III. Europa und die Anschlußfrage
(Forts.)
Paneuropa und der
Anschluß
Dr. Karl C. von Loesch (Berlin)
Keine einheitliche Stellungnahme der
paneuropäischen Bewegung zur Anschlußfrage
Die Paneuropäische Union Coudenhove
Briand Die statische Gruppe der paneuropäischen
Bewegung Der Pseudopaneuropäismus
Coudenhoves
Pan-Europa Coudenhoves Programm
Mechanisches Denken sucht eine statische
Paneuropalösung Coudenhoves
Anschlußgegnerschaft Die nationalen Minderheiten
Europas und Paneuropa Jede Europareform verlangt
Bewegung und Entwicklung Die dynamische Gruppe der
Europabewegung Unterschätzung des
Volkstums Rechtsgedanke
Rechtshygiene Die Interparlamentarische Union und die
Union der Völkerbundligen Grundzüge des
Rechtes der europäischen Völker
Neuabgrenzung der Staaten Ohne Wiedervereinigung
Österreichs mit dem Deutschen Reich ist keine Neuordnung Europas
möglich.
Es gibt keine einheitliche Stellungnahme der paneuropäischen Bewegung
zum Anschluß – trotz der Anschlußgegnerschaft des Grafen
Nikolaus von
Coudenhove-Kalergi –, so wie es auch noch keine einheitliche Einstellung
der deutschen Einheitsbewegung zu Paneuropa gibt und geben kann. Denn wenn
die Generalunternehmer der Paneuropäischen Union verkünden, die
Verfolgung paneuropäischer Ideen schließe an und für sich
schon ein Eintreten für die Wiedervereinigung der beiden
größten deutschen Staatlichkeiten aus, so beweist dies nur, daß
die von der Paneuropäischen Union vertretene Spielart des
europäischen Gedankens
anschluß- und der deutschen Sache feindlich
ist – nicht aber mehr. Denn der Europagedanke ist kein Monopol einer
bestimmten Gruppe und selbst die übrigens sehr alte Wortbildung
"Paneuropa" darf nicht nur in der Sinnverengung gebraucht werden, die ihr
anschlußfeindliche Kreise Wiens gegeben haben, als sie unter dieser Devise
einen Werbefeldzug großen Ausmaßes begannen.
Schon der Sprachgebrauch der europäischen Presse zeigt, daß man
tatsächlich alle jene Bewegungen paneuropäisch nennt,
welche engere rechtliche Bindungen zwischen den europäischen Staaten
anstreben; so sprach man von Briands paneuropäischem Manifest, das
[133] eine
paneuropäische Staatenverbindung einleiten wolle. Man wird also gut tun,
die Coudenhovesche Lehre auszusondern und sie als die der
paneuropäischen Union in Gegensatz zu den übrigen
europäischen Einigungsbestrebungen zu stellen.
Mit dieser Feststellung soll aber nicht gesagt sein, es habe etwa der Begriff
Paneuropa nicht durch Coudenhove einen anschlußgegnerischen
Beigeschmack erhalten, der durch Briands Note im Jahre 1930 noch eine recht
deutliche Verstärkung erfuhr. Dies hängt damit zusammen, daß
die Paneuropäische Union früh auf den Kampfplatz trat und laut die
Trommel rührte und daß Frankreich im Jahre 1929 während
der Völkerbundhauptversammlung als erster unter den europäischen
Staaten das Europathema aufwarf, während die übrigen
Einigungsbestrebungen weder über eine annähernd ebenso
rührige Organisation von internationaler Verbreitung verfügen, noch
überdies einen Fürsprecher unter den europäischen Staaten
gefunden haben.
Auch das hat wieder seinen guten Grund. Es liegt in der besonderen Artung der
Vorstellungswelt, der jedesmal die Begründungen entnommen wurden, in
dem Standpunkt, von dem aus die Ursachen der gegenwärtigen
Friedlosigkeit Europas beurteilt werden. Daraus ergab sich dann auch die
Unterschiedlichkeit der Rezepte, die zur Heilung empfohlen wurden,
gewissermaßen von selbst. Denn das Ziel der einzelnen europäischen
Bewegungen ist ja je nach Vorstellungswelt und politischer Lage der Urteilenden
grundverschieden.
Wenn es auch sicher falsch wäre, die Bestrebungen Coudenhoves und
Briands vollkommen identifizieren zu wollen, so dürfen sie doch in eine
Gruppe zusammengefaßt werden, weil ihre Grundhaltung die gleiche ist.
Diese Gruppe ist als statische zu bezeichnen. Gemeinsam ist beiden die
Bejahung des heutigen politischen Zustandes, wie er durch die
Diktatverträge nach Abschluß des Weltkrieges geschaffen wurde.
Dieser Zustand soll erhalten und gesichert werden gegen Veränderungen,
die aus dem Inneren oder von außen her (aus Sowjetrußland)
kommen. Ist diese Sicherung erst einmal durch neubeschworene Verträge
der 27 europäischen "Vollstaaten" erreicht, die Mitglieder des
Völkerbundes sind, dann kann
man – so schlägt Briand 1930
vor – langsam daran gehen, auch Handelshindernisse wegzuräumen.
Coudenhove war ursprünglich radikaler; er hat einige Wandlungen
durchgemacht, die im einzelnen aufzuzählen nicht lohnt. Er glaubte
anfänglich England [134] ausschließen zu
sollen und er verlangte überdies von den Staaten, die er zu seinem
Paneuropa zulassen wollte, sie sollten
demokratisch-parlamentarisch regiert sein; inzwischen ist aber diese
Regierungsform in einer Reihe von Staaten auf Zeit oder Dauer abgeschafft und
diese Bedingung praktisch unerfüllbar geworden. Wichtiger ist aber,
daß auch Coudenhove von den Staaten ausging, wie sie durch das Pariser
Vorortvertragswerk geschaffen wurden. Aufschlußreich ist, daß
er ein geringes Verständnis für die Völker Europas, für
ihre Leiden und ihre Wünsche hat. Doch davon später. In ihrer
Grundhaltung sagt Coudenhoves These den Bedürfnissen der heute in
Frankreich herrschenden Schicht zu, deren Nationalismus für die
Völker Europas nur insoweit Verständnis hat, als es sich um
Träger mit Frankreich verbündeter Staaten handelt. Nur in diesem
Sinne hat Frankreich stets das Selbstbestimmungsrecht der Völker
verstanden, das es seit der großen Revolution verkündete und das im
Weltkriege zum propagandistisch höchst erfolgreich ausgenützten
Rüstzeug der Verbündeten gehörte. Einen europäischen
Gedanken des rechtsgleichen Bündnisses freier Volkstümer
vermochte der französische Nationalismus, ja die französische
Gedankenwelt überhaupt, nie zu fassen, weil ihr die Grundlage dazu fehlte:
weil es in Frankreich wohl eine Nation gibt, aber kein Volkstum im Sinne der
deutschen und der sonstigen germanischen Volkstümer, der slawischen, der
baltischen, des ungarischen usw. Der Paneuropäismus der in
Frankreich heute herrschenden politischen Mentalität unterscheidet sich
darin von dem Coudenhoveschen. Er will nur den Ausbau und die Sicherung der
Vormachtstellung Frankreichs, von der kein Tüpfelchen aufgegeben werden
soll, und benutzt dazu, nachdem das Genfer Protokoll gescheitert ist, den
Paneuropäischen Gedanken, der ihm genehm ist, weil er es gestattet, alte
Pläne in neuer Aufmachung der Welt darzubieten. Dieser
Pseudopaneuropäismus vermummt sich nur europäisch; er
gibt sich übrigens nicht viel Mühe dabei und hat es natürlich
nicht nötig, die Probleme des Erdteils ernsthaft zu studieren.
Coudenhove ist es dagegen ernst mit dem Zusammenschluß Europas; er
ging mit gutem Glauben und ohne Frivolität an seine Aufgabe, freilich mit
dem allzu leichten Rüstzeug vorgefaßter Meinungen. Gerade darum
erlebte er anfangs einen raschen Publikumserfolg, weil er fertige, leicht
faßbare Rezepte zu liefern vermochte, [135] die er mit seiner ganz
eigentümlichen Begabung für Schlagworte und Sinnbilder
einprägsam zu formen wußte. Ein marktschreierischer Apparat wurde
in der Paneuropäischen Union geschaffen, eine Zeitschrift, zahlreiche
Broschüren, Fahnen und Wappen sorgten dafür, daß jeder
politisch irgendwie Interessierte von Coudenhoves Paneuropalehre Kenntnis
nehmen mußte.
Fünf Jahre nach Abschluß des Weltkrieges, als die
Fehllösungen der Diktatverträge und das Versagen des
Völkerbundes gerade auf den wichtigsten Gebieten offenbar geworden
waren, veröffentlichte R. N. Graf
Coudenhove-Kalergi 1923 von Wien aus seine Programmschrift
Paneuropa. Diese begann mit den Worten: "Dieses Buch ist bestimmt,
eine große politische Bewegung zu erwecken." Ein stolzes Wort, das ein
junger, geistig nur mäßig begabter, freilich energisch auftretender und
rühriger Mensch, der der Öffentlichkeit damals völlig
unbekannt war, dennoch in kurzer Zeit wahr zu machen vermochte. Bereits 1926
konnte er den ersten internationalen Kongreß der Paneuropäischen
Union nach Wien berufen, den Österreichs Bundeskanzler Seipel
eröffnete. Aus fast allen Kulturstaaten mit Ausnahme Italiens und
Rußlands erschienen damals Männer mit klangvollen Namen aus den
verschiedensten politischen Lagern. Die Weltpresse berichtete. Massen bereiteten
ihrem
jugendlich-schönen Führer stürmische Huldigungen. Seither
ist es stiller um Coudenhove geworden, trotzdem es ihm gelang, von vielen
Ministern europäischer Staaten empfangen zu werden. Erst 1930 kam aber
der so oft angekündigte zweite paneuropäische Kongreß in
Berlin zustande. Trotz Ministerreden und Ministerfrühstück war die
Aufnahme kühl und das Interesse schwach: vielleicht nicht zuletzt, obgleich
oder gerade weil Briand seine Paneuropanote zurückgehalten hatte, um
sie – mit kavaliermäßiger Geste gegenüber dem
Propagator dieser
Idee – am Tage des Kongreßbeginnes zu veröffentlichen.
Dieser äußere Erfolg Coudenhoves, den er nicht zuletzt seiner
Anschlußgegnerschaft verdanken dürfte, ist aber viel matter als
derjenige vier Jahre zuvor in Wien, als man ihn als Welterlöser feierte.
Damals hatte er in eine günstige Konjunktur hineingestoßen; er gab
der Sehnsucht nach dem Tausendjährigen Reiche neue Gestalt. Waren doch
alle jene enttäuscht gewesen, die Großes vom Frieden der
Gerechtigkeit, des gleichen Rechtes unter den Völkern, die nicht mehr wie
Schachfiguren
hin- und hergeschoben werden sollten, erwartet hatten, und außerdem noch
jene, die schon vor dem Weltkriege vom [136] Sozialismus
Erlösung erhofft hatten, als dieser noch nirgendwo herrschende Partei war.
Ihnen schien Paneuropa ein lockendes Wunschbild und man fragte nicht viel nach
Einzelheiten des Coudenhoveschen Lehrgebäudes. So folgten ihm damals
viele, gelockt von einem erhabenen Endziel.
Dann aber setzte die Kritik ein und die Anhängerschar bröckelte
wieder ab. So trat z. B. der Reichstagspräsident Löbe, ein
Vertreter des Anschlußgedankens, aus der Paneuropäischen Union
aus, ferner mehrere namhafte Politiker des bürgerlichen Lagers. Anationale
und Nationalisten westlicher Prägung blieben zurück. Nicht nur
darum, weil Briands nüchterner, auf Machtsicherung bedachter Realismus
vielen die paneuropäische Bewegung zu kompromittieren schien und
gerade die Idealisten, welche die Mache durchschauten, abstieß; nicht nur
wegen gewisser Reibungen im Anhängerkreise der Paneuropäischen
Union, die vor zwei Jahren zu Massenaustritten aus der reichsdeutschen Gruppe
führte. Sondern innere Mängel des Führers verengten den
Anhängerkreis, die Primitivität seiner Vorstellungswelt, welche dem
hauptsächlichsten und schwierigsten Problem Europas nicht gerecht wird,
dem des Volkstums. Coudenhove kann zwischen der berechtigten Vertretung des
Volksgedankens, dem edelsten und sichersten Fundament von Staat und Kultur,
und gewissen Ismen nicht unterscheiden, dem Nationalismus, dem Chauvinismus
und dem Antisemitismus. Diesem Mangel entspringt auch die Leere seiner Lehre.
Ihre einprägsame Einfachheit folgt aus seiner oberflächlichen
Betrachtung der Ursache des heutigen, so unbefriedigenden Zustandes. Daher ist
das Endziel der Entwicklung, die er erwartet, auch grauenhaft und
höchstens für die bewußt auf Blutmischung ausgehenden
Franzosen erträglich.
In einer seiner zahlreichen Schriften "Adel" (im Sammelbande Praktischer
Idealismus, 1925 neugedruckt) entwirft Coudenhove ein Bild der
künftigen nationalen Entwicklung Europas, wie er sie sich vorstellt. "Der
Mensch der fernen Zukunft wird Mischling sein." (Coudenhove ist selbst ein
europäisch-japanischer Mischling.) Ferner heißt es: "Die
eurasisch-negroide Zukunftsrasse, äußerlich der altägyptischen
vielleicht ähnlich, wird die Vielfalt der Völker durch eine Vielfalt
der Persönlichkeit ersetzen." Nur zu einem einzigen Volke hat Coudenhove
Vertrauen: "Statt das Judentum zu vernichten, hat es Europa wider Willen durch
jenen künstlichen Ausleseprozeß (nämlich durch
Stählung durch ein heldenhaft ertragenes Martyrium [137] und durch
Läuterung von willensschwachen, geistesarmen Elementen, wovon
Coudenhove im vorhergehenden Satze sprach) veredelt und zu einer
Führernation der Zukunft erzogen. Kein Wunder also, daß
dieses Volk, dem Ghettokerker entsprungen, sich zu einem geistigen Adel
Europas entwickelt. So hat eine gütige Vorsehung Europa in dem
Augenblick, als der Feudaladel verfiel, durch die Judenemanzipation eine neue
Adelsrasse von Geistes Gnaden geschenkt."
Das ist das (nicht einmal nur unterbewußte) Vorstellungsbild des
künftigen, besser geeinigten Europas, auf das hin Coudenhove
seine Paneuropalehre entwickelte. Kein Wunder, daß die
Völkerprobleme nur ganz äußerlich behandelt werden. Glaubt
er doch, das Entscheidende liege darin, daß er nachgewiesen habe, das
"Dogma des europäischen Nationalismus, welches die Nationen für
Blutgemeinschaften erkläre", sei ein Mythus. Weil es aber in Europa kein
Volk von reiner Rasse gäbe, so kommt er zu folgendem Lehrsatze: "Die
Nation ist ein Reich des Geistes, und Nationen sind also Symbiosen,
Gemeinschaften zwischen großen Männern und ihren Völkern,
Heroenkult aber die Religion des Nationalismus."
Mit einer so billigen Bagatellisierung glaubt Coudenhove Europas schwerstes
Problem aus der Welt geschafft zu haben; er negiert es, er vermag es wohl nicht
zu erfassen. Und doch verlangt gerade dies Problem ein Umdenken auf breitester
Front; Europas Neuordnung ist ohne das Entstehen einer neuen
Staats- und Volksauffassung, ohne die Ablösung von der bisherigen nicht
möglich. Er aber sieht nur Staat, Wirtschaft und Technik,
Menschenmassen, die regiert und ernährt werden sollen, aber keine
Völker mit ihren Leidenschaften und Leistungen. Seine politische
Sittlichkeit, wenn man von einer solchen sprechen darf, erschöpft sich im
Aufstellen einer Geschäftsordnung für betriebsame
Fellachengemeinwesen, die von fremder Oberschicht (Adelsrasse) regiert werden;
er kennt aber keine neue aufwärts führende Rechtsordnung zwischen
kulturschöpfenden, eigenbewußten Völkern.
Nachdem Coudenhoves geistiger Besitzstand klargelegt ist, genügt es, kurz
sein Programm zu besprechen. Seit 1923 lehrte er: Die Hauptsache ist, daß
die Staaten Europas, soweit sie demokratisch regiert werden, erst einmal einen
Bund bilden. England und
Ruß- [138] land gehören
nicht dazu, England, weil es wesentlich eine außereuropäische Macht
ist, Rußland, weil es sich durch das Sowjetsystem außerhalb der
traditionellen Formen
westlich-freiheitlicher Demokratie gestellt habe. Diese These wurde schon 1926
von dem Reichstagsabgeordneten Mittelmann durch eine Resolution des ersten
paneuropäischen Kongresses durchlöchert. Coudenhove mußte
selbst einen Pflock zurückstecken. Auf Einzelheiten kommt es hier nicht
an; wichtig ist, daß er (und 1930 Briand in noch klarerer Formulierung:
"alle 27 europäischen Staaten des Völkerbundes") von vornherein
den Staatenkreis, der zusammengeschlossen werden solle, fest umriß.
Mechanisches Denken sucht also eine statische Paneuropalösung.
Coudenhove bekennt sich auch, was bei Briand nicht in Erstaunen setzt, zu den
Pariser Friedensschlüssen, deren Folgen er (trotz seiner anfänglichen
Kritik an den heutigen Zuständen Europas und am Völkerbunde)
beschönigt, wenn er sagt, daß sie "politisch einen Fortschritt
gegenüber den Vorkriegsverhältnissen bedeuten". Seine
Ausführungen über diesen Fortschritt bleiben flach. Sie sind, wenn
man an das Schicksal der Deutschen, Ungarn, Bulgaren, Mazedonier, Russen,
Ukrainer, Weißrussen und Kroaten denkt, widerspruchsvoll, ja zum Teil
unwahr. So verkündet Coudenhove von Anbeginn
an – und das ist Musik in französischen
Ohren – die Lehre von der Unverrückbarkeit der in Paris
geschaffenen Grenzen. Daraus entspringt auch seine Anschlußfeindschaft.
Er tut so, als sei eine friedliche Grenzverschiebung ausgeschlossen, und
erklärt, wer auf eine Änderung der deutschen Grenzen hinarbeite,
müsse Kriegspolitik treiben: obwohl Wilna ohne Krieg an Polen, das
Memelgebiet ohne Krieg an Litauen, Ödenburg ohne Krieg an Ungarn kam.
Also auch geschichtlich unwahr ist Coudenhoves Kernsatz: "Wer an diese
Grenzen rührt, rührt an dem Frieden Europas." Dieser
überentschlossene Pazifismus auf Kosten unglücklicher
Völker hat eine verzweifelte Ähnlichkeit mit dem
Sicherungsverlangen machtstaatlicher Sieger, die von ihrer Beute nichts hergeben
wollen zugunsten einer echten Befriedung Europas durch einen gerechten
Ausgleich. So begegnen sich der Europareformer Coudenhove und der
Frankreichs Herrschaft sichernde Briand in einer Grundthese, die letztlich jede
gesunde Entwicklung ausschließt und gerade die ungesunden
Gegenwartsverhältnisse versteinern will. Aus dieser Ungeheuerlichkeit
folgen dann eine Fülle von Irrtümern, die zu widerlegen sich nicht
lohnt.
[139] Coudenhoves
praktische Vorschläge sind dreigegliedert:
- Wirtschaftliches Gedeihen durch Zollunion.
- Friede durch Abrüstung und Schiedsverträge.
- Verschwinden der Grenzen durch Minderheitenrecht.
Dem Zweiten ist ohne weiteres zuzustimmen; bemerkenswert ist aber, daß
Frankreich, Coudenhoves staatlicher Gönner, seit Jahren jede
Abrüstung verhindert hat. Daß die Paneuropäische Union
Coudenhoverscher Observanz die Grenzen durch Minderheitenschutz zum
Verschwinden bringen und der große Freibrief der Minderheiten sein
würde, ist Schwindel. Niemals haben daher auch die europäischen
Minderheiten, die doch in ihrer verzweifelten Lage nach jedem Rettungsanker zu
greifen geneigt sind, Coudenhove Vertrauen geschenkt. Aus dem Lager des
europäischen Nationalitätenkongresses hat er (wie auch Briand) nur
Ablehnung erfahren. Man mißtraut, durch schmerzliche Erfahrungen
gewitzigt, der Behauptung Coudenhoves, wären erst einmal die Vereinigten
Staaten von Europa geschaffen mit ihrer Zollunion und ihrem Minderheitenrecht
(Coudenhoves "Toleranzedikt" für seine Nationalreligionen), so seien
Staatsgrenzen ja überhaupt nur noch Verwaltungsgrenzen, die für das
politische Eigenleben eines Volkes eine so untergeordnete Rolle spielen
würden wie heute die Verwaltungsgrenzen innerhalb eines Staates.
Praktisch wären dann alle Wünsche der Minderheiten mit einem
Schlage befriedigt.
Auf dem ersten paneuropäischen Kongreß erklärten sich daher
auch Angehörige von Minderheitsvölkern mit so mageren
Verheißungen unbefriedigt. Der Untersteiermärker
Dr. Morocutti, der Ukrainer Lozynsky und der Ungar Dr. Faluhelyi
legten, ausgehend von den unbefriedigenden Wirkungen der
Minderheitenschutzverträge, Anträge vor, die das Problem immer
schärfer herausarbeiteten. Lozynsky forderte das Selbstbestimmungsrecht
für Minderheiten; er unterschied dabei zwischen territorialen, die zum
geschlossenen Siedlungsgebiete des Hauptvolkes gehören, und
exterritorialen, und verlangte für diese Gruppen Rechte verschiedenen
Umfanges, vor allem für erstere das Recht, sich dem Staate des
geschlossenen Siedlungsgebietes anzuschließen oder anderenfalls sich auf
föderativ-autonomer Grundlage zu organisieren. Dr. Faluhelyi ging
noch weiter, folgerichtig forderte er: Im künftigen Paneuropa sollten sich
die administrativen Grenzen, welche die gegenwärtige Staatsgrenze zu
ersetzen [140] bestimmt seien, mit
den nationalkulturellen Grenzen decken. Hier wurden Wege der Entwicklung
aufgezeigt; die Aussprache förderte wertvolle Anregungen zutage und
schließlich wurde auf Antrag des Prager Professors Dr. Kafka ein
ständiger Studienausschuß eingesetzt. Dieser sollte die Fragen der
nationalen Minderheiten prüfen und auf Grund der Prüfung im
Einvernehmen mit der Interparlamentarischen Union, der Union der
Völkerbundligen und dem Genfer Nationalitätenkongreß
genaue Vorschläge zur Sicherung der Rechte der nationalen Minderheiten
in Europa ausarbeiten. Der Antrag Kafka schloß mit dem Satze: "Der
Kongreß geht dabei von der Voraussetzung aus, daß im Hinblick auf
die europäischen Grenzen die Paneuropabewegung durch befriedigende
Regelung der Frage der Minderheiten den gewünschten Erfolg haben kann."
So stand es 1926; die Paneuropäische Union hat damals Anregungen
erhalten, die geeignet waren, das allzu einseitige Programm Coudenhoves zu
erweitern und nützliche Arbeiten zu leisten. Seither sind vier Jahre
verflossen und es ist nichts geschehen. Die Anregungen von 1926 verdorrten und
es kam zu keiner Zusammenarbeit mit den drei vorgenannten internationalen
Körperschaften, welche ihrerseits ohne die Paneuropäische Union an
deren Hauptproblem weiterarbeiteten. Der zweite paneuropäische
Kongreß 1930 aber war viel einseitiger zusammengesetzt als der erste. Er
zeigte endgültig, daß das Volksproblem keine Heimat in der
Paneuropäischen Union hat. Damit hat sich diese im Grunde
genommen selbst aus der Liste der ernst zu nehmenden Europabewegungen
gestrichen. Sie ist immer mehr ein Anhängsel der Bestrebungen zur
Verewigung des durch die Pariser Verträge geschaffenen Staatenzustandes
geworden.
Es ist schon darauf hingewiesen worden, daß Coudenhove und Briand ein
Bündnis aller (oder fast aller) europäischen Staaten zur Sicherung der
derzeitigen Grenzen als Voraussetzung für Paneuropa ansehen. Ein solches
Kleben an dem Schulbegriff Europa, dieser flache Formalismus, der nicht in die
Tiefe dringt und die Ursachen der europäischen Not ununtersucht
läßt, kann sich auch damit begnügen, für alle diese
Staaten die Zollunion zu fordern, eine Forderung, die übrigens Briand kaum
anzudeuten wagt. Dieser ist vorsichtiger, verlangt er doch internationale
Wirtschaftsabmachungen [141] privater
Industriegruppen. Hier zeigt sich, entsprechend dem Charakter der
französischen Nation, die Sicherheitsforderung, welche auf
wirtschaftlichem Gebiete wiederkehrt, das Statische des französischen
Denkens in seiner vollen Unfruchtbarkeit gegenüber dem Europaproblem.
Diese Denkweise, der letztlich ja auch Coudenhove anhängt, ist
unfähig zu begreifen, daß jede Europareform Bewegung und
Entwicklung verlangt und daß ein verwerflicher Konservativismus, der
sie zu verhindern sucht, die notwendige Entwicklung wohl einige Zeit lang
zurückstauen kann, bis der Druck immer stärker wird, bis die
Dämme zerreißen.
Nichts wäre irriger, als aus dem Versagen der Paneuropäischen
Union schließen zu wollen, als wäre die nichtstaatliche
Europabewegung versandet oder aus den mehr oder weniger ablehnenden
Antworten, die Briand auf seine
Paneuropa-Rundfrage von den von Frankreich nicht abhängigen Staaten
erhielt, die Versuche der Staaten Europas, zu einer Einigung zu gelangen,
wären endgültig gescheitert. Es ist vielmehr zu erwarten, daß
kein Problem (neben dem der Arbeitslosigkeit und dem der Unrentabilität
der europäischen Landwirtschaft, mit denen es ja sehr eng verbunden ist)
die europäische Öffentlichkeit und die europäischen
Staatsmänner in den nächsten Jahrzehnten stärker
beschäftigen wird. Freilich wird man viel tiefer schürfen
müssen, um Rezepte zu finden, die die Gebresten dieses Erdteiles heilen
können. Die Europabewegung wird dann nicht mehr statisch sein,
sondern dynamisch das Problem zu lösen versuchen.
An Vorarbeiten, die außerhalb der Paneuropäischen Union und des
Quai d'Orsay geleistet wurden, hat es im letzten Jahrfünft nicht gefehlt. Sie
traten freilich weniger anspruchsvoll auf und zeigten vielfach das Endziel nicht
klar. Mit gutem Grunde, um die Früchte der Arbeit nicht von vornherein zu
gefährden.
Hier sind in erster Linie auf wirtschaftlichem Gebiete alle jene Arbeiten zu
nennen, die in internationalem, also in einem übereuropäischen
Rahmen, zum Abbau der Zollmauern, zur Erleichterung des
Wirtschafts- und Personenverkehrs, zur Befreiung des Warenaustausches und des
Niederlassungsrechtes von den Fesseln des äußeren und inneren
Protektionismus begonnen wurden, teils unter [142] den Auspizien des
Völkerbundes, teils unter denen der internationalen Handelskammer. Ein
Enderfolg, wenn ein solcher nur in der praktischen Durchführung der
wertvollen dort vorgelegten Vorschläge, die zumeist auf
österreichische Anregung zurückgehen, gesehen werden darf, blieb
allerdings bisher versagt. Aber die Klärung der Probleme, welche freilich
nicht vor der breiten Öffentlichkeit eingetreten ist, darf als Gewinn gebucht
werden. Hier sind nur Andeutungen möglich. Es zeigte sich, daß
überkontinentale Abmachungen von mondialer Ausdehnung scheitern
müssen, nicht nur an der Verschiedenheit der Interessen, sondern auch vor
allem an der Unterschiedlichkeit des Kulturniveaus. Der Gegensatz zwischen
mittel- und westeuropäischer
Denk- und Handlungsweise und der des Orientalen und Exoten offenbarte sich
deutlich in der Verschiedenheit der Rechtsauffassungen. Der Rechtsgedanke trat
im Ringen um gemeinschaftliche wirtschaftliche Rechtsnormen hart in
Erscheinung, er wirkt in der Stille weiter im Sinne eines werdenden
europäischen Rechtes als der Grundlage zu einem stufenweise zu
vollziehenden Abbau der Handelshindernisse mit dem Endziel einer
europäischen Zollunion.
Stufenweise in doppeltem Sinne, im zeitlichen und im räumlichen. Der
zeitliche kennzeichnet sich durch die Überlegung, daß
zahlreiche praktische Hindernisse dem Zusammenschluß von
29 europäischen Staaten entgegenstehen, die
28 Wirtschaftsgebiete umfassen.
(Nur Belgien und Luxemburg sind zollpolitisch zusammengeschlossen.) Diese
Hindernisse, die zum Teil noch in allerjüngster Zeit erhöht wurden
und dem Wirtschaftsindividualismus der letzten Vergangenheit entspringen,
können nur allmählich abgebaut werden. Der Abbau muß nicht
nur darum langsam sein, weil Sprünge der Wirtschaftspolitik zahlreiche
Existenzen über Nacht vernichten und die allgemeine Wirtschaftskrise
verstärken würden. Aber nicht nur, um der Wirtschaft Zeit zu geben
zum "Sich-Anpassen" an neue Lagen, an die Vergrößerung und
Vereinheitlichung der Wirtschaftsgebiete, bedarf es der Einstufung: sondern auch
weil die Wirtschaft nicht der allein bestimmende Faktor in der Europabewegung
ist, mag sie auch die treibende Kraft sein. Denn die politischen Hindernisse einer
wirtschaftlichen Vereinigung müßten erst überwunden sein,
die in politisch-seelischen Gegensätzen der Völker und Nationen liegen
und die zur Voraussetzung die Auffindung und Anerkennung
übervölkischer Rechtsnormen haben. In ferner Vergangenheit gab es
[143] solche, als die
Universitas des Abendlandes mehr als eine Sehnsucht war; seit dem Mittelalter
hat sie der Individualismus europäischer Teilstaatlichkeit abgebaut, eine
Erfindung gerade des französischen Nationalismus in seinem Kampfe
gegen das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Dieser
Individualismus erfand den heutigen, nach jeder Richtung hin überspitzten
Souveränitätsbegriff, von dem Briand ja auch kein Tüpfelchen
opfern will. Er muß aber eingeschränkt werden nach außen und
nach innen hin, wenn eine auch nur beschränkte Einheit Europas, gleichviel
auf welchem Gebiete, zustande kommen soll. Ein solches Eingeständnis
erfordert aber eine grundlegende Änderung der heute in Europa
herrschenden Staatsauffassung, auf welcher ja gerade auch das
Diktatfriedensgebäude der Pariser Vorortverträge "ruht".
Daher ist auch die andere Stufe, die räumliche, mit der zeitlichen eng
verknüpft. So wie die Wirtschaftserleichterungen bis zu einer vollen
europäischen Zollunion durch Präferenzgewährung und
sonstige Abmachungen erst allmählich gesteigert werden können, so
kann ein wirtschaftliches Paneuropa, genau so wie ein politisches, nicht von
vornherein den gesamten Erdteil umfassen. Beruht doch dessen Abgrenzung nach
Osten und Südosten auf einer (geopolitisch gesehen) recht
fragwürdigen geschichtlichen Konvention, was ich im zweiten Bande des
Buches des Deutschtums Staat und Volkstum 1926 klarzulegen mich
bemühte. Dazu kommt, daß das Bedürfnis nach
Wirtschaftsvereinheitlichung in den einzelnen Wirtschaftsgebieten recht
verschieden groß ist. Die natürlichen
Wirtschaftszusammenhänge der Inseln und Halbinseln mit dem
angegliederten Festlande sind viel geringer als die der dortigen Staaten, welche
natürlicher Grenzen entbehren und vor 1914 im engsten
Wirtschaftszusammenhange, ja teilweise in dem gleichen
Wirtschaftsverbande standen. Schließlich sind die Sympathien der
Völker und ihrer Staaten recht verschieden gelagert; sie sind nicht
räumlich bedingt, sondern entspringen anderen, oft kuriosen Ursachen.
Die räumliche Stufung des Zusammenschlußvorganges kann so
erfolgen, daß zunächst eine Gruppe von zwei oder mehreren
benachbarten Staaten miteinander in engere Verbindung treten und so einen Kern
für weitere Ankristallisierungen bilden. Das Ausmaß der
Annäherung kann verschieden sein, kann von nachbarrechtlicher
Teilbegünstigung bis zur Zollvereinigung fortschreiten. Es können
auch mehrere Kerne in sich gleicher Tendenz entstehen. Die Geschichte des
[144] 19. Jahrhunderts
kennt mehrere Beispiele, wie den Preußischen Zollverein und den
bayrisch-württembergischen Zollzusammenschluß vor
100 Jahren, welche schließlich nach 50 Jahren im
neudeutschen Reich ihre Krönung fanden. Luxemburg ist aus dem
deutschen ins belgische Zollbündnis, Liechtenstein aus dem
österreichisch-ungarischen ins eidgenössische nur
übergewechselt. Andere großörtliche Bestrebungen
führten noch nicht zur Überwindung nationalindividualistischer
Wirtschaftsisolierung, fanden aber doch in der skandinavischen und der baltischen
Nachbarrechtsklausel immerhin
international-vertraglichen Ausdruck. Zu einer mitteleuropäischen Klausel,
zu einer Donaukonföderation, zu einem wirtschaftlichen Verbande der
Agrarstaaten des Ostens oder zu einer Konvention der
west- und mitteleuropäischen Verbraucherstaaten ist es noch nicht
gekommen. Staaten und private Vereinigungen erstreben sie, sie liegen in der
Luft.
Dagegen nahm der Verein deutscher Eisenbahnverwaltungen, der auf dem
Teilgebiete des Verkehrs arbeitet, in den letzten Jahren an Umfang zu. Er
hätte daher das Recht, einen umfassenderen Namen zu führen. Denn
der Kreis seiner ordentlichen und außerordentlichen Mitglieder
umfaßt heute Holland, die Schweiz, Österreich, Ungarn und die
skandinavischen Eisenbahnverwaltungen bis Finnland. Diese mit Recht still und
sachlich arbeitende Körperschaft zu studieren, lohnt wirklich. Sie zeigt, wie
es politische Abneigungen bisher verhinderten, daß zwischengelagerte
Staaten einbezogen werden konnten, und wie die Ungleichheit der Auffassungen
von geordneter Geschäftsführung Rumäniens Beziehungen zu
ihm immer lockerer werden ließen. Sie zeigt weiter, wie der Verkehr
gewissermaßen von selbst zu Abmachungen kommt, welche über
immer größere Räume sich ausdehnen, wenn sie nur den
wirklichen Bedürfnissen der Völker angepaßt sind,
während mondiale Verbände, wie der Pariser Welteisenbahnverein,
verkümmern, weil sie, allzu weit gespannt, künstelnd Gebiete
zusammenfassen wollen, die in Wirklichkeit nur wenige Gemeinsamkeiten haben.
Sie zeigt endlich, wie vermessen es ist, den Umfang von Einigungsbestrebungen
vorweg festsetzen zu wollen: zu eng, wie Briand es will, oder teils zu eng, teils zu
weit, wie Coudenhove.
Man soll vielmehr wachsen lassen und den Wachstumsvorgang sorgsam
beobachten. Nur die Richtlinien organischen Wachstums lassen sich im voraus
erkennen. Das Ende liegt aber nach Breite, Höhe und Tiefe im Dunkel der
Zukunft; je weiter europäisches [145] Denken fortschreitet,
um so weiter kann dereinst auch der Umfang europäischer Einigung
gespannt werden. Diese Sonderbetrachtung zeigt mit überzeugender
Deutlichkeit den rechten Weg zu Paneuropa. Es gilt in erster Linie, zeitlich
abgestuft, die vorhandenen Wachstumsneigungen auch räumlich und
fachlich nicht zu stören, sondern sie verständnisvoll zu hegen,
vorsichtig ihnen den Weg zu bereiten und die Hindernisse zu
zerstören. Die Wirtschaft Europas und ihre Not ist der Wegbereiter,
Europas Friedens- und Ruhebedürfnis ein weiterer
Antrieb – beide drängen vorwärts. Diese Behauptungen
bedürfen keiner Beweise mehr.
Die Sprengung der Hindernisse ist die Zukunftsaufgabe, und die Erkennung ihrer
Natur muß der Lösung vorangehen. Während auf
wirtschaftlichem Gebiete durch die Ausbildung der modernen Technik
plurilateraler (mehrstaatlicher) Verträge, die ein Verdienst der
unablässigen Völkerbundverhandlungen ist, die Wege zu
stufenweisem Abbau der Zollmauern zwischen mehreren Staaten gebahnt wurden
und tatsächlich brauchbare Europaarbeit im letzten Jahrfünft geleistet
wurde, stagniert sie auf dem hochpolitischen Gebiete. Es sieht so aus, als
wäre man im Zeitalter des Völkerbundes, des Briandschen
Fragebogens und der Paneuropäischen Union weiter davon entfernt als je.
Richtig ist freilich nur, daß alle drei das Problem nicht gefördert
haben, daß sie bremsend wirkten. Aber der einmal entfachte
europäische Gedanke läßt sich nicht aufhalten; ihn als erster
grell beleuchtet zu haben, wird immer Coudenhoves Verdienst bleiben, trotz
seiner Irrtümer, die den Weg zeitweise blockieren.
Dieser Hauptirrtum ist, wie schon mehrfach festgestellt, die Unterschätzung
des Volkstums, die Lehre von der Unantastbarkeit der derzeitigen Staatsgrenzen,
der Wunsch, das heutige Machtverhältnis zu verewigen und letztlich eine
kümmerlich-rückständige Auffassung vom Wesen des Staates,
von seinen Machtbefugnissen nach außen gegen andere Staaten und nach
innen gegenüber Volksgruppen, die nicht zum staatsführenden Volke
gehören. Eine Auffassung, die eine organische Weiterbildung des heutigen
Staatensystems nicht mehr zuläßt, sondern zu Fehlkonstruktionen
verführt. Coudenhove glaubt innerlich an den Völkerbrei; seine
ursprüngliche
Paneuropa-Konzeption wollte im Grunde die unhistorische Auflösung der
Staaten wie der Völker vorbereiten zugunsten einer
paneuropäisch-formal- [146] demokratischen
Einheitsstaatlichkeit und Einheitsfellachenheit. Briand glaubt gar nichts und will
nur Frankreichs staatliche und wirtschaftliche Machtstellung sichern durch
Versteifung seiner heutigen Glückslage und der Unglückslage
anderer Völker. Der Gedanke des Selbstbestimmungsrechtes der
Völker ist beiden, trotzdem sie ihn gelegentlich zu verwenden
wußten, fremd, ja unheimlich.
Und doch ist ein Rechtsgedanke, welcher die Völker Europas,
nicht nur heute bevorzugte, zu ihren Lebensrechten kommen läßt
unter Wahrung der Notwendigkeiten der europäischen Gemeinschaft, das
einzige Baumittel zur Herstellung einer dauerhaften, allen Segen gebenden
Staatenvereinigung. Ohne ihn ist auch kein raumerobernder
Wirtschaftszusammenschluß möglich. Nur wirtschaftlich lassen sich
die nun einmal vorhandenen Gegensätze nicht überwinden,
führt kein Weg zu den Vereinigten Staaten von Europa. Diese lassen sich
nur auf echtem Föderalismus aufbauen, der den einzelnen Völkern
das Recht zu ihrer Staatlichkeit gibt und sichert. Über solche Grundlagen
kann sich dann eine
überstaatlich-übervölkische Kuppel
wirtschaftlich-verkehrspolitischer Gemeinsamkeiten aufwölben. Die
Fundamente einer solchen Kuppel sind Rechtssätze europäischer
Natur, welche die Rechte der Völker und Staaten abgrenzen, wiederum
nach innen und außen, und nun erst einen europäischen Burgfrieden
zulassen, so daß die Verteidigung nach außen gemeinsame Sache
wird, eine Rechtsprechung nach innen, unter den Mitgliedern des
europäischen Bundes, aber die bewaffnete Auseinandersetzung
erübrigt.
Rechtshygiene hat der deutsche Abgeordnete Hasselblatt des
estländischen Parlamentes daher für Europa gefordert auf den
Gebieten des öffentlichen und des privaten Rechtes. Den Umfang der
notwendigen Rechtsschöpfung kann, das ist nach dem Vorgesagten klar,
niemand voraussagen. Daß sie auf
international-wirtschaftlichen und dem Verkehrsgebiete einsetzt und einsetzen
mußte, liegt in der Natur der Dinge. Den
abendländisch-europäischen Rechtsgedanken zu pflegen, ihm
überhaupt erst einmal gesicherten Raum in der Vorstellungswelt der
Europäer zu schaffen, ist daher der wichtigste Schritt, wenn erst einmal
ernster Verständigungswille da ist. Pflegt letzteren der Bund für
europäische Verständigung "zur Ergänzung des
Verständigungswerkes der Regierungen", freilich leider mit bedauernswert
geringem Erfolge, so will die
historisch-religiöse "Abendland"bewegung den
universalisti- [147] schen Gedanken des
Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation beleben und in
zeitgemäße Formen kleiden: "Das abendländische Problem ist
keine
Nützlichkeits- oder Interessenfrage: Es unter diesem Gesichtspunkte zu
fassen, ist eine Betrachtungsweise, die an die Politik der Vorkriegszeiten erinnert,
in denen wir von
wirtschafts- und machtpolitischer Organisation alles, alles erwarteten, ein
Standpunkt, der letzten Endes zu unserem heutigen Chaos geführt hat.
Auch verrät diese Einstellung einen nicht allzu tiefen Einblick in die die
Entwicklung bestimmenden Kräfte." (K. Kleefisch im
Abendland, Jahrg. 1, Nr. 11.)
Diese und andere europäische Bewegungen und Organisationen haben
besser als die Paneuropäische Union dazu beigetragen, den Boden geistig
aufzulockern. Im Schoße der Minderheitenbewegung, vor allem im
Europäischen Nationalitätenkongreß, hat man die Rechte der
Völker, zunächst freilich nur soweit es die Minderheitsvolksgruppen
angeht, zu umreissen gesucht und wertvollste Arbeit geleistet, von der der
Völkerbund mit Nutzeffekt Kenntnis zu nehmen leider bisher Abstand
genommen hat. Die Interparlamentarische Union und die Union der
Völkerbundligen haben nicht nur in ihren
Minderheitenausschüssen trotz ihrer weltumspannenden Organisation
gerade zu diesem Teile des Europaproblems, freilich in engerem Rahmen,
Wichtiges beigesteuert. Ein Gesamtprogramm aber ist bis heute noch nicht einmal
in Grundrissen veröffentlicht worden, selbst nicht vom Schutzbundkreise,
der so viele Einzelbeiträge zur Lösung des Europaproblems geliefert
hat, zumeist in den Zeitschriften Volk und Reich und in der Deutschen
Rundschau.
Ein solches Programm müßte das wirtschaftliche und das
politische Problem Europas in voller Breite gleichmäßig fassen, wie
es der frühere österreichische Minister und Gesandte Dr. Riedl
schon 1923 (freilich erst 1926 im zweiten Bande der Bücher des
Deutschtums Staat und Volkstum veröffentlicht) versuchte, indem
er eine Satzung der Vereinigten Staaten von Europa nach dem Vorbild der
Verfassung des Deutschen Bundes von 1816 entwarf.
Die Grundzüge des Rechtes der europäischen Völker, aus
denen langsam ein europäisches Staatenrecht erwachsen kann, lassen sich
immerhin umreißen. Den Völkern Europas, gleichviel in welcher
Lage sie heute sind, ist grundsätzlich das Recht auf einen eigenen Staat
sicherzustellen, der manchen heute noch versagt ist. Die
Ab- [148] grenzung des
Umfanges dieses Staates bereitet nur dort Schwierigkeiten, wo die Volksgrenzen
zweifelhaft sind oder der Wille der Bevölkerung. Die Abgrenzung ist heute
ein Hauptstreitpunkt und der Anlaß zur Unzufriedenheit derer, denen es
versagt ist, zum konnationalen Staate zu gehören, obwohl sie im
geographisch geschlossenen Siedlungsgebiet mit der Hauptmasse ihrer
Volksgenossen leben. Grundsätzlich muß also nicht nur das Recht
auf eigenen Staat gewährleistet werden, sondern auch auf den
größtmöglichen Umfang dieses Staates, der möglichst
alle Konnationalen des geschlossenen Siedlungsgebietes umfassen soll. Hier ist
also eine Einschränkung des sogenannten Selbstbestimmungsrechtes
zuungunsten der fernen Siedlungsinseln außerhalb des geschlossenen
Siedlungsgebietes geboten. Es müssen ernsthafte Vorkehrungen getroffen
werden zur Durchführung einer gerechten Grenzzeichnung in Mischzonen
(Verzahnungsgürteln) dort, wo zwei oder mehrere Völker
aneinanderstoßen. Solche Mischzonen sind in Mitteleuropa ungemein breit.
Dazu kommt, daß der Charakter der Grenzbevölkerungen keineswegs
eindeutig feststeht und daß sie oft von verschiedenen Völkern auf
Grund von Abstammung, Sprache, Siedlungsraum, geschichtlichen Merkmalen
oder wirtschaftlichen, kulturellen oder politischen Neigungen für sich in
Anspruch genommen werden, oder daß ein Staat erst jüngst den
volklichen Charakter von Gebieten mehr oder weniger gewaltsam geändert
hat. Wenn objektive Merkmale versagen, so ist dann im ersteren Falle eine
Anfrage bei der Bevölkerung (Volksabstimmung unter neutraler Aufsicht)
gegeben.
Eine Neuabgrenzung von Staaten, die sehr wohl ohne Kriege vollzogen werden
kann (Norwegen trennte sich von Schweden ohne Krieg, Irland von
Großbritannien dagegen erst nach schweren Volksaufständen)
erschöpft aber das Problem noch nicht; denn sie löst die
Minderheitenfrage nicht. Eine erschöpfende Darstellung eines modernen
Minderheitenrechtes, welches heute sein größtes Hindernis im
Zentralismus unifizierender Demokratien, Pseudodemokratien und faschistisch
regierter Staaten findet, würde den Rahmen dieses Aufsatzes
überschreiten. Sicher ist es jedoch, daß eine bessere Abgrenzung der
Staaten von den 35 Millionen, welche die Minderheiten Europas
außerhalb der Sowjetunion zählen, mehr als die Hälfte
verschwinden ließe. Das Problem würde aber so nicht nur verkleinert,
sondern auch entgiftet, da nach einer gerechten Neuabgrenzung der Verdacht der
Staatsuntreue gegenstandslos wäre. Jene von der heute [149] herrschenden
Staatsauffassung geduldeten,
wenn nicht begünstigten
Entnationalisierungsmaßnahmen, die so viel böses Blut machen,
würden aber unterbleiben; werden sie doch zumeist begründet mit
der Notwendigkeit, Grenzgebiete dadurch zu sichern, daß ihre
Bevölkerung vertrieben oder ihres Volkstums entkleidet wird. Umgekehrt
würde die tatsächliche Sicherung von Volkstumsrechten für
Minderheiten, welche international und verfassungsmäßig festgelegt
wären, die Bedeutung der Grenzfragen, vor allem ihre Schärfe,
mildern; denn ein gesichertes Minderheitsvolkstum hat nicht annähernd so
stark den Drang, aus einem Staatsverband auszuscheiden, als ein
gequältes.
[149]
Der Zerfall Europas.
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[150] So sehen wir, wie auch
hier enge Zusammenhänge zwischen den einzelnen Faktoren auf dem Wege
der echten Befriedung Europas bestehen. Eine befriedigende Neuordnung
muß gleichzeitig auf wirtschaftlichem und auf politischem Gebiete, ja auf
den verschiedenen Teilgebieten desselben angestrebt werden, in zeitlich,
räumlich und fachlich gestuftem Fortschreiten: zu einem Endziel, das
freilich, was den Inhalt der künftigen Verfassung eines föderativ auf
Volksstaaten aufgebauten Europas und seines endgültigen geographischen
Umfanges angeht, im einzelnen noch nicht umschrieben werden kann. Der Weg
zu diesem Ziel wird sicher nicht geradlinig sein, der Gipfel wird nicht in einem
Ansturm genommen werden können, er ist von verschiedenen Seiten her
etappenweise zu erreichen. Eine dieser Etappen ist die staatliche
Wiedervereinigung Österreichs mit dem Reiche, die Erfüllung der
vornehmsten Volksforderung der Deutschen, des eigentlich
mitteleuropäischen Volkes. Ob sich diese Wiedervereinigung zuerst nur
zollpolitisch vollziehen wird oder gleichzeitig zollpolitisch und staatlich, kann
niemand voraussagen. Sie ist jedenfalls aber kein Hindernis für Fortschritte
auf dem Wege zu einer föderativen Einigung Europas, sondern vielmehr
eine Voraussetzung dazu. Ohne Wiedervereinigung ist keine Neuordnung
Europas möglich. Die Wiedervereinigung der deutschen Staaten ist
vielmehr der Anfang einer mitteleuropäischen Kernbildung, um die herum
weitere Kristallisationen erst möglich sind. Im Interesse Europas muß
sie geschehen.
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