enthält wertvolle Auszüge aus den Reichsratsprotokollen. Eine anregende Übersicht bietet ferner Richard Charmatz in seiner Deutsch-österreichischen Politik (1907) und in seinem leider gleichfalls einseitigen, vom Industriellenstandpunkt diktierten Abriß Österreichs innere Geschichte von 1848–1907 (1909). Ältere Werke, wie Anton Springers Geschichte Österreichs seit dem Wiener Frieden (1867), die Protokolle des Verfassungsausschusses im Österreichischen Reichstage 1848–1849, herausgegeben und eingeleitet von demselben A. Springer (1885) und Franz von Krones objektives und stoffreiches Handbuch der Geschichte Österreichs (1876), muß man immer noch heranziehen.

Sehr wichtig sind die vielen Memoiren aus jener Zeit. Jeder österreichische Staatsmann ist mindestens einmal in die Lage gekommen, sich mit der Sprachenfrage zu beschäftigen. Im Handschriftlichen Nachlaß des Freiherrn von Pillersdorff (1863), in den Rückblicken und Erinnerungen von Hans Kudlich (1873), in den Exkursionen eines Österreichers von A. J. Schindler [Julius von der Traun] (1881), in den Fragmenten aus dem Nachlaß des Staatsministers Grafen Richard Belcredi (Wiener Kultur VI. und VII. Jahrg.), in des Grafen von Beust Aus drei Viertel Jahrhunderten (1887), in Leopold Ritter von Hasners Denkwürdigkeiten [Selbstbiographisches und Aphorismen] (1892), in Karl von Stremayrs Erinnerungen aus meinem Leben, in Albert Schäffles Aus meinem Leben (1905), in Carl Freiherrn von Kübecks Tagebüchern (1908), in Johann Friedrich von Schulte, Lebenserinnerungen (1908 ff.) u. a. finden wir natürlich mehr oder minder parteiische Aufklärungen. Auch journalistische Berichte wie des Jungdeutschen Gustav Kühnes Tagebuch in bewegter Zeit (1863), R. Andrees Tschechische Gänge. Böhmische Wanderungen und Studien (1872) oder Walter Rogges Österreich von Vilagos bis zur Gegenwart (1873) dürfen nicht übersehen werden, ebensowenig Anton Springers Aus meinem Leben (1892), Moritz Hartmanns Leben und Werke (1906 ff.) von Otto Wittner, der reiches politisches Material zur Geschichte Böhmens beibringt, J. Bendel Die Deutschen in Böhmen, Mähren und Schlesien (1884 ff.), A. von Dumreicher Südostdeutsche Betrachtungen (1893). Volkswirtschaftlicher Natur sind die ausgezeichneten Schriften: Die deutsche Steuerleistung und der öffentliche Haushalt in [11] Böhmen (1904) von Fr. Freiherrn von Wieser [vgl. hierzu die vom tschechischen Volksrat versuchte, aber mißlungene Widerlegung unter dem Titel Die nationale Steuerleistung und der Landeshaushalt im Königreiche Böhmen (1905)], sowie Der nationale Besitzstand in Böhmen (1905), Die deutschen Sparkassen in Böhmen (1906), Die Bedeutung der Deutschen in Österreich (1908), Das Deutschtum im Wirtschaftshaushalte Österreichs (1908) von Heinrich Rauchberg.

Die sprachrechtliche Seite behandeln: L. Gumplowicz, Das Recht der Nationalitäten und Sprachen in Österreich-Ungarn (1879), Wenzel Frind in seinem Werk Sprachliches und sprachlich-nationales Recht (1899), Alfred Fischel in seinen Studien Die Pražáksche Sprachenverordnung (1886), Nationale Kurien (1898), Das österreichische Sprachenrecht (1901), dann Otto Bauer, Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie (1907) vom sozialdemokratischen Standpunkt. Hierzu die Kritik K. Kautskys, "Nationalität und Internationalität" im 1. Ergänzungsheft der Neuen Zeit (1908) und O. Bauer, "Bemerkungen zur Nationalitätenfrage" in der Neuen Zeit (1908; 1. Bd. des 27. Jahrgangs). Ebenfalls sozialdemokratisch ist die Schrift von Karl Renner, Der nationale Streit um die Ämter und die Sozialdemokratie (1908). Auch Alfred Fischels Materialien zur Sprachenfrage in Österreich (1902) sind hier zu nennen. Ferner Carl Freiherr von Czoernig, Ethnographie der österreichischen Monarchie (1855 bis 1857) und Österreichs Neugestaltung (1857), Bartholomäus Ritter von Carneri, Neuösterreich (1859), A. Fischhof, Österreich und die Bürgschaften seines Bestandes (1869), H. Toman, Böhmisches Staatsrecht und die Entwicklung der österreichischen Reichsidee 1527–1848 (1872), A. Knoll, Die Deutschen in Böhmen und der Ausgleich (1871), Rudolf Springer, Der Kampf der österreichischen Nationen um den Staat (1902 ff.), Fr. Palacký, Österreichs Staatsidee (1866 deutsch erschienen) u. a.

Von tschechischer Literatur führe ich an: Malý, Naše znovuzrození [Unsere Wiedergeburt] (1880 ff.), F. L. Rieger, Reči [Reden] (1888), Černý, Boj za právo [Kampf ums Recht] (1893), Jahn, F. L. Rieger (1889), Kalousek, České státní právo [Böhmisches Staatsrecht] (1892), Thomas Masaryk, Česká otázka [Die böhmische Frage] (1895), Fr. Palacký, Spisy drobné [Kleine Schriften] (1898), Eim, Politické úvahy [Politische Erwägungen] (1898), Goll, Fr. Palacký (1898), Srb, Politické dĕjiny národa českého [Politische Geschichte des tschechischen Volkes] (1899).

Wichtige Artikel finden sich sonst noch in der verdienstvollen [12] Deutschen Arbeit, Monatsschrift für das geistige Leben der Deutschen in Böhmen, in den Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Deutschen in Böhmen, ferner in den deutschfeindlichen Zeitschriften Osvĕta und Tschechische Revue (die letztgenannte ist deutsch geschrieben).

Eine apologetische Auffassung des Tschechentums bekundet Ernest Denis in seinem geistvollen Buch La Bohême depuis la Montagne Blanche (1903), das als Fortsetzung und Ergänzung seines Werks Fin de l'indépendence Bohême (1902), gleichfalls den Deutsch-Österreichern unfreundlich gesinnt, aufgefaßt werden darf. Unparteiisch gehalten ist das glänzende Werk von Louis Eisenmann, Le compromis Austro-Hongrois de 1867 (1904).

Aus der Fülle von Broschüren, die unser Problem allgemein fassen, erwähne ich nur die jüngst erschienene kosmopolitisch tendenziöse Studie von Walther Schücking, Das Nationalitätenproblem (1908). Der Verfasser, Professor der Rechte zu Marburg, wird in seinem Gerechtigkeitsfanatismus durchaus ungerecht gegen die Deutschen in Österreich, so wenn er es indirekt bedauert, daß die deutsche Stadt Wien den Madjaren keine eigene Schule gewähre, oder aber die tschechischen Schulforderungen heute noch billigt. Neben solchen bedauerlichen Entgleisungen eines in seiner Gelehrtenstube dem praktischen Leben entfremdeten Rechtslehrers könnte man utopistischen Zukunftsplänen wie denen des Rumänen Popoviči Die Vereinigten Staaten von Groß-Österreich (1906) eher noch Beachtung schenken. Eine gelungene Übersicht bietet Franz H. Reitterers Vortrag Die Not der Deutschen in Österreich (1909).

Seit Michael Bakunin in deutscher Sprache seinen Aufruf an die Slawen erließ (1848) sind die Flugschriften, die sich mit dem Nationalitätenproblem beschäftigen, zu einer Legion angeschwollen. Sie zu sammeln und zu sichten konnte nicht meine Aufgabe sein. Doch möchte ich nicht unterlassen, auf Fritz Friedmanns Österreichisches Abgeordnetenhaus (1907) und G. Freytags Erste Reichsratswahlkarte von Österreich (1907) zum Zweck einer raschen Orientierung hinzuweisen.

Ich will gar nicht auf die Frage eingehen, wer in den Sudetenländern das ältere Heimatsrecht habe, die Germanen oder die Slawen. Nachgewiesen ist, daß Marbod mit seinen Markomannen ganz Böhmen (nach den keltischen Ureinwohnern, den Bojern benannt) besiedelt hatte, daß später Langobarden nachrückten, ebenso in dem ursprünglich von den Quaden, Herulern und Rugiern bewohnten Mähren, und daß erst während des 6. Jahrhunderts westslawische Völkerschaften, größtenteils Tschechen [13] von Norden nach Osten her einwanderten. Wer hat dann im Laufe des Mittelalters die Deutschen ins Land gerufen? Die nationaltschechische Dynastie der Přemysliden. Wenn daher heute tschechische Zeitungen dem europäischen Publikum das Märchen von den landfremden deutschen Gästen aufzubinden suchen, so sollte man meinen, daß selbst in deutschfeindlichen Kreisen Frankreichs solche Geschichtslügen keinen Glauben beanspruchen könnten.

Die Literatur ist der beste und getreueste Spiegel eines jeden Volkes. Wieviel die literarische Kultur der Tschechen bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts von den Deutschen angenommen hat, ja wie eigentlich diese sie erst als Tochterkultur geschaffen haben, geht, um nur ein Werk zu nennen, schon aus den Deutschen Einflüssen auf die slawische Romantik hervor (1897), einer grundlegenden Untersuchung, die wir dem objektiven Slowenen M. Murko verdanken. Vor dem 19. Jahrhundert hatten die Tschechen überhaupt keine nationale Literatur im eigentlichen Sinne; was Jan Jakubec in seiner Geschichte der tschechischen Literatur (1907) über die ersten achtzehn Jahrhunderte der christlichen Zeitrechnung zu berichten weiß, reicht über einige kümmerliche Sprachdenkmäler nicht hinaus. Die "Königinhofer Handschrift" (Rukopis Královédvorský), ein angeblich aus dem XIII. Jahrhundert stammendes Nationalepos, ebenso die ganz im Geist des modernen tschechischen Nationalpatriotismus gedichtete und ihrer Entstehung nach sogar ins X. Jahrhundert zurückdatierte "Grüneberger Handschrift" – Jakubec nennt beide sehr richtig verhängnisvolle Irrlichter der tschechischen Kulturentwicklung – erwiesen sich als unverschämte Fälschungen des phantasiebegabten W. Hanka (1817 und 1818). Eine Darstellung des deutschen Einflusses auf die tschechische Literatur der Folgezeit wird noch zu schreiben sein, doch ist er nicht minder groß als der im geistigen Leben der Vergangenheit. Erst in den letzten beiden Jahrzehnten spielt französisches Geistesleben leise von ferne herüber. Tatsache aber ist, daß die Tschechen den Kampf gegen die Deutschen erst dann aufnehmen, als sie sich genug von deren Kultur gebildet dünkten, um den Kampf erfolgreich zu bestehen.

Zunächst zahm und sacht zeigte der Löwe, das böhmische Wappentier, das die Tschechen für sich allein beanspruchen, seine Klauen. Die föderalistischen Pläne von Franz Palacký und Franz Ladislaus Rieger im Kremsierer Verfassungsausschuß von 1848 waren zur Unterminierung des zentralistisch regierten Österreich eingerichtet. Beide damals noch nicht allgemein als Führer anerkannten tschechischen Abgeordneten wußten, daß ihre Anträge augenblicklich nicht angenommen würden und Platzhalter für [14] spätere weitaus radikalere nationale Forderungen seien. Nach Palacký und Rieger sollte die Monarchie in acht nationale Staaten zerlegt werden, unter möglichster Einhaltung der Sprachgrenzen; Deutsch-Böhmen sollte zum übrigen Deutsch-Österreich fallen; Tschechisch-Österreich wieder, nicht bloß die slawischen Teile der Sudetenländer, sondern auch die Slowakei in Oberungarn umfassen. Daß nun die Deutschen auf diese Vorschläge nicht eingingen und die Tschechen nicht zwangen, sie zu verwirklichen, war der größte politische Fehler der sich damals eben bildenden deutschliberalen Partei. Denn heute wollen die Tschechen von der nationalen Teilung und Selbstverwaltung nichts mehr wissen, und doch bietet diese die einzige Existenzmöglichkeit für die Deutschen in diesem Kronland.

Wieso es aber gekommen ist, daß die Tschechen heutzutage sich als die allmächtigen Herren Böhmens in Szene setzen, daß 2½ Millionen unserer besten Volksgenossen um ihre Sprache gebracht, sozial entrechtet und bureaukratisch geknechtet werden sollen, daß heute nicht einmal die Zugeständnisse an die nationalen Forderungen der tschechischen Führer Palacký und Rieger von 1848 genügen, um den Deutschen ein stillfriedliches Dasein zu erwirken und zu sichern, mögen die folgenden Artikel zeigen.

Nur eines Tschechen aus der Revolutionszeit sei hier noch gedacht, ihres berühmten Vorkämpfers, des Publizisten Karl Havlíček. 1849 vor das Schwurgericht gestellt, gab er in einer denkwürdigen Verteidigungsrede u. a. folgender Überzeugung Ausdruck: "Ich glaube, daß das Recht der Freizügigkeit an gewisse Bedingungen geknüpft werden müsse und zwar erstens, daß jemand nur dahin ziehen dürfe, wo man ihn aufnehmen will, und zweitens, daß er sich nach jenen richtet, die bereits dort wohnen. Einwanderer müssen die Sprache sprechen, die man in der neuen Heimat spricht, und sich den Gebräuchen fügen, die dort heimisch sind." Havlíček meinte damit die deutschen Beamten zu treffen, die damals von der Regierung begünstigt in den verschiedensten slawischen Gebieten angesiedelt wurden. Germanisierungserfolge erzielte keiner, im Gegenteil, viele deutsche Familien wurden slawisiert. Aber Havlíčeks Worte sollen deshalb ihre Geltung trotzdem behalten. Es ist heute an den Tschechen, sie zu beherzigen. Vor allem aber muß das Stammland der Monarchie, Österreich unter der Enns, getreu dem jüngsten nationalen Schutzantrag des Abgeordneten Julius Axmann die Worte des tschechischen Apostels Havlíček ihren slawischen Einwanderern immer und immer wieder ins Gedächtnis rufen.







Die Deutschen in Österreich
und ihr Ausgleich mit den Tschechen

Dr. Wilhelm Kosch