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III. Europa und die Anschlußfrage   (Forts.)

 
Die Großmächte und die Anschlußfrage
Karl Anton Prinz Rohan (Wien)

Frankreich • Italien • Großbritannien • Die praktisch-politische Haltung der offiziellen Regierungspolitik der einzelnen Mächte gegenüber der österreichischen Frage • Das Verhältnis der von der betreffenden Nation vertretenen staatsrechtlichen und völkerrechtlichen Ideologie zur Einigungsbewegung des deutschen Volkes • Die Grundstimmung der öffentlichen Meinung der einzelnen Länder zur Anschlußfrage.

Wenn wir auch wissen, daß es keine österreichische oder deutsche Regierung in dieser Gegenwart mit Aussicht auf Erfolg unternehmen kann, den Antrag auf Zusammenschluß der beiden Staaten vor dem legitimen Forum des Völkerbundes zu stellen, daß aber auch anderseits jede österreichische oder deutsche Regierung, die Verbindlichkeiten gegen den Anschluß eingehen wollte, mit Recht [160] von einem Volkssturm weggefegt würde, daß also der Anschluß heute keine aktuell politische, sondern, um mit Leopold Ziegler zu sprechen, eine metapolitische Forderung ist, hinter der die große Mehrheit des deutschen Volkes in Österreich und dem Deutschen Reiche steht, so wollen wir uns im nachstehenden Kapitel der Aufgabe unterziehen, zu untersuchen, wie sich die europäischen Großmächte zum Anschlußgedanken verhalten, warum sie sich so verhalten, und welche Kräfte in ihnen heute schon für die Anschlußidee wirksam sind beziehungsweise welche Gesichtspunkte sie in Zukunft für den Anschluß zu gewinnen vermöchten. Wir werden dabei versuchen, festzustellen: 1. die praktisch politische Haltung der offiziellen Regierungspolitik gegenüber der österreichischen Frage, 2. das Verhältnis der von der betreffenden Nation vertretenen staatsrechtlichen und völkerrechtlichen Ideologie zur Einigungsbewegung des deutschen Volkes, 3. die Grundstimmung ihrer öffentlichen Meinung zur Anschlußfrage.


 
Frankreich

Es ist ein alter Grundsatz der französischen Außenpolitik aller Zeiten gewesen, sich mit dem schwachen Teil des deutschen Volkes zu verbünden, um den stärkeren Kraftpol desselben im Zaume zu halten. Solange Habsburg deutsche Hochmacht bedeutete, war Frankreich, vorübergehende Kombinationen ausgenommen, sein Gegner, der sich mit Preußen verbündete. Als nach 1870 Preußen-Deutschland die Führung übernahm, da hätte Paris eine Freundschaft mit Wien gerne gesehen. Kaiser Franz Joseph hat aber, im Bewußtsein, deutscher Fürst zu sein, den Vorschlag des englischen Königs, in den Ring gegen das wilhelminische Deutschland einzutreten, abgelehnt. Wenn auch Frankreich während des Krieges für die Befreiung der von der österreichisch-ungarischen Monarchie "unterdrückten" Völker gekämpft hat, so lag das vollständige Auseinanderreissen des Donaugebietes in kleine, sich in nationalem Hochgefühl überschlagende Staaten keineswegs in seinem Interesse. Deshalb hat es immer wieder versucht, die österreichische Republik zum Eintritt in das System der Kleinen Entente zu verlocken, was selbstverständlich am Nationalbewußtsein Österreichs scheitern mußte, das dieses sich auch in den Zeiten seiner tiefsten Erniedrigung bewahrt hat. Trotzdem ist Frankreich dauernd bestrebt, auf allen Gebieten alles das zu fördern, was auch nur dem Schein nach den Zusammenschluß [161] zwischen Österreich und dem Deutschen Reich zu hindern oder wenigstens hinauszuschieben vermöchte. Jede Äußerung des Anschlußwillens geht dem Quai d'Orsay, der in anderen Fragen viel ruhiger denkt, furchtbar auf die Nerven. So hat sich sogar Briand 1929 dazu hinreißen lassen, zu erklären, daß die Freiheit eines Volkes nicht bis zur Freiheit, Selbstmord zu begehen, gelten könne. Solche völlig unwirkliche Vorstellung vom deutschen Österreich erklärt sich aus dem Wunsche der französischen Außenpolitik, eine österreichische Nation zu konstruieren, den kleinen Staat Österreich in der Mitte des Erdteils selbständig zu erhalten, wenn es schon nicht gelingen soll, ihn in das französische System der Kleinen Entente einzubauen. Aus diesem Bestreben, österreichisches Eigenleben, wo immer es auftritt, zu fördern, erklärt sich auch, warum Paris sich trotz des Waffenlärms und trotz der Nervosität seiner Österreich umgrenzenden Bundesgenossen den verschiedentlichen Heimwehraufregungen gegenüber so auffallend ruhig verhalten hat. Denn es glaubt im erwachenden österreichischen Staatsgefühl ein erstes Anzeichen für das Entstehen einer österreichischen Nation erblicken zu können.

Die offizielle französische Außenpolitik lehnt heute – und darüber sollten wir uns keinem Zweifel hingeben – den Anschlußgedanken entschieden ab. Zu dieser Haltung veranlassen sie etwa folgende Erwägungen: Frankreich hat seinen deutschen Rivalen in das Joch der Friedensverträge gezwungen. Der Gebiets- und Bevölkerungszuwachs, den das Deutsche Reich durch den Anschluß Österreichs gewinnen würde, wäre aber weitaus größer als der Verlust, den es durch den Versailler Vertrag erlitten hat. Darüber hinaus würde nach Meinung der Franzosen der Anschluß eine Beengung der Bewegungsfreiheit der Tschechoslowakei bilden. Der größte Angsttraum der französischen Politik mag aber die Vision sein, daß eine etwaige großdeutsch-italienisch-ungarische Verständigung auch noch ihren zweiten Verbündeten: Jugoslawien, völlig zu isolieren vermöchte, was den Zusammenbruch des ganzen Machtsystems der französischen Nachkriegspolitik bedeuten müßte. Aber auch ohne so weitgehende italienisch-deutsche Möglichkeiten ins Auge zu fassen, würde der Anschluß heute schon die französisch-jugoslawische Bündnispolitik sehr ernst gefährden. Man vertritt in Paris ja nicht umsonst Völkerbundpolitik. Man rechnet damit, daß es der französischen Diplomatie im Falle eines italienisch-jugoslawischen Konflikts gelingen würde, völkerrechtlich im Recht zu bleiben und die Genfer Maschine gegen [162] den als Friedensstörer zu deklarierenden Italiener einsetzen zu können. Von einem selbständigen Österreich kann man nun, gedeckt durch den Völkerbund auf Grund des § 16, Durchmarsch von Truppen und Transport von Material ohne weiteres verlangen. Von einer Großmacht wie Deutschland, von der man im besten Fall Neutralität erhoffen kann, und die in Locarno eine Sonderinterpretation des § 16 für sich durchgesetzt hat, das gleiche zu fordern, wäre wesentlich peinlicher. Von der direkten Verbindung zwischen Frankreich und Jugoslawien hängt aber – auch im Frieden – der Wert des ganzen Bündnisses entscheidend ab. Wenn also Frankreich selbst vielleicht einmal durch innere Wandlungen der Anschlußfrage gegenüber desinteressierter würde, so muß damit gerechnet werden, daß Prag und Belgrad, solange sie im einseitigen und starren französischen System verbleiben, in Paris immer darauf hinarbeiten werden, daß die französische Politik hart und unerbittlich bleibe. Allerdings gibt es für die deutsche Politik in Berlin und Wien Mittel und Wege, gerade diese Schwierigkeiten nach und nach aus der Welt zu schaffen. Frankreich hat immer bewiesen, daß es sich des Zusammenhanges zwischen Rhein und Donau bewußt ist. Eine ungezwungene, sozusagen freiwillige Änderung der französischen Haltung zur Anschlußfrage ist deshalb nur zu erwarten, wenn die deutsch-französische Verständigungspolitik den jahrhundertealten Gegensatz zwischen den beiden führenden Nationen des europäischen Kontinents zum Schwinden bringt oder wenn durch ganz neuartige Konstellationen der Weltpolitik ein Bruch in der französischen Tradition eintritt, schließlich aber, wenn Frankreich aus der innerdeutschen und innerösterreichischen Entwicklung und dem Verhältnis beider Volksteile zueinander die Überzeugung gewinnen würde, daß der österreichische Zusammenschluß eine innere Zerrissenheit in das deutsche Volk bringen und damit sein Machtstreben entscheidend schwächen würde; denn es ist ebenfalls ein alter Grundsatz französischer Politik aller Zeiten, die Uneinigkeit der deutschen Stämme mit allen Mitteln zu fördern.

Die Haltung der offiziellen französischen Außenpolitik dem Anschluß gegenüber widerspricht den französischen Ideen und das ist eine ihrer entscheidenden Schwächen. Frankreich hat für das Selbstbestimmungsrecht, für die Grundrechte der Demokratie den Krieg geführt und es wiegt sich auch heute noch gerne im Glauben, daß das Europa von Versailles gerechter geordnet sei als das Europa von 1914. Frankreich fühlt sich als die Hochburg der Demokratie am [163] europäischen Kontinent. Zum Wesen demokratischer Freiheit und demokratischer Regierungsform gehört aber die volle Souveränität der Staaten. Kennzeichen dieser aber ist wiederum die Freiheit des Volkes, sein Schicksal zu bestimmen, also im österreichischen Falle die Möglichkeit, sich für den Anschluß mit dem Deutschen Reich zu entscheiden und diese Entscheidung dann, von äußeren Mächten unbehindert, durchführen zu können. Darüber hinaus aber widerspricht die Ablehnung des Anschlusses der französischen Staatsidee selbst, die Nation und Staat durchaus gleichsetzt. Für den französischen Staatsgedanken ist deshalb auch die von der offiziellen österreichischen Außenpolitik in Paris vertretene These: eine Nation, zwei Staaten, völlig unverständlich, was zu den traurigen Fehlinterpretationen des Pariser Schoberwortes geführt hat. Wenn erwiesen ist, daß es keine österreichische Nation, daß es nur die deutsche Nation gibt, daß diese sich lediglich in Stämme teilt, die durch Dialekt – und nicht durch Sprache –, durch Volkssitten – und nicht durch Kultur –, durch verschiedenen, von der Geographie bestimmten Aktions- und Interessenradius – nicht aber durch Geschichte und Schicksal – voneinander unterschieden sind, dann müßte die Logik der französischen Staatsidee den Anschluß bejahen. Solchen Vorhalten gegenüber antwortet der Franzose mit dem Hinweis auf die Interessen der europäischen Völkergemeinschaft, auf die Notwendigkeit, das europäische Gleichgewicht, das in Wahrheit die französische Vormachtstellung ist, zu wahren; er glaubt, daß der Anschluß gegen die europäischen Gesamtinteressen verstoßen würde, und verlangt, daß diesen sogar heiligste Prinzipien geopfert werden. Wir halten solche Antwort für nicht stichhaltig, glauben aber selbst, daß der Anschlußgedanke aus der metapolitischen Ebene in die politische erst dann wird vorgetragen werden können, wenn er sich nicht mehr nur auf die Sehnsucht des deutschen Volkes berufen, sondern von einer modernen deutschen Rechtsidee getragen sein wird. Mit der französischen Ideologie und Staatsidee, also mit fremden geistigen Kräften können wir unser eigenes Schicksal niemals gestalten. Sowohl aus realpolitischen wie aus tieferen geistigen Gründen muß eine neue deutsche Rechtsidee für die zukünftige Gestaltung Mitteleuropas geschaffen werden, die uns deutsche Argumente für die Gestaltung deutscher Geschichte liefert.

Damit sind wir bei der dritten von uns gestellten Frage, dem Verhältnis der öffentlichen Meinung Frankreichs zum Anschluß- [164] problem, angelangt. Wir könnten aufzählen, daß die französischen Sozialisten, wohl in der Annahme, daß sie nicht in die Lage kommen werden, ihr Versprechen einzulösen, aus Gründen des Selbstbestimmungsrechtes für den Anschluß eintreten, daß pazifistische Kreise im Anschluß eine Garantie für die Durchdringung Deutschlands mit dem Friedensgedanken durch das als friedlich geltende Österreichertum erblicken. In Wirklichkeit ist aber die repräsentative öffentliche Meinung Frankreichs geschlossen gegen den Anschluß. Allerdings konnten wir in den letzten Jahren, vor allem unter den jungen Politikern, feststellen, daß jenseits des Rheins die Überzeugung wächst, man werde den Anschluß einfach nicht verhindern können. Diese Auffassung entspringt sowohl realpolitischen Erwägungen vom Aufstieg des deutschen Volkes als auch insbesondere dem Durchdenken des Widerspruches zwischen der demokratischen These der französischen Politik und ihrer im Rahmen friedlicher europäischer Aufbaupolitik unrechtfertigbarer Haltung der österreichischen Frage gegenüber. Vor allem aber sehen manche unter den weitblickenden jungen Politikern die neue deutsche Rechtsthese, an der insbesondere von Wien aus schon seit Jahren mit Erfolg gearbeitet wird, emporwachsen und werden sich an ihr bewußt, daß Frankreich dem deutschen Volk gegenüber in den Friedensverträgen eine von aller Rechtsmotivierung bare, reinste Gewaltpolitik getrieben hat, fühlen die Schuld, die aus diesem Titel auf der französischen Politik lastet, erkennen die politischen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten des österreichischen Eigenlebens und wären daher für ihre Person bereit, dem Anschluß zuzustimmen, wenn dadurch nur nicht die französische Tradition verletzt und wenn die öffentliche Meinung des Landes den Anschluß nicht mit solcher Unbedingtheit ablehnen würde. Diese Kreise stürzen sich mit besonderem Eifer in die "neuen" Methoden des Völkerbundes, neuerdings auch in die Briandsche Europapolitik, um Frankreich rechtzeitig in eine Position zu manövrieren, in der es das, was ihrer Meinung nach in Zukunft zwangsläufig kommen muß – und das ist nicht nur der Anschluß – über sich ergehen lassen könnte, ohne dadurch eine allzu große Machteinbuße zu erleiden und vor allem ohne daß daraus Konflikte entstünden. Der französische Horizont der Anschlußfrage ist also düster, wenn auch nicht hoffnungslos. Wir haben anzudeuten versucht, welche Mittel angewendet werden können, um auch ihn nach und nach aufzuhellen.


[165]
Italien

Äußerlich ähnlich der französischen, ist die Haltung Italiens dem Anschlußproblem gegenüber doch wesentlich verschieden. Seit der Zerstörung der österreichisch-ungarischen Monarchie hat Italien zwei Feinde, die seinem durch die Verjüngungsrevolution des Faschismus mächtig beflügelten Auftrieb im Wege stehen: Frankreich und Jugoslawien. Vom deutschen Volk trennt Italien und, wie wir annehmen möchten, recht bewußt und berechnet, die Südtiroler Frage. Mögliche Reibungsflächen könnten sich darüber hinaus ergeben, wenn das deutsche Volk sich entschließen wird, in die ihm schicksalsmäßig vorgezeichnete südosteuropäische Politik einzutreten. Vielleicht um dieser zuvorzukommen, jedenfalls aber, um das französische System, wo immer dies auch nur mit irgendeiner Aussicht auf Erfolg geschehen kann, anzugreifen und zu schwächen und um Jugoslawien mit allen Mitteln zu isolieren, treibt Italien eine sehr aktive Politik im östlichen und südöstlichen europäischen Raume. Es verfolgt aber augenscheinlich vorerst kein selbständiges politisches Konzept. Es begnügt sich mit der dauernden diplomatischen Schwächung Frankreichs und der Behinderung der jugoslawischen Bewegungsfreiheit. Selbstverständlich bekämpft Italien jede Donaukombination, die im Fahrwasser Frankreichs segelt, auf das schärfste und würde ebenso energisch alle Bestrebungen zu ersticken versuchen, die in diesem Raume die Errichtung eines Machtzentrums etwa in der Bedeutung des alten Habsburger Reiches betreiben würden, das ebenso wie die alte Monarchie auf die Adria zu drücken vermöchte. Aus ähnlichen Gründen lehnt die offizielle italienische Politik heute auch den Anschluß ab, weil sie den Druck Großdeutschlands auf die Brennergrenze fürchtet. Der Feind des modernen Italien ist aber nicht der Deutsche, sondern der Franzose. Und um die französische Vormachtstellung zu untergraben, würde sich der Italiener zu manchem bereit finden, wenn nur der Kaufpreis entsprechend hoch ist. Gute Behandlung der Südtiroler würde dann von Italien noch sozusagen dazu gelegt werden, wie ja jetzt schon unsere Volksgenossen südlich der Brennergrenze jede Schwankung in den Beziehungen zwischen Rom und Berlin oder Rom und Wien zu spüren bekommen. Der Kaufpreis aber heißt: Teilung Europas in zwei [166] Fronten und damit über kurz oder lang Weltkrieg. Da die Politik des deutschen Volkes vor allem anderen auf friedlichen Aufbau Europas ausgerichtet sein muß, und da sie auch im Hinblick auf die anderen Forderungen der deutschen Nation und auf ihre Beziehungen zu den Anglosachsen diesen Preis kaum wird zahlen wollen und dürfen, muß vorerst mit der feindseligen Haltung der italienischen Außenpolitik dem Anschluß gegenüber gerechnet werden. In der italienischen Außenpolitik spielen die beiden äußersten und auch für die englische Rußlandpolitik wichtigen Pfeiler des französischen Machtsystems, Polen und Rumänien, eine bedeutende Rolle. Es mag sein, daß eine richtige Politik zwischen Berlin und Warschau einerseits und Wien und Bukarest-Budapest anderseits die ablehnende Haltung Italiens zu den nationalen Erfordernissen des deutschen Volkes zu mildern vermöchte.

Eine bestimmte völkerrechtliche Idee vertritt das faschistische Italien nicht. Es betrachtet und wertet die Vorgänge der internationalen Politik auch dort, wo sie ideologische und humanitäre Gestalt annehmen, vom realpolitischen Standpunkt italienischer Machtentfaltung. Die italienische Staatsidee aber würde dem Anschluß eher sympathisch als feindlich gegenüberstehen, wenn solche abstrakte Erwägungen in der sehr konkreten italienischen Außenpolitik überhaupt eine Rolle zu spielen vermöchten.

Von einer öffentlichen Meinung Italiens im Sinne demokratischer Volksmeinung gegenüber außenpolitischen Problemen können wir im Hinblick auf die Diktatur nicht sprechen. Allerdings schafft die faschistische Partei und die italienische Gesellschaft eine politische Atmosphäre, die vielleicht sogar auf manche Entschlüsse Mussolinis nicht ohne Einfluß bleibt. Hier liegen die Dinge nun so, daß einerseits die Spannung zu Frankreich uns als mögliche Bundesgenossen den Italienern sympathisch macht und daß anderseits Italien die Fortschrittsdynamik und die Entfaltung schöpferischen Geistes, die das deutsche Volk in den letzten Jahren an die Spitze der europäischen Geistesentwicklung gestellt hat, vorbehaltlos anerkennt. Dazu kommt noch, daß in Erinnerung an eigene Vergangenheit jede gewaltige nationale Einigungsbestrebung in ihm Verständnis und Mitgefühl erweckt. Faschismus ist Kampfhaltung um hoher Ziele willen. Wenn wir um unsere deutsche Zukunft kämpfen, dann begreift uns auch der italieni- [167] sche Faschist, und er verachtet die Nation, die sich vor dem Einfluß des Auslandes beugen, die im Ringen um die volle Freiheit zur Gestaltung ihrer Geschichte erlahmen oder gar um wirtschaftlicher Vorteile oder um der Bequemlichkeit willen auf sie verzichten würde. Das Entscheidendste aber ist, daß sich der Italiener mit uns solidarisch fühlt im Kampf für Leben und Zukunft gegen Erstarrung und Tod, wie sie unsere beiden Völker ausgedrückt sehen in den Friedensverträgen, die ja "für die Ewigkeit" bestimmt sind und die alle Entwicklung lähmende Vormachtstellung Frankreichs sichern. Psychologisch also weit besser disponiert als Frankreich, lehnt Italien den Anschluß heute immerhin ab. Bei der empirischen Methode der faschistischen Politik darf das aber keineswegs als letztes Wort genommen werden.


 
England

Um es gleich vorweg zu sagen: die englische Politik hat andere Sorgen. Nicht, daß sie sich jemals am Anschluß als desinteressiert erklären könnte, aber die "Regierung seiner Majestät des Königs von England" würde einer von Deutschland und Österreich vor dem Völkerbund stürmisch erhobenen Forderung nach Vereinigung der beiden Staaten kaum ein Veto entgegensetzen, wenn durch den Anschluß kein Konflikt geschaffen oder ein solcher durch ihn nicht wahrscheinlicher würde und wenn das europäische Gleichgewicht durch ihn nicht in einem das englische Interesse berührenden Umfang gestört würde. Die englische Politik geht im wesentlichen empirische Wege. Ihre sehr allgemeinen Ideale des Commonwealth und der Pax Britannica, ihre Vorstellung vom notwendigen Gleichgewicht der Kräfte lassen jeweils sehr verschiedene Anwendungen auf die Wirklichkeit zu. Ohne Zweifel ist die Aufmerksamkeit Englands nicht so sehr auf die europäische Kleinpolitik, als vielmehr auf die Beziehungen zu Amerika und die Auseinandersetzungen mit Rußland, insbesondere in Asien, konzentriert. Die europäische Frage ist für England durch die Vormachtstellung Frankreichs gekennzeichnet, die ihm allerdings schon mehr als einmal im Verlauf der letzten Jahre sichtlich auf die Nerven gegangen ist. Eine Korrektur des europäischen Gleichgewichtes durch Zurückdrängung Frankreichs läge durchaus im englischen Interesse, wenn die gutnachbarlichen Beziehungen zu Frankreich, die England als notwendig er- [168] kennt, und die durch die ernsten Argumente der französischen Großartillerie und der Flugzeuge nachdrückliche Unterstützung finden, dadurch nicht gestört würden. So gegensätzlich sonst die Politik Chamberlains und die der Labour-Regierung sein mag, in dem einen Ziel decken sie sich vollständig, nämlich: Frankreich mit den freundschaftlichsten Methoden zu schwächen. Die Konservativen haben Spanien, aber insbesondere Italien unterstützt, während Snowden im Haag einen Weg gegangen ist, der zwar von egoistischem, englischem Interesse vorgezeichnet war, aber Deutschland hätte zugute kommen sollen. Das französische Machtsystem: die Unterstützung junger Völker, die man in London auch heute noch nicht recht auseinanderkennt, gegen Völker mit alter Kultur- und Wirtschaftstradition ist dem Engländer zutiefst zuwider. Es hat lange gebraucht, bis man sich für das neue Polen zu interessieren vermochte; dieses, ebenso wie Rumänien, ist von der englischen Politik erst in dem Augenblick ernsthaft als Wirklichkeit anerkannt worden, als man in London das russische Problem auch territorial zu betrachten begann. So wichtig und heikel für England die Küstenprobleme, insbesondere auch am Balkan, sind, so wenig darf von ihm eine aktive Stellungnahme oder gar eine initiative Gestaltung der interkontinentalen Fragen Europas erwartet werden. Deshalb würden ihm auch kleine Verschiebungen in Mitteleuropa so lange gleichgültig bleiben, als dadurch das eigentliche europäische Gesicht nicht grundlegend verändert würde. Eine feste Organisation der deutsch-italienischen Mitte des Erdteils mit freier Hand nach Westen und womöglich freundschaftlichen Beziehungen zu Rußland müßte die englische Politik indes mit allen Mitteln zu hintertreiben suchen, weil sie das europäische Gleichgewicht allzusehr zuungunsten Frankreichs verschieben, den Locarnopakt gefährden und daher für England konkrete Kriegsgefahr bedeuten müßte. Gelänge es aber, die Friedenspolitik durch den Völkerbund und was immer für neue Organisationen oder Methoden noch weiter vorzutreiben, die Entwaffnung des in Waffen starrenden Europa wenigstens zum Teil durchzuführen und ein Gleichgewicht zwischen französischem, italienischem und deutschem Machtgebiet herzustellen, dann würde England am allerwenigsten von allen Großmächten dem Anschluß Schwierigkeiten machen. Seine Antwort auf ein etwaiges Anschlußbegehren hängt also ausschließlich ab von dem Zeitpunkt, [169] in dem es gestellt wird und den dann herrschenden Machtkonstellationen. Die englische These von der Freiheit und Selbstbestimmung, die, wie alles in der englischen Politik, oft sehr widerspruchsvolle Anwendung findet, muß den Anschluß grundsätzlich bejahen, soferne er eben die Pax Britannica nicht zu erschüttern droht.

Rüstungsdichte in Europa.
[171]      Rüstungsdichte in Europa.

Die englische öffentliche Meinung ist der österreichischen Frage gegenüber geteilt. Die Deutschenfreunde, in der Minderzahl, aber aktiv, fördern den Anschluß, weil sie das Anschlußverbot für eines der vielen Rechtsbeugungen ansehen, die die Siegervölker am deutschen Volk verbrochen haben. Der Engländer, dem Frankreich und Deutschland gleichermaßen gleichgültig sind, fürchtet, durch allzu großes Entgegenkommen den deutschen Wünschen gegenüber, mit Frankreich in Schwierigkeiten zu geraten, auf dessen Freundschaft er, abgesehen von schon erwähnten Gründen, größtes Gewicht legt, um Amerika und Rußland gegenüber möglichst freie Hand zu behalten und insbesondere eine immerhin mögliche franco-amerikanische Verständigung in der Weltpolitik zu hintertreiben. Wir müssen aber auch mit einer dritten Gruppe rechnen, der deshalb besondere Bedeutung zukommt, weil sie die ernste englische Nationalsubstanz verkörpert; sie hat ihren tief eingewurzelten Haß gegen Deutschland, den der Krieg und seine Hetzpropaganda erzeugt hat, noch nicht überwunden, und lehnt aus diesem Grunde alle Forderungen deutschen Machtstrebens ab. Da aber englische Politik in der Wirklichkeit höchst unsentimental vorzugehen gewohnt ist, dürfen solche Stimmungen pro und contra keineswegs überschätzt werden. Von der klaren Beurteilung seiner Interessen wird England es stets abhängig machen, wie es sich entscheidet.


Diese kurze Übersicht der Stellung der europäischen Großmächte zur Anschlußfrage gründet sich sowohl auf die offiziellen Äußerungen der Kabinette, auf Presse und sonstige Literatur; die zahlreichen persönlichen Deutungsversuche und verschiedenartigen Prognosen, die in den vorliegenden Aufsatz verarbeitet wurden, sind aus wiederholten Gesprächen mit Staatsmännern und führenden Politikern der jungen Generation der behandelten Staaten entstanden. Das zusammengefaßte Schlußergebnis aus unseren Überlegungen ergibt, daß der Wille zum Zusammenschluß [170] des deutschen Volkes in Österreich und Deutschland bedeutenden Hindernissen begegnet, daß wir aber hoffen dürfen, diese durch eine kluge, ebenso elastische wie folgerichtige, auf großdeutschen Erwägungen ruhende Außenpolitik des deutschen Volkes nach und nach überwinden zu können. Es ergibt ferner, daß das Anschlußproblem im höchsten Maße ein europäisches Problem ist, das also auch nur durch eine gesamteuropäische Politik des deutschen Volkes seiner Lösung zugeführt werden kann. Realpolitisch kann die deutsche Politik in Berlin und Wien den Anschlußgedanken dadurch fördern, daß sie, bei genauester Beachtung ihres Verhältnisses zu Polen und Rumänien, in dem sich immer drohender zuspitzenden Konflikt zwischen Frankreich und Italien als ehrlicher Makler auftritt und sich durch Erfüllung dieser europäischen Aufgabe immer größere Bewegungsfreiheit erringt. Darüber hinaus wird sie trachten müssen, mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln, insbesondere die Tschechoslowakei und Jugoslawien immer mehr aus ihrem einseitigen und starren französischen Kurs herauszuführen und durch Entwicklung einer schöpferischen modernen Mitteleuropapolitik zu sich herüberzuziehen. Ideenpolitisch wird sie den Anschluß nicht mit den Argumenten des französischen Nationalstaatsgedankens, sondern mit deutschen "Reichs"-Gedanken vertreten und die zu entwickelnde Mitteleuropapolitik auf neuen deutschen Rechtsideen, die dem Bewußtsein des 20. Jahrhunderts entspringen, begründen müssen. Nur wenn es uns gelingt, durch Errichtung einer neuen mitteleuropäischen Rechtsordnung die ununterbrochene Kampagne, die von Prag und Belgrad aus gegen den Anschluß geführt wird, abzuschwächen oder ganz zum Verstummen zu bringen, kann es gelingen, die fanatische französische Ablehnung des Anschlusses nach und nach in Neutralität umzuwandeln. Daß solche deutsch-österreichische Mitteleuropapolitik auch sehr entscheidend durch die allgemeine Handels- und Wirtschaftspolitik des deutschen Volkes gefördert werden kann, bedarf wohl kaum besonderen Beweises.

Wann der Anschlußgedanke aus der metapolitischen Ebene heraustreten und zur aktuellen politischen Frage heranreifen wird, kann heute niemand mit Bestimmtheit voraussagen. Wenn aber alle deutschen Menschen von dem großen Ziele der nationalen Einigung durchdrungen bleiben und jeder von uns von [171] seinem Standort aus und mit ernstem Willen und im Bewußtsein geschichtlicher Verantwortung für das Schicksal der deutschen Nation an seiner Verwirklichung arbeitet, dann wird auf die Dauer keine Außenpolitik, auch der mächtigsten Großmächte Europas, ein Achtzigmillionenvolk, dessen geistige und sittliche Leistung und dessen technisches Können die ganze Welt immer wieder in Erstaunen setzt, an der Erfüllung seiner Sehnsucht zu hindern vermögen.


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Die Anschlußfrage
in ihrer kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Bedeutung

Friedrich F. G. Kleinwaechter & Heinz von Paller