III. Europa und die Anschlußfrage
(Forts.)
Mitteleuropa und der
Anschluß
Dr. Albrecht Haushofer (Berlin)
Der Begriff "Mitteleuropa" Mitteleuropa eine
deutsche Prägung Mitteleuropa nach den Pariser
Vorstadtverträgen Der Anschluß eine
Voraussetzung für eine Befriedung der europäischen
Mitte Die Großmächte und der
Anschluß Militärische Gefahrlage
Die Tschechoslowakei Die Stellung Wiens
Ungarn und die Balkanstaaten Notwendigkeit einer
Verständigung und Zusammenarbeit mit den
Tschechen Angebliche Gefahren des
Anschlusses Polen Die Nutznießer des
europäischen Chaos Der Anschluß ist
möglich, ohne die Lebensnotwendigkeiten anderer Völker zu
verletzen.
"Anschluß" ist nicht nur der deutschen, sondern auch weiten Teilen der
europäischen Öffentlichkeit ein geläufiger Begriff geworden,
unter dem man die staatliche Vereinigung des heutigen Staates Österreich
mit dem heutigen Deutschen Reich versteht. Der Begriff ist klar;
Mißdeutungen absichtlicher oder unabsichtlicher Art sind kaum zu
erwarten. "Mitteleuropa" ist eine geographisch klingende Bezeichnung, die
vielfachen Bedeutungswandel erlebt hat. Historiker, Wirtschaftler, Geographen,
Politiker haben den Ausdruck [151] in den verschiedensten
Umgrenzungen und Deutungen gebraucht. Wer den klaren Begriff des
"Anschlusses" mit dem dehnbaren "Mitteleuropa" verbinden soll, muß wohl
zuerst einmal sagen, was er unter Mitteleuropa versteht.
Eine geographische Begrenzung, die zwingend wäre, fehlt. Sie fehlt nach
Süden, wo man nur sagen kann, daß die eigentlichen
Mittelmeerlandschaften außerhalb des mitteleuropäischen Bereiches
fallen; sie fehlt nach Norden, wo die baltischen Länder mehr einen
Übergang als eine Scheide bilden; sie fehlt im
Westen – Jahrhunderte voll Kampf um die Lande zwischen Rhein, Maas
und Schelde beweisen
es – und sie fehlt am dringendsten, am entscheidendsten im Osten.
Historische Begrenzungen zu suchen, ist geistvoll, aber für die heutige
Stunde belanglos.
Wirtschaftliche Grenzen sind nicht minder dem Willen unterworfen als politische;
es zeugt höchstens von mangelnder Schärfe des Denkens und
Sich-Behaupten-Wollens, wenn man glaubt, durch Vorschieben der Wirtschaft
diejenigen Entscheidungen umgehen zu können, die am Anfang und am
Ende politisch sind.
So ist Mitteleuropa ein Begriff des politischen Willens, und aller Vielfalt
politischer Deutung, Umdeutung und Verdrehung offen. Mitteleuropa ist eine
deutsche Prägung; das muß festgehalten werden gegenüber den
zahlreichen Versuchen der Umdeutung, die neuerdings von Prag, Budapest und
Warschau aus unternommen werden. Der deutsche Ursprung
mitteleuropäischen Denkens war kein Zufall: von allen Völkern,
welche den innereuropäischen Raum bewohnen, hat nur das deutsche jene
Weite des Siedlungsraumes, ob geschlossen, ob unter andere Völker
verstreut, die zur einheitlichen Erfassung dieses ganzen Gebietes zwischen
Nordsee und Adria, Ostsee und Pontikum zwingt.
Vor 60 Jahren gehörte dieser innereuropäische Raum zu vier
Großstaaten: das Deutsche Reich, das Zarenreich, das osmanische und das
habsburgische Kaiserreich teilten sich in ihn. Daneben gab es an seinem
Westsaum eine Reihe von Kleinstaaten, deren Eigenart als unabhängig
gewordene Teile des alten deutschen Imperiums seit langem feststand.
Gewiß hatte die Organisation der europäischen Mitte vor dem
Weltkrieg ihre Mängel; das Eindringen westlicher
Verfassungs- und Verwaltungsformen machte sich im Bereich der
Völkermischung immer störender bemerkbar; im ganzen war sie
[152] gut und gab dem
wirtschaftlichen Leben der Völker mehr Spielraum, als die Mehrzahl der
Völker ausnützen konnte oder wollte.
Das ist anders geworden. Die Friedensschlüsse der Jahre nach dem
Weltkrieg haben die alte Organisation Mitteleuropas zerstört; eine
Fülle von
Mittel- und Kleinstaaten dehnt sich, mit hoffnungslos ungeschickten Grenzen, auf
dem Boden der alten Großmächte. Rußland ist auf die
osteuropäische
Tafel – manche sind versucht zu sagen: nach
Asien – zurückgeworfen; die Türkei hat aufgehört, sich
als europäisch zu betrachten, je mehr sie sich in ihrem Leben
europäisiert. Die Kaiserreiche der Hohenzollern und Habsburger sind
zerschlagen; der preußische Osten ist zerstört; das Donaureich
zersplittert. Die Zahl der Grenzen, ihre Längen haben sich vervielfacht; die
Zölle sind erhöht, einheitliche Wirtschaftsgebiete
auseinandergerissen; die Summe der Unterdrückung ist gewachsen. Eine
große Unrast geht durch alle diese neuen Staaten und durch die Reste der
alten Großmächte. Soweit diese Unrast reicht, soweit aller staatliche
und wirtschaftliche Bestand unsicher
ist – dieses Schüttergebiet des Erdteils ist das politische
Mitteleuropa. Zu ihm gehört nicht der konservativste aller
europäischen Staaten, Frankreich; zu ihm gehört nicht der beruhigte
skandinavische Norden; auch nicht die ungesättigte
Mittelmeergroßmacht; aber noch immer ist Deutschland die Mitte aller
europäischen Krisen und noch immer ist dieses Deutschland
unlöslich verzahnt mit dem Völkergemischgürtel, der sich
vom Finnischen Meerbusen bis zur Ägäis zieht und durch den
Karpathenbogen in einen nördlichen und einen südlichen Teil
gegliedert wird. Beide haben zu Deutschland engere Beziehungen als
untereinander: einer der wenigen Sätze, die aus der Geographie her
unumstößlich auch politisch gültig sind. Daran wird auch
dadurch nichts geändert, daß einmal unter den Anjous Polen mit
Ungarn vereinigt war und daß diese Vereinigung neuerdings von
beflissenen Stellen mit deutlichen Absichten ausgegraben wird.
Ein solches "Mitteleuropa", das Weichsel und Donau verbinden, den Rhein aber
ausschließen soll, hat weder Vergangenheit noch Zukunft. Mitteleuropa
wird mit dem deutschen Volke gebaut werden; oder es wird nicht gebaut werden.
Es in Beziehung zu setzen mit den Möglichkeiten und Notwendigkeiten
größerer, gesamteuropäischer Zusammenschlüsse, ist
hier nicht der Ort. Wir glauben, daß es richtiger ist, zuerst das Notwendige
und Nahe zu versuchen, bevor man das minder Notwendige und Fernere zu leisten
unter- [153] nimmt. Wir halten
einen gesamteuropäischen Zusammenschluß nicht für
möglich, ohne daß ihm eine Befriedung der europäischen Mitte
vorangegangen wäre oder mindestens zur Seite ginge. Zu den
Voraussetzungen einer solchen Befriedung gehört die
Möglichkeit, den Anschluß durchzuführen.
Die Ordnung von Versailles
garantiert das mitteleuropäische
Trümmerwerk; sie hat den Anschluß verboten; die Mächte, die
an ihr hängen, stemmen sich ebenso gegen eine Neuordnung Europas, wie
sie sich gegen den Anschluß als ein Teilstück dieser Neuordnung
wehren. Unterscheidet man die Haltung der einzelnen Großstaaten, so
läßt sich feststellen, daß die englische Politik mit
naturgegebener Kühle, aber doch nicht ohne Verständnis dem
Anschlußstreben wie dem Ziel einer besseren Ordnung in Mitteleuropa
gegenübersteht. Italien hat sich an die Spitze der Staaten gestellt, welche
Revisionswünsche äußern; seine Stellung zum Anschluß
ist heftigen Schwankungen unterworfen, wobei die lauten Stimmen scharfer
Ablehnung die leiseren einer wohlbezahlten Duldung übertönen.
Paris galt bisher mit Recht als Zentrum des Widerstandes sowohl im konkreten
Fall der Anschlußfrage, wie in jedem Versuch, die europäische
Ordnung anzutasten und zu bessern. Das Memorandum
Briands – so starr es am Sicherheitsbegriff hängen
bleibt – bezeichnet den Beginn einer Wandlung. Man ist sich klar
darüber, daß man nicht alle politische Bewegung hindern kann und
bemüht sich, auch in einem veränderten Europa (dessen
Änderungen freilich so gering wie möglich sein sollen) die Spitze zu
halten. Es mehren sich die Anzeichen dafür, daß die Bereitschaft
Frankreichs, für ein Einvernehmen in den großen europäischen
Fragen gewisse Konzessionen zu gewähren, im Wachsen ist; auch solche
Konzessionen, die am materiellen Recht der Friedensverträge wesentlich
ändern würden. So besteht die Möglichkeit, daß sich in
Frankreich auch das Urteil in der Anschlußfrage ändert, die
Widerstände sich lockern.
Mit dieser Lockerung der Haltung der
Großmächte – einer Folge ihrer steigenden
Rivalität – beginnt der Anschluß aus einer
gesamtdeutschen Forderung zu einer europäischen Möglichkeit zu
werden. Welche Folgen hätte er für Mitteleuropa?
Es ist auffällig, daß sich in- und außerhalb Deutschlands sehr
wenige ein Bild davon zu machen vermögen, besser: auch nur zu machen
versuchen, welche Folgen der Anschluß nach sich ziehen [154] wird. Das gilt schon
für innerdeutsche Verhältnisse. Wie wenig ist man sich
darüber klar, welche Verfassungsprobleme der Anschluß bringt! Es
ist nicht zu verlangen, daß man im Positiven alles voraus wisse; seltsam ist
nur, wie blind man mancherorts dafür ist, welche Maßnahmen unter
gar keinen Umständen durchgeführt werden dürfen, wenn man
den als außerpolitisches Hauptziel anerkannten Anschluß ernstlich
will. Steht es so schon auf innerdeutschem Felde, so braucht man sich nicht
wundern, wenn es auf dem mitteleuropäischen noch schlimmer steht. Die
Tschechen in erster Linie sehen im Anschluß zunächst nichts als eine
große Gefahr für ihren Staat; aber auch in zahlreichen
Veröffentlichungen von ungarischer, italienischer und südslawischer
Seite findet sich kaum anderes, als militärische Bedenken von vorgestern.
Daß keiner der mitteleuropäischen Staaten in seinen heutigen
Grenzen zu militärischer Verteidigung gegen den ernsten Angriff einer
großen Militärmacht imstande ist, wird mit eiserner Unkenntnis
übersehen.
An der militärischen Gefahrlage würde durch den Anschluß so
gut wie nichts geändert, weder für das deutsche Volk noch für
alle jene Staaten, die im Gegensatz zu den Deutschen imstande wären und
vielleicht willens sind, einen neuen europäischen Krieg zu führen.
Die Gefahr, als Kriegsschauplatz benützt zu werden, besteht für
manche Teile Österreichs im besonderen wie für das deutsche
Volksgebiet im allgemeinen; sie wird, ohne Änderung der
gesamteuropäischen Machtverteilung, auch durch den Anschluß nicht
behoben werden. Daß dem deutschen Staatskörper neue
militärische Gefahrenstellen entstehen, wird nur der als etwas Besonderes
empfinden, der nicht weiß, daß eine militärische Bedrohung
Wiens im gesamtdeutschen Volk heute kaum anders empfunden würde als
eine Bedrohung von Köln oder
Königsberg. – Die auf der anderen Seite gefürchtete
Vermehrung der deutschen Stoßkraft hängt in gleicher Weise sehr
viel mehr von der gesamteuropäischen Lage und ihrer Auswirkung auf
Rüstung und Abrüstung ab, als von dem Vorhandensein von einigen
hunderttausend bewaffenbaren Menschen mehr oder weniger. Strategisch
schließlich ist Prag nicht mehr und nicht weniger bedroht, ob der
gefürchtete Ring deutscher Gewehre von einer oder von mehreren
Kommandostellen geleitet wird (dabei wird es ja nicht einmal auf die Gewehre
ankommen; Flugzeuggeschwader überwinden europäische
Staatsgrenzen im Dutzend pro Tag...). So ist alles, was
populär-militärisch über die Gefahren des Anschlusses gesagt
[155] wird, kaum wert,
ernstgenommen zu werden. Das Rüstungsproblem, die Kriegsgefahr gehen
weit über das Maß dessen hinaus, was durch den Anschluß
maßgeblich beeinflußt werden kann.
Anders liegt es auf wirtschaftlichem Gebiet. So sehr ein glücklicher
Abschluß von Handelsvertragsverhandlungen geeignet ist, die Beziehungen
zwischen deutscher und österreichischer Wirtschaft enger zu
knüpfen, so klar muß man sich darüber sein, daß die
Zusammenschaltung der reichsdeutschen und der österreichischen
Wirtschaft erst dann gelingen kann, wenn der staatliche Zusammenschluß
vollzogen ist. Der staatlichen Eingriffe in das wirtschaftliche Leben sind heute so
viele, daß erst eine einheitliche
Sozial-, Zoll- und Steuerpolitik einheitliche Führung der Wirtschaft
erlaubt.
Der Punkt, auf den sich alles Interesse bei dem Versuch einer Prognose
über die wirtschaftlichen Wirkungen des Anschlusses für
Mitteleuropa konzentriert, ist die Stellung Wiens. Die Wirtschaft der
Alpenländer
ist – von einigen bedeutsamen Ausnahmen abgesehen (Alpine Montan,
künftige
Elektrizitätswirtschaft) – vorwiegend Binnenwirtschaft. Aber Wien,
das durch Jahrhunderte
Handels- und Finanzmittelpunkt der Donauländer war, hat kraft seiner Lage
und seiner Tradition die Möglichkeit, seine alten Funktionen in dem
Augenblick wieder aufzunehmen, wo sich seine Basis erweitert. Es ist bekannt,
daß Versuche gemacht werden, diese Erweiterung zu erreichen ohne den
Anschluß des österreichischen Wirtschaftskörpers an den
gesamtdeutschen. Diese Versuche werden vom Ausland hier und dort
gefördert, zum mindesten gern gesehen. Es bleibt abzuwarten, ob es
französischem oder amerikanischem Kapital gelingt, eine wesentliche
Belebung der Wiener Wirtschaft zu erreichen, ohne daß Wien sein
gesamtdeutsches Hinterland zurückgegeben wird. Die Versuche mehrerer
Jahre beweisen, daß weder der wirtschaftliche Druck der neuen Grenzen
noch der politische Druck Frankreichs imstande sind, Wien sein altes
Wirtschaftsgebiet in den Donauländern neu zu erschließen. Dabei
bleibt die Tatsache unberührt, daß Wien nach wie vor die gegebene
Verteilungsstelle für den Donauraum ist; es ist der natürliche
Ansatzpunkt für alle Wirtschaftsbewegungen, die aus dem Westen her den
Donauraum aktivieren wollen. Daß eine solche Aktivierung durch den
Anschluß ungemein erleichtert wird, leuchtet ein. Reichsdeutsches und
österreichisches Wirtschaftstemperament ergänzt sich aufs
glücklichste. Die Erfahrung mit den Völkern des Südostens,
welche dem Österreicher, besonders dem [156] Wiener, in
jahrhundertelanger Gewöhnung selbstverständlich geworden ist, wird
jedem unentbehrlich sein, der im Donaugebiet arbeitet. Auf der anderen Seite ist
Wien heute von sich aus nicht mehr stark genug, um die Möglichkeiten,
welche in sachlicher und personeller Hinsicht vorhanden wären,
auszunutzen. Eine Verbindung reichsdeutscher und österreichischer
Kräfte im Wirtschaftsraum der Donau würde nicht nur für das
deutsche Volk, sondern durch stärkere Hilfeleistung bei der
wirtschaftlichen Erschließung auch den Nachbarländern von Nutzen
sein können. Ein verständnisvoller Austausch zwischen dem
industriellen Westen und dem landwirtschaftlichen Südosten wird immer
durch die Donaupforte von Wien führen.
Daß anderseits die eigentlichen Balkanstaaten nicht imstande sein werden,
völlig aus eigener Kraft ihren wirtschaftlichen Aufstieg im Rahmen ihrer
naturgegebenen Möglichkeiten durchzuführen, ist klar. Sie haben die
Wahl der Mitarbeit aus größerer und aus geringerer Entfernung. Wir
glauben, daß ihre Eigenart von den Südostdeutschen, die zum Teil
seit Jahrhunderten mit ihnen zusammenleben, sehr viel besser verstanden werden
wird als von Franzosen oder Amerikanern. So kann man vom wirtschaftlichen
Standpunkt aus mit den Augen Rumäniens, Bulgariens, Südslawiens
und Ungarns im Anschluß schwerlich ein unangenehmes Ereignis sehen.
Anders liegen die Dinge für den Blickpunkt Prag. Daß die
Umschließung der wichtigeren und größeren Hälfte des
tschechoslowakischen Staates durch ein einheitliches deutsches Wirtschaftsgebiet
einen gewissen Druck bedeuten kann, muß zugegeben werden. Es ist hier
nicht die Stelle, diesen Druck an Hand einzelner wirtschaftspolitischer Tatsachen
nachzuweisen, aber es ist notwendig, ihn zu sehen und sich darüber klar zu
werden, daß die segensreichen Folgen des Anschlusses auch in
wirtschaftlicher Beziehung sich nur dann voll auswirken werden, wenn der
Anschluß begleitet wird von einer grundlegenden Verständigung
und Zusammenarbeit zwischen Deutschen und Tschechen. Der
kürzeste Weg von Berlin nach Wien führt über Prag.
Für die Staaten des baltischen Bereiches von Mitteleuropa hat der
Anschluß höchstens insofern wirtschaftliche Bedeutung, als er
vielleicht geeignet ist, stärkere wirtschaftliche Kräfte seitens des
deutschen Volkes nach Südosten zu lenken.
So ist von der Wirtschaft her der Anschluß für die Mehrzahl der
mitteleuropäischen Staaten durchaus keine Gefahr; für
den- [157] jenigen, der mit
Böhmen eine Herzlandschaft Mitteleuropas innehat, könnte er zur
Veranlassung werden, diese Herzlage nicht durch Verkapselung und
Abschließung unwirksam, sondern durch Verständigung mit seinen
Umliegern nutzbar zu machen. Alle diejenigen endlich, die in und außerhalb
Mitteleuropas ein Interesse an dem wirtschaftlichen Aufbau des
europäischen Kerngebietes haben, müssen im Anschluß eine
Förderung ihrer Ziele erkennen und fördern lernen.
Einer solchen Entwicklung stehen in erster Linie politische Bedenken entgegen.
Man fürchtet, so sehr man aus wirtschaftlichen Gründen die
Nachbarschaft mit einem geeinten Deutschen Reiche wünschen mag, den
verstärkten politischen Druck. Zwar gibt es kluge Leute, welche der
Meinung sind, daß die Vereinigung Österreichs mit dem Deutschen
Reiche den gesamtdeutschen Körper vor so viele Probleme des inneren
Aufbaues stellen werde, daß eher eine Minderung als eine Mehrung
außenpolitischer Aktivität die Folge wäre; die große
Mehrzahl der Nachbarvölker glaubt jedenfalls, daß die Vorschiebung
der deutschen Reichsgrenze an den Ostfuß der Alpen einen Beginn
deutschen Druckes von der
Alpen- und Donaustellung aus nach allen Richtungen bewirken werde.
Befürchtungen entstehen daraus bei mehreren Nachbarn ohne weiteres in
kleineren Grenzfragen (Marburg, Ödenburg), Befürchtungen
größeren Stils entstehen wiederum in Prag. Wird der Anschluß
vollzogen, so müßten alle Versuche, den deutschen Ring um
Böhmen zu sprengen, als historisch und als ergebnislos abgebrochen
werden. Daß sich daran Befürchtungen bezüglich des
tschechischen Schicksals in Innerböhmen schließen, ist wiederum aus
geschichtlichen Gründen begreiflich. Diese Schlüsse sind
falsch. Sie lassen außer acht, daß sich volksbiologisch
grundlegende Wandlungen in Europa vollzogen haben und daß der
Bevölkerungsdruck, der einmal von den Deutschen zu befürchten
war, zu den Dingen der Vergangenheit gehört. Aber auch vom Politischen
gilt, was vom Wirtschaftlichen gesagt wurde: der vollzogene Anschluß
würde eine grundlegende Neuordnung zwischen Deutschen und Tschechen
notwendig machen. Er mündet also auch hier in das zentrale Problem zum
mindesten Mitteleuropas.
Für die Staaten des Nordostens ist wie in wirtschaftlicher so auch in
politischer Hinsicht der Anschluß verhältnismäßig
belanglos. Beachtenswert sind die polnischen Versuche, das deutsche Volk durch
Begünstigung des Anschlusses nach Südosten abzulenken und vom
preußischen Nordosten abzudrängen. Daß solche Versuche
ernsthaft [158] formuliert werden
können, zeugt davon, daß die grundlegende Wandlung im Denken
des deutschen Volkes, die sich in dem Jahrzehnt nach dem Kriege vollzogen hat,
wie anderwärts so auch in Polen nicht verstanden worden ist.
Verständnis für den Anschluß, nicht als Hilfsmittel im Sinne
einer althabsburgischen Politik, sondern als gesamtdeutsches Problem, ist auch in
Polen nicht vorhanden. Solange jede bessere Ordnung in den Beziehungen der
Völker in Mitteleuropa von den Trägern der heutigen Ordnung
abgelehnt wird, solange jede Vergrößerung und Stärkung des
deutschen Staates lediglich als Gefahr und nicht als Mittel zum Aufbau eines
besseren
Zusammen- [159] lebens erkannt wird,
solange ist Verständnis für den Anschluß gerade in Warschau
nicht zu erwarten.
[158]
Das deutsche Siedlungsgebiet und seine Bedrohung.
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Fassen wir zusammen, so erscheint der Anschluß in militärischer
Hinsicht als belanglos, in wirtschaftlicher Hinsicht als eine zu erheblichen Teilen
innerdeutsche, partielle Neuordnung, welche nur wenige fremde Interessen
verletzt; in politischer Hinsicht ist er ein entscheidendes Stück jeden
mitteleuropäischen Aufbaues. Es ist begreiflich, daß er von den
Nutznießern des europäischen Chaos bekämpft wird. Glaubt
man, daß eine friedliche Neuordnung der gefährdetsten Teile Europas
notwendig ist, wenn nicht ein neuer Brand über den alten Erdteil
dahingehen soll, dann wird man im Anschluß eines der ersten und
notwendigsten Teilglieder einer solchen Reform erkennen. Das Deutschtum des
Südostens allein ist nicht imstande, die ordnende Mission, die ihm
aus der Geschichte überkommen ist, durchzuführen ohne
Rückhalt am gesamten deutschen Volkskörper. Darin hat sich gegen
frühere Jahrhunderte nichts geändert. Der deutsche
Gesamtkörper aber ist nicht imstande, in den südöstlichen der
drei Teile Mitteleuropas lebendig einzugreifen, solange das Glied, das ihn mit
dem Donauraum verbindet, durch künstliche Grenzen abgeschnürt
ist. Auch politisch ist der Anschluß möglich, ohne die
Lebensnotwendigkeiten anderer Völker zu verletzen. Wenn er einen
europäischen Sinn haben soll, wird er weitere Fortschritte im Gefolge
haben. Er ist möglich nur dann, wenn sich eine freiere und gerechtere
Auffassung von der Freiheit und von der Zusammengehörigkeit der
Völker in Mitteleuropa durchsetzt; er wird, vollzogen, ein wichtiges Mittel
sein, die Zusammengehörigkeit und die Freiheit der Völker in
Mitteleuropa zu fördern.
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