SucheScriptoriumBestellenArchiv IndexSponsor


Der ekle Wurm
der deutschen Zwietracht

Politische Probleme rund um den 20. Juli 1944


Friedrich Lenz


6. München, das Protektorat
und die britische Garantie an Polen


ChamberlainEs ist so, wie die Zeitschrift Der Standpunkt vom 11.8.1950 richtig ausführt, daß die Konferenz von München "nicht spontane einzelgängerische Tat des friedliebenden Mannes mit dem Regenschirm war, sondern die wohlerwogene Politik des Kabinetts". Wohlerwogen hat man sich seinerzeit zu 'München' entschlossen, weil man noch nicht fertig war! Wie schrieb doch Ministerpräsident Chamberlain am 25.5.1940 in einem Briefe an eine nahestehende Persönlichkeit? "Es ist klar wie das Licht der Sonne, daß, hätten wir den Kampf 1938 begonnen, die Ergebnisse sehr viel schlimmer gewesen wären. Von Anfang an war ich mir unserer militärischen Schwäche bewußt und deshalb habe ich mein Möglichstes getan, den Krieg hinauszuzögern, wenn ich ihn schon nicht verhindern konnte."

BonnetUnd der französische Außenminister Bonnet in seinen Erinnerungen: "Das ist ein neues Zeugnis, das uns ermöglicht, des Wert des einen Jahres besser zu würdigen, das durch den Münchener Vergleich gewonnen wurde."18 Nach München gingen die englische und französische Rüstung verstärkt weiter - außerdem aber auch die Hetze der englischen Opposition gegen Deutschland. England wartete noch. Es ließ sogar die Bildung des Protektorats Böhmen und Mähren im Frühjahr 1939 zu - nicht allein deswegen, weil sich die Tschechoslowakei selbst aufgelöst hatte, sondern in der Hauptsache, weil Englands Rüstung noch immer nicht fertig war. Es nützte sie aber weidlich aus, um das englische Volk in Stimmung gegen Deutschland zu bringen.

Jenen aber, welche die Bildung des Protektorats kritisch als eine gewaltsame und damit zu verurteilende Tat Hitlers bezeichnen, möchte ich folgendes zu bedenken geben:


1. Hitler hatte in München gar keine Absichten auf die eigentliche Tschechoslowakei, sondern wollte nur die Sudetendeutschen Gebiete zurückhaben. In der Weisung Hitlers vom 21. Oktober 1938, welche immer als Beweis seiner Eroberungssucht angesehen wird, heißt es nur: "Es muß möglich sein, die Resttschechei jederzeit zerschlagen zu können, wenn sie etwa eine deutschfeindliche Politik betreiben sollte."

2. Nach "München" entwickelten sich dort aber nicht nur Auflösungstendenzen, da die Slowakei und Karpatho-Ukraine die Loslösung anstrebten, sondern auch stark deutschfeindliche Tendenzen, welche sich zu einer Gefahr für Deutschland zu entwickeln drohten. Beweise dafür liegen vor.19

3. Der bekannte Politiker Paul Rohrbach sagte 1930 in Deutschland - Tod oder Leben: "Wenn eines Tages der Anschluß Österreichs an das Reich kommt, wenn die Formel 'ein Volk - zwei Staaten' auf den Scheiterhaufen geworfen wird, so wird das Gebiet des geeinigten deutschen Nationalstaates die Tschechoslowakei derart umfassen, daß sie zwangsläufig mit ihm ihr Auskommen zu suchen haben wird." Daß die Tschechei trotz der Warnungen, die ihr Hitler in der Rede vom 28. September 1938 und im Gespräch mit dem tschechischen Außenminister zukommen ließ, das Gegenteil tat, war ihre Schuld.

4. Schon im Februar 1939, also Wochen vor der Schaffung des Protektorats, veröffentlichte eine führende englische Tageszeitung einen bemerkenswerten Leitartikel über den nach München den Tschechen verbliebenen Reststaat. Dieser Staat sei auf die Dauer nicht lebensfähig. Er sei geographisch und wirtschaftlich so eng vom Deutschen Reich umklammert, daß er zwangsläufig über kurz oder lang in Deutschland aufgehen werde; man könne dies bedauern, aber aufhalten ließe sich diese Entwicklung nicht mehr. England habe in München A gesagt und nun müsse es auch B sagen.

5. Böhmen und Mähren waren schon einmal Bestandteile des Deutschen Reiches und zwar 1000 Jahre lang.

6. Hitler wird sich an den klassischen Ausspruch seines großen Vorgängers Bismarck erinnert haben, der da sagte: "Wer der Herr Böhmens ist, ist der Herr Mitteleuropas."

7. Um mit den Worten des englischen Botschafters Henderson zu sprechen: "Die Gelegenheit war zu günstig, als daß Hitlers Opportunismus sie sich hätte entgehen lassen können."

8. Abgesehen davon, daß die Tschechen im Protektorat ja nicht die Rolle einer bedrückten Minderheit, sondern die eines weitgehend selbständigen Volkes spielten, möchte ich mit Botschafter Abetz sagen: "Wer es in Ordnung fand, daß bis September 1938 dreieinhalb Millionen Deutsche gegen ihren Willen zum staatlichen Zusammenleben mit sechseinhalb Millionen Tschechen gezwungen worden waren, hatte kein Recht dagegen aufzutreten, daß im April 1939 diese sechseinhalb Millionen Tschechen gegen ihren Willen in einen Staatsverband mit achtzig Millionen Deutschen aufgenommen wurden."

9. Wer nun noch die 'Methode' kritisieren möchte, mit der Hitler den tschechischen Präsidenten Hacha, der am 15. März zu Hitler nach Hacha Berlin gefahren war und nach Meißner diesem schon am Bahnhof erzählte, "daß er angesichts der unhaltbar gewordenen Situation in seiner Heimat zu dem Entschluß gekommen sei, den Führer und Reichskanzler um Hilfe und Schutz anzugehen, und daß er hoffe, bei ihm Bereitwilligkeit zu einer gemeinsamen politischen Arbeit zu finden," zur Annahme seines Protektoratsvorschlages veranlaßte, sei darauf verwiesen, daß "die Besprechung im Gegensatz zu späteren Tendenzmeldungen über heftige Zusammenstöße und brutale Bedrohungen in Ruhe und korrekten Formen verlief".
Damit man aber auch weiß, warum Hitler dem Protektoratsvorschlag sofort den Einmarsch der Truppen folgen ließ, halte ich es für nützlich, hier eine einschlägige Buchstelle zu zitieren: "...erzählte einmal, wie minutiös Hitler an jenem Abend alle Einzelheiten der Situation kalkuliert hatte, als er Hacha in Berlin mit dem Protektoratsvertrag überrumpelte. Er hatte dabei genau ausgerechnet, daß bei Hachas Rückkehr nach Prag die eingeflogenen deutschen Verbände bereits Spalier zu seinem Empfang bilden müßten. Das alles hatte nun ein wenig nach großarrangiertem Indianerspiel ausgesehen und war offenbar von einigen Leuten in der Umgebung Hitlers auch dahin mißverstanden worden. Hitler Hitler hatte das bemerkt und nun dazu erklärt: 'Hacha ist ein alter, ehrlicher Mann. Es wird Kreise in seinem Land geben, die ihm nicht glauben werden, daß er nicht anders handeln konnte. Ich muß daher verhindern, daß nun Hacha gezwungen würde, zur Sicherung des Vertrages gegen einen Teil seiner Landsleute vorgehen zu müssen. Ich muß auch verhindern, daß die Möglichkeit einer loyalen Entwicklung innerhalb der nun einmal unumgänglich gewordenen Lösung auch nur durch einen einzigen sinnlosen Schuß unnötig belastet wird. Ich habe als Staatsmann das Amt eines Chirurgen - wenn ich schon schneiden muß, so darf ich über das Unabänderliche hinaus auch nicht einen einzigen noch so winzigen Schnitt sinnlos tun. Es ist nichts wichtiger für die spätere Anerkenntnis einer sachlich unvermeidlichen Notwendigkeit als die absolute Korrektheit, mit der man auch von vornherein die Grenzen des Unvermeidlichen einhält. Deshalb ist dieses Minutenprogramm, das die Reihenfolge des Eintreffens meiner Verbände und des Sonderzuges von Hacha in Prag genau regelt, so wichtig. Die Lösung der Protektoratsfrage als solche steht nicht mehr zur Debatte, sie würde auch durch das tschechische Militär nicht aufgehalten werden können. Aber man läßt nicht schießen, wo das Schießen nicht zum Zweck unumgänglich dazugehört und ihn für die Zukunft höchstens völlig nutzlos belastet.'"

10. Es wäre für die Welt besser, Deutschland wäre heute der Herr Böhmens statt der Sowjetunion und das tschechische Volk wäre sicher glücklich, wenn die Zeiten des 'Protektorats' wieder kommen könnten.

11. Am 15. März erklärte Chamberlain im Unterhaus, daß die englische Garantie für die Tschechoslowakei nicht zur Anwendung kommen könne, weil der Staat, dessen Grenzen England zu garantieren beabsichtigt hätte, von innen zerbrochen sei und so die geplante Garantie ein Ende gefunden habe. SM Regierung könne sich infolgedessen nicht länger an diese Verpflichtung gebunden halten.


Als nun im Anschluß an das Protektorat noch das Memelland zurückkehrte, aber Hitler erklärt hatte, daß er wegen der Kolonien nie eine kriegerische Auseinandersetzung beginnen würde, hatte es England plötzlich eilig, einen Anlaß zu suchen, den man im geeigneten Zeitpunkte benützen konnte, um auf den Knopf zu drücken. Es hatte nämlich inzwischen in Erfahrung gebracht, daß Deutschland in aussichtsreichen Verhandlungen mit Polen bezüglich einer vernünftigen Korridorlösung stand. Statt sich nun an die edle Mahnung Churchills zu halten, die schon am 24. November 1932 ausgesprochen wurde - "Wenn die englische Regierung wirklich wünscht, etwas zur Förderung des Friedens zu tun, dann sollte sie die Führung übernehmen und die Frage Danzigs und des Korridors wieder aufrollen, solange die Siegerstaaten noch überlegen sind. Wenn diese Fragen nicht gelöst werden, kann keine Hoffnung auf einen dauernden Frieden bestehen" - erteilte es den Polen am 31. März 1939 ein nur wegen der obenerwähnten Eile verständliches Garantieversprechen20 von äußerster Leichtsinnigkeit. Darüber äußerte Chamberlain im Unterhaus am 3. April 1939 die vielsagenden Worte, an die sich England noch einmal mit Schaudern erinnern wird:

"So weit von unseren traditionellen Ideen in dieser Hinsicht abgewichen zu sein, wie ich es im Auftrag SM Regierung am Freitag getan habe, bildet in der Tat einen so wichtigen Markstein in der britischen Politik, daß ich mit Sicherheit sagen zu können glaube, daß dieser Entschluß ein Kapitel für sich erhalten wird, wenn es einmal zum Schreiben der Geschichtsbücher kommt..."

Selbst der wenig hitlerfreundliche Staatssekretär E. v. Weizsäcker meinte hierzu: "Wie konnte man in London glauben, auf solche Weise dem Frieden zu dienen? Glaubte man den durch äußere Erfolge verwöhnten und geblendeten Hitler öffentlich intimidieren zu können? Und glaubte man, die polnischen Regierungsorgane würden so zur Vorsicht gemahnt? Ich glaubte das nicht, und der britische Botschafter teilte meine Ansicht. Der britische Minister und spätere Botschafter Duff Cooper drückte es so aus: nie in der Geschichte habe England einer zweitrangigen Macht die Entscheidung darüber eingeräumt, ob Großbritannien in einen Krieg einzutreten habe oder nicht. Jetzt sei diese Entscheidung einer Handvoll Leuten überlassen, deren Namen - mit Ausnahme vielleicht des Obersten Beck - in England total unbekannt seien. Und diese Unbekannten könnten morgen die Entfesselung eines europäischen Krieges befehlen."


Seite zurückInhaltsübersichtSeite vor

Anmerkungen

18Edouard Herriot meinte 1946: "München hat zwei Ursachen gehabt: 1. Damals wollte und konnte England nicht marschieren; es war nicht fertig. Erst nach dem deutschen Angriff auf Polen entschloß es sich, Frontstellung zu beziehen. 2. Das französische Volk war damals für den Frieden um jeden Preis. Es war jahrelang von einer bestimmten antimilitaristischen Propaganda bearbeitet worden!" ...zurück...

19Schon 1918 hatten die tschechischen Politiker in Versailles die Notwendigkeit der Tschechei damit begründet, daß ihre Lage sie natürlicherweise zum Todfeind der Deutschen mache. Der französische Luftfahrtminister Pierre Cot bestätigte, daß die Tschechei bestimmt sei, im Falle eines Krieges wegen des kurzen Anflugweges die deutschen Orte und Industrien mit Bomben anzugreifen. Zuguterletzt meinte der tschechische Abgeordnete Slansky: "Wir Kommunisten gehen unbeirrt auf unser Ziel zu, auf die Sowjetrepublik, an deren Spitze Klement Gottwald stehen wird." (Aus Auch Du warst dabei, von Peter Kleist.) ...zurück...

20Herr Lindley Fraser möchte nun in Kriegsschuld und Propaganda die verhängnisvolle Bedeutung der Garantieerklärung dadurch bagatellisieren, daß er darauf hinweist, daß diese am 31. 3. erfolgt sei, während Polen die deutschen Vorschläge am 26. 3. schon abgelehnt habe. Er vergißt aber zu erwähnen, daß der englische Botschafter schon am 24. 3. eine Demarche bei dem polnischen Außenminister Beck unternahm, um die deutschen Vorschläge vom 21. 3. an Polen zu torpedieren. Am Tage darauf verkündete Polen seine Mobilmachung. (Nach dem Bericht des englischen Fachhistorikers Prof. Namier.) ...zurück...


Seite zurückInhaltsübersichtSeite vor

Der ekle Wurm der deutschen Zwietracht
Politische Probleme rund um den 20. Juli 1944