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Brüx

Bericht Nr. 17
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Lager Maltheuern
Berichter: Dr. med. Carl Grimm Bericht vom 3. 12. 1950

Lage von BrüxDie Selbstmordepidemie

In der Nacht vom 6. zum 7. Mai 1945 kamen die letzten deutschen Truppen auf dem Rückzug durch Brüx. Mit dem ersten Tage der Besetzung durch die Rote Armee begann eine Welle von Plünderungen und Vergewaltigungen und in ihrem Gefolge die Selbstmordepidemie. Betrunkene Soldaten und Zivilisten drangen in die deutschen Wohnungen ein, brachen Türen auf, zertrümmerten Möbel, vergewaltigten Frauen, raubten und schossen. Die Deutschen hofften zuerst auf den Abzug der russischen Truppen, aber nach den Kampftruppen kamen die Besatzungstruppen und die russischen Kampftruppen kündigten selbst an, daß sie der Bevölkerung nichts machen, sondern die Besatzungstruppen. Dazu kamen mehrere Tausend Ostarbeiter, welche in dem Hydrierwerk Maltheuern gearbeitet hatten und von den Russen bei ihrem Einmarsch befreit wurden. In den Außenbezirken der Stadt nahmen die Plünderungen und Vergewaltigungen kein Ende, die Frauen kamen keine Nacht zur Ruhe, sie flohen auf die Dachböden und verbrachten ihre Nächte wie Vögel in den Dachbalken sitzend. Die freiwillige tschechische Miliz war diesem Treiben gegenüber machtlos, obwohl sie zuerst einen Widerstand versucht hatte. Damals hofften die verzweifelten Deutschen auf die Machtübernahme und Schutz durch die Tschechen. Aber nachdem die russischen Truppen zum größten Teil abgezogen waren und reguläres tschechisches Militär und Staatspolizei aus Prag die Macht in der Stadt übernommen hatten, erwies sich der tschechische Terror ärger als der russische und es kam nicht selten vor, daß Deutsche von Russen gegen den Terror der Tschechen in Schutz genommen wurden. Anfang Juni führte das tschechische Militär die große Terroraktion durch, wobei der größte Teil der deutschen Männer und ein Teil der Frauen aus den Wohnungen verhaftet, wie Vieh zusammengetrieben und in Straflager gesperrt wurde. In den Monaten Juli/August führten der Národní Výbor, Militär und Polizei zusammen die Evakuierungsaktionen durch, wobei die deutschen Bewohner ganzer Straßenzüge und Stadtviertel aus den Wohnungen getrieben, in Lager gesperrt und über die Grenze abgeschoben wurden. Während dieser Terror- und Evakuierungsaktionen erreichte die Selbstmordepidemie in den Reihen- und Massenselbstmorden ihren Höhepunkt.

In den ersten Tagen des Umsturzes wurde ich von einem betrunkenen tschechischen Milizmann angehalten, als sich aber herausstellte, daß er mich kannte und mir wohl wollte, schickte er mich in die Kriminalpolizei zur Registrierung. Durch diesen Zufall wurde ich als Deutscher Hilfspolizeiarzt der tschechischen Kriminalpolizei, weil man dort gerade einen Arzt suchte und ich gegenüber auf dem I. Platz wohnte. Meine Aufgabe als Polizeiarzt bestand in der Totenbeschau der deutschen Selbstmörder und ich habe als solcher in den Monaten Mai/Juni/Juli einige Hundert Selbstmörder totenbeschaut. So wurde ich Zeuge der Selbstmordepidemie unter den Deutschen in Brüx. Es war ein grauenhafter Totentanz, die ungewohnte und massenhafte Totenbeschau erschütterte mich derart, daß ich am Abend völlig erschöpft war. Den Höhepunkt dieser Massentotenbeschau bildeten die Massen- und Reihenselbstmorde in den Monaten Juni/Juli, als ich in der Leichenhalle auf dem städt. Friedhof einmal 16, einmal 21 Selbstmörder in einer Reihe nebeneinander liegen sah. Persönlich ergriffen mich die Selbstmorde alter Freunde, welche ich unter diesen tragischen Umständen wiederfand. Meinen Freund Koupa, mit dem ich durch Jahre im Luftbad auf dem Schloßberg geturnt und gebadet hatte, fand ich in seiner Wohnung in der Goethestraße mit seiner Freundin gasvergiftet. Meinen Freund Peil, bei dem ich alle meine Bücher eingekauft hatte, fand ich in einem Haus auf der Josefpromenade mit aufgeschnittenen Schlagadern und erhängt. Menschlich ergriffen mich am meisten die Selbstmorde ganzer Familien, wobei mir jedesmal die Feierlichkeit und Gründlichkeit ihrer Durchführung auffiel. In den ersten Tagen fand ich eine Familie in der Kirchengasse, Mutter, Tochter und Söhnchen, gasvergiftet. Sie lagen nebeneinander auf dem Fußboden hingestreckt, mit einer Decke zugedeckt, auf der Decke lag der zusammengeringelte tote Dackel, die Tochter hatte ein Kreuz und das Bild ihres Liebsten auf der Brust. Die Familie des Landesschulinspektors Mirschitzka fand ich in einer Scheune auf dem Schloßberg, Vater, Mutter, drei Kinder und die Großmutter lagen auf dem Erdboden der Scheune in einer Reihe nebeneinander hingestreckt, alle mit Schläfenschüssen, der Vater mit Mundschuß. Der Vater hatte zuerst alle anderen mit Schläfenschüssen und zuletzt sich selbst mit Mundschuß erschossen. Die Familie des Drogisten Kletschka fand ich in ihrer Wohnung in der Seegasse, die zwei Kinder schwarz gekleidet und in ihren Betten aufgebahrt, Kreuz und Blumen auf der Brust, die Großmutter ebenfalls schwarz gekleidet und in ihrem Bett aufgebahrt, Kreuz, Bild und Blumen auf der Brust, der Vater zusammengekrümmt und abgekehrt, über das Ehebett geworfen, die Mutter der Länge nach im Ehebett hingestreckt, noch warm und den Revolver in der Hand, alle mit Schläfenschüssen. Die Mutter hatte ihre Kinder, ihre Mutter, ihren Mann und zuletzt sich selbst mit wohlgezielten Schläfenschüssen erschossen. In einem Haus in der Seegasse sah ich drei alte Herrschaften, einen alten Herrn und zwei alte Damen, an drei Fensterkreuzen nebeneinander hängen, den alten Herrn im schwarzen Gesellschaftsanzug in der Mitte, die alten Damen im Schwarzseidenen zu beiden Seiten. Ärztlich interessierten mich die verschiedenen Todesursachen der Selbstmorde, welche mir zu denken gaben. Ich habe in der ganzen Zeit keinen einzigen Selbstmord durch Aufschneiden der Schlagadern gesehen, vielmehr hatten alle den Versuch vorher wegen der Schmerzen oder des Blutverlustes aufgegeben. Die Selbstmorde durch Erschießen blieben in der Minderzahl und traten nur in der ersten Zeit auf, weil die Deutschen die Waffen abgeben mußten, sodaß sie später keine Schußwaffen hatten. Auch die Selbstmorde durch Gas blieben in der Minderzahl und traten nur in der ersten Zeit auf, weil die Tschechen später das Gas absperrten. Die weitaus überwiegende Mehrzahl bildeten die Selbstmorde durch Erhängen. Dieser Totentanz der Erhängten war furchtbar. Sie hingen an Baumästen, Dachbalken, Mauerhaken, Fensterkreuzen, Türstöcken, sie schwebten frei in der Luft, berührten mit den Fußspitzen den Boden, knickten in den Knien ein und knieten sogar. Das schien mir zuerst unglaublich, man sollte doch meinen, wenn ein Mensch steht oder kniet, müßte es für ihn ein Leichtes sein, den Kopf aus der Schlinge zu befreien. Aber er ist tatsächlich nicht mehr dazu im Stande, die Ursache ist sofortige Ohnmacht, welche durch die Absperrung der Blutzufuhr zum Gehirn eintritt, während der Erstickungstod durch die Abschnürung der Luftröhre sich erst nachträglich einstellt. Da die Zahlen der Selbstmorde allgemein fantastisch überschätzt wurden, hielt ich objektive Unterlagen für geboten und ließ durch einen deutschen Angestellten der tschechischen Leichenbestattungsanstalt die Zahlen der Selbstmorde für die Monate Mai/Juni herausziehen. Sie betrugen für jeden Monat 150. Nachdem die Stadt Brüx gegen 30.000 Einwohner hatte, wovon 20.000 Deutsche waren, ergibt eine einfache Rechnung, daß die 300 Selbstmörder von den 20.000 Deutschen 1½% ausmachen. Nach diesen Zahlen für die ersten beiden Monate schätze ich die Zahl der Selbstmörder für Brüx im ganzen auf 600 bis 700, das sind über 3%. Diese Schätzung deckt sich mit den Zahlen, welche mir später für den ganzen Sudetengau genannt wurden.


Die militärische Razzia.

In der letzten Maiwoche wurde eine Kundmachung des tschechischen Garnisonskommandanten erlassen, wodurch in 24 Punkten über die deutsche Bevölkerung der Ausnahmezustand verhängt wurde. So erfuhren die Deutschen zum ersten Mal von der Anwesenheit des tschechischen Militärs, während sie dadurch gleichzeitig in ihre Wohnungen eingeschlossen und von jeder Verbindung mit der Außenwelt abgeschnitten wurden. Zu derselben Zeit kam aus Prag die Rudá Garda (Rote Garde) in die Stadt, das waren sogenannte Partisanen oder Barrikadenkämpfer, welche in dem großen Durchhaus auf dem I. Platz einquartiert wurden und dort mit roten Fahnen und schwarzen Aufschriften ein Rotes Haus errichteten. Junge Burschen in SA-Uniformen und fantastisch bunten Mützen und Bändern stolzierten mit Gewehr und Peitsche bewaffnet auf dem I. Platz einher, hielten deutsche Passanten an, schlugen ihnen den Hut vom Kopfe, prügelten sie mit Ohrfeigen und Fußtritten, peitschten sie mit der neunschwänzigen Nagaika und verschleppten sie in das Rote Haus. Die Rotgardisten gaben an, im Grenzgebiet Ordnung schaffen zu müssen.


Der 2. Juni in Brüx

Am Samstag, den 2. Juni früh wurden wir durch Läuten, Schreien und Rütteln an der Haustür geweckt. Ich öffnete das Küchenfenster und sah unten vor der Haustür einen Haufen wilder Gestalten mit Fantasieuniformen und Maschinenpistolen, welche unter Drohungen und Beschimpfungen Einlaß verlangten. Als ich ihnen darauf die Haustür öffnete, fielen sie sofort über mich her und schleppten mich hinauf in die Wohnung. Der Anführer war ein Rotný (Feldwebel) der Gendarmerie aus dem Dorf Hawran, die übrigen waren tschechische Partisanen und Bergarbeiter aus der Umgebung, von welchen ich zwei erkannte. Meine Frau, mein Töchterchen und meine Schwiegermutter waren inzwischen notdürftig angekleidet, während ich noch im Schlafanzug war. Der Rotný führte mich in das Schlafzimmer, dort stellte er mich vor das Bett und mit aufgerissenen Augen und verzerrtem Gesicht keuchte er mich an: "Bei allem, was Ihnen heilig ist, bei Ihrem Leben, haben Sie Waffen im Haus." Zuerst fiel mir ein alter Revolver ein, welcher auf dem Dachboden versteckt war, aber der hätte mir weniger Sorgen gemacht, wenn nicht außerdem noch Waffen meines Schwagers im Haus gewesen wären, von denen sich meine Mutter nicht hatte trennen wollen und von denen ich nicht wußte, wo sie versteckt waren. Um die Tschechen von den Waffen meines Schwagers abzulenken, gab ich ihnen den Revolver an. Darauf schleppten sie mich auf den Dachboden hinauf, aber dort stellten sie sich so dumm und feige an, daß sie die Waffe nicht finden konnten, obwohl ich ihnen das Versteck genau zeigte, bis ich selbst den Revolver herausnehmen und vor sie auf den Boden niederlegen mußte. Aber als sie die Waffe hatten, fielen sie über mich her und es hagelte von allen Seiten Faustschläge, Fußtritte und Peitschenhiebe. Das waren die ersten Prügel, die ich von den Tschechen bekam. Darin schleppten sie mich wieder in die Wohnung hinunter, wo mich der Rotný in Empfang nahm, und obwohl er furchtbar energisch und gefährlich zu mir tat, schützte er mich tatsächlich dadurch vor den anderen. Er verlangte Ringe, Uhren, Wertgegenstände, Bargeld und Sparkassenbücher. Ich legte auf den Tisch, was ich in der Eile finden konnte. Dann mußte ich mich anziehen, Schlafdecke, Eßschale und Marschproviant einpacken und wurde abgeführt. Auf dem I. Platz standen bereits drei Marschblöcke von gefangenen Deutschen in Achterreihen hintereinander und ich mußte in eine Reihe eintreten. Aus den umliegenden Häusern wurden ständig weitere deutsche Gefangene herausgetrieben und schlossen unsere Reihen auf. Als unterdessen russische Offiziere vorüberkamen und den Auftritt sahen, kehrten sie um und stellten die Tschechen zur Rede. Die erregten Verhandlungen endeten damit, daß die Tschechen alle Arbeiter des Hydrier-Werkes freilassen und ihnen alles zurückgeben mußten, was sie ihnen abgenommen hatten. Das ist ein Beispiel, welches ich selbst erlebt habe, daß Deutsche von Russen gegen den Terror der Tschechen in Schutz genommen wurden.

Inzwischen kam ein bekannter Tscheche vorüber und als er mich unter den Gefangenen erkannte, holte er mich aus ihren Reihen heraus und führte mich zur Kriminalpolizei. Dort wollte man mich nicht kennen, obwohl ich tagtäglich als Polizeiarzt ein- und ausgegangen war und obwohl mein tschechischer Bekannter lange mit ihnen verhandelte, mußte ich wieder in die Reihen der Gefangenen eintreten. Aber kurz darauf kam ein zweiter bekannter Tscheche und holte mich wieder heraus, und als in diesem Augenblick tschechische Offiziere auf dem Platz erschienen, wandte er sich an diese und nach kurzem Verhandeln entschied ein tschechischer Kapitän: Ärzte gehen frei zum Dienst. Bei dieser Gelegenheit bemerkte ich zum ersten Mal, daß die Aktion unter dem Kommando des tschechischen Militärs stand. Zuhause wurde ich begrüßt wie ein vom Tode Auferstandener, Nachmittag wurde ich noch einmal zu einer Totenbeschau geholt.

In den nächsten Tagen erhielten wir Nachricht von dem Verbleib der deutschen Gefangenen und dem weiteren Verlauf der militärischen Razzia. Die gefangenen Männer kamen in das Lager Striemitz, ein Barackenlager bei dem gleichnamigen Dorf eine halbe Wegstunde von Brüx, die Frauen kamen in das Lager Poros, eine aufgelassene Glasfabrik in Brüx, an der Prager Straße. Und nun begann ein schwungvoller Menschenhandel und Sklavenmarkt. Von den Männern wurden zuerst diejenigen freigelassen, welche im Hydrierwerk, Bergbau und den Brüxer Fabriken arbeiteten, darüber hinaus wurden von diesen Großbetrieben ständig weitere deutsche Arbeitskräfte angefordert und laufend aus dem Lager entlassen. Bei den Frauen war es vor allem der Meierhof Sarras, welcher damals noch unter deutscher Verwaltung stand, der immer wieder deutsche Frauen zur Feldarbeit anforderte und ihnen so zur Freilassung verhalf. Bei den Massenanforderungen der Großbetriebe machte das in der ersten Zeit keine Schwierigkeiten und es genügte oft ein einfacher telefonischer Anruf eines solchen Großbetriebes, um die deutschen Gefangenen zu Dutzenden und Hunderten auf einmal aus dem Lager zu entlassen. Aber später wurden die Schwierigkeiten immer größer, dann mußten die Anforderungen direkt an das Garnisonskommando gerichtet und persönIich vom Garnisonskommando die Bewilligung eingeholt und im Lager vorgewiesen werden, bevor die Gefangenen entlassen wurden. Diese Wege mußten für die Gefangenen von ihren Verwandten und Bekannten erledigt werden und das Garnisonskommando, welches in der Kaserne an der Saazer Straße stationiert war, wurde damals tagelang durch endlose Menschenschlangen von Deutschen belagert, welche ihre Angehörigen aus dem Lager befreien wollten. Aber der Garnisonskommandant, ein Oberstleutnant, verhielt sich sehr abweisend und schlug zumal Verhandlungen mit Deutschen rundweg ab, während sich sein Adjutant eher zugänglich zeigte und besonders der Kommandant des Frauenlagers, ein junger Leutnant, sich den Frauen gefällig erwies. Damit wurde die Verteilung der Rollen klar. Die Lager waren dem Garnisonskommando unterstellt und der Menschenhandel spielte sich zwischen Industrie und Landwirtschaft auf der einen Seite und dem Garnisonskommando auf der anderen Seite ab, die ganze Aktion stand unter dem Befehl des Garnisonskommandos. Die Freigelassenen erhielten vom Národní Výbor ihre Wohnungsschlüssel zurück und durften wieder in ihre verlassenen Wohnungen einziehen oder wurden andernfalls in einem Wohnlager untergebracht. Im übrigen hatte der Národní Výbor mit der Aktion nichts zu tun und stand dazu sogar im Gegensatz; ich weiß von einem Mitglied des Národní Výbor, daß dieser sich bemühte, die Rudá Garda aus der Stadt zu entfernen und die Svoboda-Truppen fernzuhalten. Die Zahl der gefangenen deutschen Männer sank durch Arbeitseinsatz in der Industrie bis auf tausend, von welchen fünfhundert in dem Straflager Striemitz blieben und fünfhundert in das Konzentrationslager 28 bei Maltheuern kamen. Die Zahl der gefangenen Frauen sank durch den Arbeitseinsatz in der Landwirtschaft ebenfalls bis auf tausend, welche von den Tschechen über die sächsische Grenze nach Deutschland verschleppt wurden. Diesen Elendszug der Brüxer Frauen sah ich selbst in der Prager Straße, als er von dem Lager Poros herkam, in der Mitte standen auf Leiterwagen die marschunfähigen Greisinnen und Kleinkinder, daneben schritten zu Fuß die marschfähigen Frauen und Mädchen und der ganze Zug wurde auf beiden Seiten flankiert von tschechischen Soldaten mit aufgepflanzten Bajonetten. Von Brüx bewegte sich der Zug über Kopitz, Obergeorgenthal und durch das Marienthal in das Erzgebirge nach Gebirgsneudorf, von dort in die erste sächsische Grenzstation Deutschneudorf, wo er den Russen übergeben werden sollte. In Deutschneudorf lagen die Frauen und Kinder mehrere Wochen auf der Straße und lebten von Bettelei in den Häusern. Als die Russen den Transport zuletzt nicht übernahmen, mußten ihn die Tschechen nach mehreren Wochen unverrichteter Dinge nach Brüx zurückbringen. Das ist der Zug der tausend Brüxer Frauen nach Deutschneudorf.


Enteignung und Arbeitseinsatz.

Zu den kleinen alltäglichen Kränkungen und Mißhandlungen kamen die großen organisierten Beraubungs- und Enteignungsaktionen. Die Enteignungen begannen bei den Wertgegenständen, Gold, Silber, Ringe, Uhren, Bargeld, Sparkassenbücher und endeten bei den Stellungen, Berufen, Geschäften, Häusern, Fabriken. Zuerst und am schwersten wurden davon die Intelligenzberufe betroffen: Rechtsanwälte, Professoren, Lehrer, Beamte, Angestellte verloren über Nacht ihre Stellungen und wurden Handarbeiter. Laut öffentlicher Kundmachung mußten sich die stellungslos gewordenen Intelligenzberufe beim Arbeitsamt melden, wo sie zu schwerer Arbeit im Hydrierwerk oder Bergbau eingesetzt wurden, was gewöhnlich mit dem Verlust der Wohnung und Einlieferung in ein Lager verbunden war. Um dem Zwangseinsatz und dem Arbeitslager zu entgehen, strömten die Deutschen von selbst zu den Großbetrieben, welche ihnen einen gewissen Schutz gegen Terror und Raub boten, und es setzte eine Massenflucht der deutschen Intelligenz in das Hydrierwerk und den Bergbau ein. Die Sudetenländischen Treibstoffwerke (Hydrierwerk Maltheuern) waren sofort enteignet worden, in russischen Staatsbesitz übergegangen und hatten den Namen Stalin-Werke erhalten. Nachdem die ersten Direktoren geflohen waren, übernahmen einige leitende deutsche Ingenieure unter russischer Kontrolle die kommissarische Verwaltung. Diese leitenden deutschen Ingenieure hatten lange Zeit eine bevorzugte Sonderstellung, genossen Sonderrechte wie Tschechen und erhielten Tschechenkarten. Durch die russische Besatzungsmacht hatten sie eine starke Stellung den tschechischen Behörden gegenüber und konnten ihren deutschen Arbeitern und Angestellten einen kräftigen Schutz bieten. Erst als das Hydrierwerk von Stalin dem tschechischen Staat geschenkt wurde, verloren diese deutschen Ingenieure ihre leitenden Stellungen und Sonderrechte und wurden in das Lager 27 eingeliefert, wo ich mit einigen von ihnen zusammentraf. Der Sudetenländische Bergbaukonzern war ebenfalls sofort enteignet worden, in tschechischen Staatsbesitz übergegangen und hatte eine tschechische kommissarische Verwaltung erhalten; Generaldirektor Nathow und Direktor Matuschka waren nicht geflohen und wurden in die Brüxer Kaserne eingeliefert, wo sie später erschossen wurden. Auch die Brüxer Fabriken, Stahlwerk, Elektrizitätswerk, Brauerei wurden enteignet und erhielten tschechische kommisarische Verwalter. Aber auch die tschechischen kommissarischen Verwalter des Bergbaues und der Industrie nahmen gern deutsche Arbeitskräfte, weil die Deutschen billige und fleißige Arbeiter waren, während die Tschechen nur kommandieren und nicht arbeiten wollten. Ähnlich wie der Intelligenz erging es den Frauen, welche sich ebenfalls beim Arbeitsamt melden mußten und gewöhnlich in der Landwirtschaft eingesetzt wurden. Deshalb suchten die deutschen Frauen lieber freiwillige Arbeitsverhältnisse, wo sie nicht so schlecht behandelt wurden. Zum großen Teil kamen sie in dem Meierhof Sarras unter, welcher damals noch unter der kommissarischen Verwaltung seines früheren deutschen Pächters Bertsche stand. Dieser unterstützte die deutschen Frauen nach Kräften und deckte auch Scheinarbeitsverhältnisse. Die entscheidende Rolle bei den Enteignungen spielten die erwähnten kommissarischen Verwalter. Wie ein Heuschreckenschwarm brachen die Tschechen aus dem Protektorat herein und stürzten sich auf die deutschen Geschäfte. Jeder Tscheche suchte sich ein deutsches Geschäft, meldete es dem Národní výbor und bekam das deutsche Geschäft; der deutsche Inhaber wurde in das Straflager gesperrt und in Zwangsarbeit gesteckt. Ich habe einige solche Beispiele erlebt. Mein Nachbar Bittner, Inhaber der Drogerie Nittner & Bittner auf dem I. Platz, wurde durch den Národní výbor aus seinem Geschäft vertrieben und starb im Lager 28. Die Inhaber der Glückauf-Drogerie in der Weitengasse wurden ebenfalls aus ihrem Geschäft vertrieben, den alten Herrn traf ich später im Lager Striemitz, seinen Schwiegersohn im Lager 28.

Unter diesen kommissarischen Verwaltern gab es zwei Sorten, die einen schützten die Deutschen, damit diese für sie die Arbeit machten, weil sie selbst nichts davon verstanden und dadurch von ihnen abhängig waren. Die anderen hatten nur das Bestreben, den deutschen Besitzer in das Konzentrationslager zu bringen, damit sein Besitz rechtlos wurde und in ihr Eigentum überging. Auch die tschechische Intelligenz beteiligte sich an diesem Raubzug gegen die Deutschen und selbst Ärzte, Rechtsanwälte und sogar Priester schämten sich nicht, ihre deutschen Berufs- und Amtskollegen zu vertreiben und sich in das fremde Eigentum zu setzen. Uns Ärzten wurde von den Tschechen immer gesagt, daß sie Ärzte brauchten, aber das galt nur, solange sie keinen Ersatz hatten. Wenn ein tschechischer Arzt kam, suchte er sich eine deutsche Praxis aus, nahm sie in Besitz und der deutsche Arzt mußte binnen einer halben Stunde mit dreißig Kilogramm Gepäck Haus und Praxis verlassen und wurde evakuiert. Ebenso erging es den deutschen Ingenieuren und Spezialarbeitern, welche sich durch ihre Fachkenntnisse in ihren Stellungen halten konnten, solange die Tschechen keinen Ersatz hatten. Wenn der tschechische Ersatzmann kam, mußte ihn der Deutsche noch einarbeiten und kam zuletzt auch in ein Lager.


Austreibung und Verschleppung

Der Wohnungsraub bildet ebenfalls eines der traurigsten Kapitel der tschechischen Revolution, weil es sich dabei um eine Aktion des tschechischen Volkes selbst handelt. Es begann zunächst harmlos, indem sich Tschechen in die verlassenen Wohnungen von geflüchteten Deutschen setzten. Ich habe mehrfach tschechische Bergarbeiterfamilien in solchen von Deutschen verlassenen Vier- bis Sechszimmerwohnungen getroffen. Aber dann brachen wieder wie ein Heuschreckenschwarm die Tschechen aus dem Protektorat herein und stürzten sich auf die deutschen Wohnungen. Scharenweise gingen sie von Haus zu Haus und suchten sich eine Wohnung aus, die Deutschen waren dagegen wehrlos und mußten ihnen den Zutritt freigeben. Wenn ein Tscheche eine Wohnung gefunden hatte, die ihm zusagte, meldete er sie dem Národní Výbor und dem Wohnungsamt. Solange der Deutsche noch eine Arbeit hatte, ob er als Arzt, Handwerker oder Bergmann arbeitete, genoß er dadurch einen gewissen Schutz, andernfalls mußte er binnen einer halben Stunde seine dreißig Kilogramm Gepäck packen und kam in ein Arbeitslager. Die Deutschen mußten also außer ihrer Wohnung die ganze Einrichtung, Möbel, Kleider und Wäsche zurücklassen und die Tschechen nahmen die vollständig eingerichtete Wohnung in Besitz. Bis dahin bestand der Wohnungsraub noch aus Einzelakten, aber durch die Evakuierung wurde er zu organisierten Massenaktionen. Die Evakuierungsaktionen wurden in den Monaten Juli/August durchgeführt, sie fanden jede Woche zwei- bis dreimal statt und betrafen jedesmal ganze Straßenzüge und Stadtviertel. Am Vortage der Evakuierung erhielten die Familien den Evakuierungsbescheid von der Evakuierungskommission zugestellt. Am Tage der Evakuierung wurde die ganze Straße oder der Stadtteil mit Militär abgesperrt, dann wurden die Familien mit ihren dreißig Kilogramm Gepäck binnen einer halben Stunde aus ihren Wohnungen auf die Straße getrieben und von schwer bewaffneten tschechischen Soldaten in das Evakuierungslager eskortiert. Ich erhielt Einblick in diese Vorgänge durch die Totenbeschau in den Wohnungen der deutschen Selbstmörder und durch den ärztlichen Dienst im Evakuierungslager. Das Evakuierungslager war im Jahre 1945 das Lager Negerdörfel, ein aufgelassenes Lager der Flackartillerie an der Saazer Straße gegenüber der Kaserne. Das Lager war sehr primitiv eingerichtet, es bestand aus einfachen Holzbaracken mit leeren Holzpritschen ohne Decken und Strohsäcke, dazu waren die Holzpritschen zahlenmäßig unzureichend, sodaß die Menschen auf dem Fußboden liegen mußten. Den ärztlichen Dienst im Evakuierungslager teilten wir deutschen Ärzte von Brüx unter uns auf, sodaß wir abwechselnd zwölf Stunden Dienst machten.

Die Evakuierten blieben nur einige Tage im Lager; während dieser Zeit durften sie es nicht verlassen und wurden von einer Lagerküche notdürftig verpflegt. Gepäck und Geld wurden von dem tschechischen Militär revidiert und größere Bestände abgenommen. Die Evakuierung erfolgte entweder in die Arbeitslager des Kreises Brüx, soweit es sich um arbeitsfähige Männer und alleinstehende Frauen handelte. Wenn sie dagegen Arbeitsunfähige, Greise, Invalide, Pensionisten und Mütter mit Kindern betraf, erfolgte die Evakuierung über die sächsische Grenze nach Deutschland. Mir sind einige traurige Fälle in Erinnerung: Der siebzigjährige pensionierte Chefarzt des Kreiskrankenhauses, Dr. Rubesch, wurde mit Beinlähmung evakuiert und starb kurze Zeit darauf in Deutschland, der siebzigjährige Arzt Dr. Roppert wurde mit Zuckerkrankheit und schwerem Herzblock evakuiert, der achtzigjährige Möbelfabrikant Kohlef wurde nach Schlaganfall im Rollstuhl evakuiert.


Terror und Verhaftung

Nach der militärischen Razzia setzte sich der brutale Terror in der Verhaftungswelle fort, welche Angehörige der nationalsozialistischen Partei und ihrer Gliederungen sowie Inhaber guter Geschäfte und stattlicher Häuser betraf. Die Verhafteten wurden in der Kriminalpolizei, in der Kaserne, im Kreisgericht, im Lager Striemitz und in den Lagern 27 und 28 eingesperrt. Unter den Gefangenen spielten sich furchtbare Szenen ab. Von Augenzeugen wurde mir wiederholt berichtet, daß im Kreisgericht die deutschen Gefangenen in Zweierreihen einander gegenübergestellt wurden und sich gegenseitig ohrfeigen mußten, wobei tschechische Aufseher darüber wachten, daß keiner zu schwach schlug. Auf dem I. Platz sah ich mehrfach, wie deutsche Gefangene bei den Arbeiten am Löschteich von tschechischen Aufsehern wahllos geohrfeigt, geprügelt und mit Füßen getreten wurden. Als ich einmal zu einem Unfall in die Kriminalpolizei gerufen wurde, fand ich in einer Zelle vier Männer, die Gesichter kalkweiß und mit tiefen, blauen Augenringen, sodaß sie aussahen wie Masken und ich zuerst an einen Fastnachtsscherz glauben wollte, bis ich nach dem Ausziehen auf der nackten Haut die blutigen Striemen sah. Einen von ihnen mußte ich mit Harnröhrenzerreissung in das Krankenhaus einliefern, wo er nach wenigen Tagen an Urinphlegmone starb.

Soweit waren mir die Tatsachen bekannt, als mich das Schicksal selbst ereilte. Ich hatte damals viel mit dem Chefarzt der tschechischen Sozialversicherungsanstalt, Dr. Kumpost, zu tun, mit welchem ich von der ersten tschechoslowakischen Republik persönlich gut bekannt war, es hätte diesem Herrn nur ein Wort gekostet, um mich vor der drohenden Gefahr zu warnen, aber er unterließ dieses Wort und ließ mich in mein Unglück rennen.

Die Tschechen begnügten sich nicht mit der Terroraktion in Aussig, sondern führten sie im ganzen Sudetengau durch. In Brüx begannen sie damit am 1. August. Ich war damals am Nachmittag gerade unterwegs auf Krankenbesuch, als sie in meine Wohnung eindrangen und eine Hausdurchsuchung vornahmen. Da sie mich nicht zuhause fanden, zwangen sie meine Frau, sie zu mir zu führen, und so fanden sie mich in der Wohnung eines jungen Ehepaares in der Bahnhofstraße, wo die junge Frau mit akutem fieberhaften Gelenkrheumatismus zu Bette lag. Dort verhafteten sie mich vom Krankenbett weg, an dem ich gerade saß, und mit mir den jungen Ehemann, einen Zahntechniker. Dann wurde ich mit meiner Frau nebeneinander auf die oberste Treppenstufe gestellt, wobei wir unter Androhung von Prügel kein Wort und keinen Blick wechseln durften, sondern wie zwei Wachsfiguren nebeneinander stehen mußten Damals sah ich meine Frau zum letzten Mal, erst 1½ Jahre später fand ich sie in Deutschland wieder. Aber wir wurden ohne ein Wort des Abschieds auseinandergerissen, darauf wurde ich mit dem jungen Zahntechniker zu zweit durch die Bahnhofstraße getrieben, wobei es fortwährend Fußtritte auf die Fersen, Kniestöße in das Gesäß und Faustschläge in das Genick gab. Die uns begegnenden Tschechen lachten höhnisch, obwohl wir beide Rot-Kreuz-Binden auf dem linken Arm trugen. Meine Verhaftung führte der kommunistische Parteisekretär Mazanek persönlich durch. Als er uns in das Wachlokal der Kriminalpolizei einlieferte, übergab er uns nicht den dort befindlichen Polizisten, sondern führte die ganze Szene persönlich durch, sodaß die Polizisten nichts zu sagen hatten und nacheinander den Raum verließen. Wir standen nebeneinander, der kleine Zahntechniker und ich, und es hagelte ununterbrochen Schläge auf den Kopf und in das Gesicht. Es war unglaublich, wie hart er schlagen konnte, die Schläge waren wie von Holz, nicht von Fleisch. Dazu schrie er immer wieder: "Das geb ich dir dafür, was du den Bergarbeitern getan hast im Kriege." Mir dämmerte ungefähr, daß das eine Verwechslung sein mußte, weil ich mit den Bergarbeitern im Kriege nichts zu tun hatte und ich wagte zu sagen: "Das ist ein Irrtum, das bin nicht ich." Aber es war nur ein neuer Grund zum Schlagen. Der kleine Zahntechniker stürzte zusammen, ich wunderte mich, daß ich noch stand. Dann blutete ich aus den Augen, Nase und Mund und wurde zur Wasserleitung geschleppt, um mir das Blut abzuwaschen. Als darauf unsere Personalien aufgenommen wurden, konnte ich mich nicht an den Namen meiner Tochter erinnern und ich dachte: Um Gottes Willen, wenn mir der Name meines Kindes nicht einfällt, werde ich wieder geprügelt. Schließlich fiel er mir doch ein, aber ich glaube noch heute, daß es eine leichte Gehirnerschütterung gewesen sein muß. Dann mußten wir lange Zeit nebeneinander an der Wand strammstehen, die Nasenspitze an die Mauer gedrückt. Als wir darauf abgeführt wurden, kamen wir an der Masse der deutschen Gefangenen vorüber, welche die ganze Länge und Breite der Tordurchfahrt ausfüllte. Wie ich später erfuhr, waren es über siebzig Männer, die an diesem Tag verhaftet wurden, darunter der siebzigjährige Zahnarzt Dr. Nothnagel, der siebzigjährige Tischlermeister Fischer und der siebzigjährige Baumeister Kny. Als wir in den Vorraum des Gefangenenhauses eingeliefert wurden, fuhr es einem jungen tschechischen Polizisten heraus: "Mein Gott, der Herr Doktor war doch noch am Nachmittag hier." Wir mußten Messer, Hosenträger, Krawatten und Schuhsenkel abgeben und wurden in eine Zelle gesperrt. Die ganze Nacht ging das so fort, aus dem Vorraum hörten wir die kreischende Stimme des kommunistischen Parteisekretärs, die klatschenden Schläge und die Schreie der Getroffenen, dann wurde wieder die Zellentür aufgeschlossen und blutüberströmt taumelte ein Neuer zwischen uns hinein. Schließlich waren wir dreiundzwanzig Mann in der engen Zelle, wie Heringe geschlichtet, stehend, hockend, kauernd, dazwischen kreiste der Kübel für die Notdurft. Die meisten von uns glaubten, daß wir am nächsten Morgen erschossen werden sollten. So verging die Nacht in stumpfer Ergebung. Am nächsten Morgen wurden wir hinausgerufen und erhielten unsere abgegebenen Sachen zurück. Aber wir wurden nicht erschossen, sondern drei Stunden weit zu Fuß nach dem Dorf Maltheuern getrieben, wo wir in das berüchtigte Lager 28 eingeliefert wurden.

Die Aktionen des zivilen Terrors endeten in den Arbeitslagern des Kreises Brüx. Diese Arbeitslager waren nicht nur die Lager 27 und 28, sondern die Lager 17/18 und 31/32 bei Maltheuern, die Lager Rössel und 37 bei Brüx, die Lager 22/25 bei Niedergeorgenthal und 33/34 bei Rosenthal. Diese Lager waren sämtlich Hydrierwerklager, dazu kamen noch die Bergbaulager, welche mir aber nicht einzeln bekannt sind, insgesamt gab es im Kreis Brüx über dreißig Lager. Und es waren nicht nur Brüxer, Saazer und Komotauer, sondern Aussiger, Bodenbacher, Biliner, Duxer, Kaadener, Weiperter, Karlsbader, Marienbader, Deutsche aus dem halben Sudetengau und dazu noch Reichsdeutsche und Ungarndeutsche, welche in diese Arbeitslager getrieben wurden. Der zivile Terror übertraf die militärische Razzia noch bei weitem, was die Anzahl der Lager und die Masse der Menschen betrifft, aber Ziel und Schauplatz der Aktion blieben unverändert.

Das Brüx-Duxer-Kohlenbecken, welches eine entscheidende Wirtschaftsmacht darstellte und immer wieder zum Ziel und Schauplatz sozialer Wanderungen und nationaler Kämpfe wurde, besteht aus einem mächtigen Braunkohlenflöz in 100 bis 400 Meter Tiefe und bildet das Zentrum des nordböhmischen Braunkohlenreviers, welches über 50 Tiefbau- und Tagbaugruben mit 25.000 Bergarbeitern trägt und sich mit seinen Ausläufern auf der einen Seite von Brüx nach Komotau, auf der anderen Seite von Dux über Teplitz bis gegen Aussig erstreckt. Als im Zuge der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts der Kohlenbergbau aufkam, setzte durch den gewaltigen Menschenbedarf im Bergbaurevier die tschechische Einwanderung ein, wodurch die Kreise Brüx und Dux bis zur Hälfte tschechisch wurden. Als Deutschland zu Beginn des zweiten Weltkrieges das Hydrierwerk Maltheuern erbaute und dieses große Bauvorhaben noch einmal zusätzliche 35.000 Menschen erforderte, wurden von Deutschland Fremdarbeiter und Kriegsgefangene eingesetzt und zu ihrer Unterbringung Arbeitslager errichtet; so kamen Holländer, Franzosen, Italiener, Kroaten, Bulgaren, Polen, Ukrainer, Russen in die Arbeitslager des Kreises Brüx. Mit dem Ende des zweiten Weltkrieges verschwanden die Fremdarbeiter wieder und nun wurden von den Tschechen die Deutschen eingesetzt; so kamen die Deutschen in die Arbeitslager des Kreises Brüx und wurden Hilfsarbeiter im Hydrierwerk und im Brüxer Bergbaukonzern. Dieser Arbeitseinsatz der Deutschen in der Schwerindustie des Brüxer Kohlenbeckens bildete das erste Hauptstück des zivilen Terrors. Die sogenannten Nationaltschechen in Industrie und Bergbau wollten sich mit dem Arbeitseinsatz zufriedengeben und waren gegen eine Evakuierung der Sudetendeutschen, diese sollten vielmehr als Hilfsarbeiter im Lande bleiben, weil sie zur Aufrechterhaltung der Industrie unentbehrlich seien. Die Kehrseite des Arbeitseinsatzes bildete die Deklassierung, Expropriation und Proletarisierung der Deutschen. Indem Rechtsanwälte, Professoren, Lehrer, Geschäftsleute, Handwerker, Landwirte, Angestellte zu Hilfsarbeitern und Taglöhnern in der Schwerindustrie wurden, wurden die Deutschen von ihren selbständigen und Intelligenzberufen zu Hilfsarbeitern degradiert. Und indem die Deutschen ihrer Geschäfte, Häuser, Fabriken, ihrer Spargelder, Taschenuhren und Fingerringe beraubt und enteignet u. zw. nicht in Zeltlagern, aber in Barackenlagern untergebracht wurden, wurden sie durch diesen Diebstahl und Raub ihrer Heime zu heimatlosen Zigeunern und Lumpenproletariern gemacht. Für die bestohlenen und beraubten Deutschen setzten sich zugewanderte Tschechen als kommissarische Verwalter in den Besitz der selbständigen und Intelligenzberufe, der Geschäfte, Häuser, Fabriken, der Wohnungen, Möbel, Kleider, während die Bargelder, Taschenuhren und Fingerringe dem tschechischen Staat abgeliefert werden sollten, aber gleichfalls in den Taschen der tschechischen Patrioten verschwanden.


Das Konzentrationslager
Tábor 28

Das tschechische Konzentrationslager 28 bei Maltheuern wurde Anfang Juni 1945 durch zwei Transporte mit fünfhundert Brüxern von der Razzia am 2. 6., durch zwei Transporte mit achthundert Saazern von der Razzia am 3. 6. und durch einen Transport mit zweihundert Komotauern von der Razzia am 9. 6. eröffnet, während das Gros der Komotauer in das gegenüberliegende Lager 27 kam. In den Monaten August bis Oktober gingen davon vier Invalidentransporte mit zusammen vierhundert Mann ab, welche mit Autobussen über die sächsische Grenze nach Deutschland evakuiert wurden. Dafür kamen in den Monaten August und September siebzig Brüxer von der Verhaftungswelle am 1. 8., siebzig Aussiger aus dem Lager Lerchenfeld, zweihundert Karlsbader und zweihundert volksdeutsche SS-Männer aus Ungarn dazu. Durch diese Zu- und Abgänge hielt sich der Stand die ganze Zeit zwischen fünfhundert und dreizehnhundert Mann. Es war ein großes Barackenlager, das ringsum von einem hohen Stacheldrahtzaun umschlossen wurde und in zwei symmetrische Hälften mit je einer zentralen Wasch- und Abortanlage unterteilt war, welche wir das obere und das untere Dorf nannten. Jedes Dorf bestand aus der gleichen Anzahl Holzbaracken, jede Baracke enthielt zahlreiche Stuben und jede Stube war mit zweistöckigen Holzpritschen vollgestopft, durchschnittlich faßte jede Stube über dreißig Mann. In der ersten Zeit gab es im unteren Dorf noch ein riesiges Plachenzelt, welches über zweihundert Mann faßte und in seiner Anlage einem Zirkus ähnlich sah, später aber abgetragen wurde.

Grauenhaft waren die Untaten der tschechischen Machthaber an den deutschen Gefangenen. Im Monat Juli wurden fünfzehn Kranke mit Lungentuberkulose, welche zu einem Invalidentransport zusammengestellt waren, von einem russischen Militärkordon unter dem Befehl eines Offiziers erschossen, wofür als Begründung Verhütung einer Epidemie angegeben wurde. Im Monat August wurde vor der angetretenen Belegschaft des ganzen Lagers ein Sträfling von einem tschechischen Militärkordon erschossen, weil er im Hydrierwerk angeblich aus einem Treibriemen ein Stück herausgeschnitten hatte, um sich daraus Schuhsohlen zu machen, was als Sabotage ausgelegt wurde. Kadle Vlasak schoß seinem Hofnarren in den Kopf, als er ihm zum Spaß den Zylinderhut vom Kopf schießen wollte und als der Erschossene bereits im Sarg lag, gab er ihm noch zwei Schüsse in das Herz, weil er nicht ganz tot war.

Am furchtbarsten und demütigendsten waren die ständigen Prügel. Die Prügel fingen schon bei der Einlieferung ins Lager an. Es wurde den Eingelieferten zuerst alles abgenommen, darauf wurden sie glatt rasiert, geschoren und geprügelt und dann mußten sie stundenlang in der prallen Sonnenglut an einer gegenüberliegenden Mauerwand stramm stehen, welche wir deshalb die Klagemauer nannten. Prügel gab es mit der Faust, der Peitsche und mit dem Gummikabel. Prügel gab es bei Tag und bei Nacht, keine Nacht war Ruhe, jede Nacht kam es zu Prügel, Geschrei, Peitschen- und Schüsseknallen. Nachts drangen Tschechen von auswärts in das Lager ein, die Gefangenen wurden von ihren Pritschen geholt und bis zur Bewußtlosigkeit geprügelt. Dann wurde den Bewußtlosen Salzwasser in die Augen geschüttet und die Schnurrbarthaare und Augenwimpern mit brennenden Streichhölzern angezündet, bis sie wieder zu sich kamen, und dann wurden sie weiter geprügelt, bis die Peiniger vor Erschöpfung nicht mehr konnten oder die Gequälten mit dem letzten Stöhner verendeten. Die Prügelorgien bestanden aus einem raffinierten Foltersystem. Die Gefangenen wurden zuerst mit Ohrfeigen, Faustschlägen und Gummikabel in das Gesicht, auf den Kopf und den Körper geschlagen und mit Fußtritten und Kniestößen in den Bauch, den Hoden und gegen die Schienbeine getreten, bis sie zusarnmenbrachen, dann stiegen die entmenschten Tschechen auf die liegenden Körper und traten und sprangen mit den Stiefeln darauf herum. Ein besonderer Sport bestand darin, daß die Männer den Kopf in die Hundehütte stecken mußten und von rückwärts auf das nackte Gesäß geprügelt wurden. Unvergeßlich bleibt mir die Szene, wie halbnackte Menschen im Staube kriechen und Gras raufen mußten, indessen der tschechische Sklavenhalter in ihrer Mitte mit der Peitsche über die nackten Leiber knallte. Zu den Prügeln kam der Hunger und die schwere Arbeit. In der ersten Zeit hatten die Gefangenen nicht einmal Wasser und Brot, sondern Wassersuppe und schwarzen Kaffee, also buchstäblich nur warmes Wasser. Im Lager gab es drei Mahlzeiten, früh vor dem Ausrücken schwarzen Kaffee, abends nach dem Einrücken Wassersuppe und vor dem Schlafengehen noch einmal schwarzen Kaffee. Später erhielten die Gefangenen, welche im Hydrierwerk arbeiteten, dort zu Mittag eine Kartoffelsuppe und ein Stück Brot und dieses Mittagessen erschien den verhungerten Sträflingen so begehrenswert, daß sie sich trotz der Erschöpfung allgemein zu der Arbeit im Werk drängten. Die Gefangenen standen in den Stalinwerken (Hydrierwerk) in Arbeit. Sie hatten ein Tagewerk von achtzehn Stunden und sechs Stunden Schlaf; früh um 4 Uhr Tagwache, dann erfolgte der Abmarsch in zwei Partien um fünf und sechs Uhr, die Arbeitszeit betrug zwölf Stunden, zwei Stunden erforderte der An- und Abmarsch, die Rückkehr erfolgte wieder in zwei Partien um sieben und acht Uhr. Täglich wälzte sich die Marschkolonne der fünftausend 27- und 28er nach Maltheuern und zurück, voraus die 28er, glatt geschoren und glatt rasiert, elende ausgemergelte Gesichter und Gestalten, mit klappernden Holzlatschen und Fetzen am Leib, Sommer wie Winter ohne Mantel und Mütze, auf der Brust die Sträflingsnummer, auf dem Rücken ein großes weißes Hakenkreuz und KT 28. Aber mit dem Einrücken war das Tagewerk nicht erledigt, dann mußten die Gefangenen noch im unteren Dorf antreten, exerzieren, in Marschkolonne marschieren und dazu deutsche Lieder singen: Freier Wildbretschütz, Westerwald, Blaue Husaren. An der Spitze der Kolonne marschierte der Hofnarr mit einem alten Zylinderhut und ein anderer mit einer alten preußischen Pickelhaube auf dem Kopf. Der Tygr kommandierte, Antreten, Abtreten, Marsch, Halt, Schub-Schub, plötzlich fing er an zu brüllen und knallte Revolverschüsse unter die Füße und über die Köpfe, daß die Masse Menschen mit den klappernden Holzlatschen irr hin- und herhetzte. So kamen die Gefangenen um zehn Uhr nachts zum Schlafen, ihr Leben bestand aus Prügel, Hunger und Arbeit, Arbeit, Hunger und Prügel. Kadle Vlasak war der velitel (Lagerkommandant). Der Vorname Karel wird im tschechischen Dialekt Kadle gesprochen, nach seinem Lieblingswort hieß er auch Schub-Schub, er selbst nannte sich mit Vorliebe Tygr (Tiger), bei den Sträflingen hieß er die Bestie von 28. Es war ein schauerlicher Anblick, wenn er mit dem Revolver in der einen und der neunschwänzigen Nagaika in der anderen Hand durch das Lager tobte. Sein Lieblingssport war es, jeden Sträfling mit einer Ohrfeige umzulegen. Dazu hatte er eine besondere Technik, indem er nach der Ohrfeige mit dem ganzen Arm nachschob, sodaß der strammstehende Häftling die schmale Standfläche verlor und stürzte. Wer das erfaßt hatte, kam mit einer Ohrfeige davon, aber wer das mißverstand, sich zusammenriß und Haltung bewahren wollte, dem ging es schlecht. Dann wurde der Tygr bös und trat dem Sträfling mit dem Knie und Stiefelabsatz in den Bauch und die Hoden, bis er am Boden lag. Und dann fühlte er sich stolz wie ein Boxer im Ring und die herumstehenden Tschechen johlten und klatschten ihm Beifall. Das war Kadle, die Bestie von 28.

Anfang Oktober wurde das Militär von der Lagerwache abgelöst und durch Gendarmerie (SNB) ersetzt. Die jungen Gendarmen waren anständiger und die Prügel im Lager ließen nach. Kadle Vlasak wurde verhaftet und in das Kreisgericht nach Brüx eingeliefert, aber nicht wegen seiner Untaten an den deutschen Gefangenen, sondern wegen Veruntreuung von Geld und Wertgegenständen, welche er den Gefangenen abgenommen, aber nicht abgeliefert hatte. Es kam ein neuer Lagerkommandant, namens Rezac, welcher nur nach außen den wilden Mann markierte, im Grunde aber anständig war. Leider waren seine Helfershelfer nicht anständig, der Schleicher Rames und der Schlächter Kulisek. Der Stacheldrahtzaun um das Lager wurde verdoppelt und in einem aufgelassenen Luftschutzkeller wurde ein unterirdischer Bunker eingerichtet, in welchem die Sträflinge wegen jeder Kleinigkeit eingesperrt wurden, wobei sie tagsüber im Hydrierwerk arbeiten und die Nacht bei jeder Kälte und ohne jedes Essen in dem unterirdischen Bunker zubringen mußten. Oft drangen Wachmannschaften in den Betonkeller ein, vollführten unter den Gefangenen Prügelorgien und schossen in den engen Kellerräumen herum. Im Januar 1946 wurde der Sträfling Kramár erfroren darin aufgefunden, nachdem er die Nacht in Ketten geschlossen dort zugebracht hatte. Die Arbeitszeit blieb die gleiche, zwölf Stunden Arbeit und zwei Stunden An- und Abmarsch, aber wenigstens hörte das Exerzieren auf und die Gefangenen bekamen ihre Nachtruhe. Die Verpflegung besserte sich durch die Zulage von Brot und Kartoffeln. Jetzt gab es früh vor dem Ausrücken im Lager schwarzen Kaffee, Mittag im Werk Kartoffelsuppe und Brot, abend nach dem Einrücken im Lager Suppe, Kartoffel und Brot und später vor dem Schlafengehen noch einmal schwarzen Kaffee. Eine steigende Anzahl der Gefangenen bekam die Schwerstarbeiterkarte T4, welche reichliche Zulagen von Brot, Wurst, Speck, Schmalz, Zucker, Marmelade enthielt, also eine kalorisch und qualitativ hochwertige Nahrung darstellte. Unter dem Schutz der frühen Dunkelheit begann das Flüchten. Im Herbst und Winter fehlten bei dem Appell nach dem Einrücken jede Woche, manchmal sogar jeden Tag mehrere Gefangene, manchmal gingen ganze Gruppen auf einmal ab, einmal zogen sogar ganze einundzwanzig Männer geschlossen los und die Fama erzählte, daß sie eine Fahne mitgenommen hätten. Zur Abschreckung streuten die Tschechen aus, daß die Flüchtlinge an der Grenze erschossen werden. Aber das war Propaganda, wenn Flüchtlinge an der Grenze aufgegriffen wurden, wurden sie nur halbtot geprügelt und in Dunkelzellen gesperrt. Als Repressalie sperrten die Tschechen die Wäsche- und Lebensmittelpakete und die Besuche der Familienangehörigen, welche jeden Sonntag und Donnerstag Nachmittag zugelassen waren. Wenn die Besuche gestattet waren, trafen sich die Väter, Mütter, Brüder und Schwestern in dem großen Eßsaal und die erwachsenen Menschen stürzten aufeinander zu und fielen sich in die Arme und lachten und weinten wie Kinder. Wenn die Besuche eingestellt waren, wurden die Frauen mit Gewehrkolben von dem Lagertor weggetrieben, aber trotzdem standen sie jeden Sonntag und Donnerstag nachmittag wieder da, nachdem sie stundenlang angereist und anmarschiert waren und warteten bei jedem Wind und Wetter am Tor.

Im Monat Oktober wurden die Invalidentransporte eingestellt, der letzte Transport wurde im Lager zurückgehalten und erst im Jänner/Feber 1946 gruppenweise in die Heimatgemeinden entlassen, wo die Gefangenen mit den regulären Transporten evakuiert wurden. Ab Januar 1946 besserte sich die Verpflegung weiter, von 1300 Gefangenen erhielten 1100 die Schwerstarbeiterkarten T4, der Ernährungs- und Gesundheitszustand im Lager besserte sich und die Sträflinge erholten sich sichtlich. Für die Entlassenen wurden in den Monaten Jänner/Feber 1946 viele Neuaufnahmen aus Brüx und Bilin eingeliefert, welche durch eine Verhaftungswelle gegen SA-Männer aufgebracht wurden. Bis zum letzten Tag der Auflösung des Lagers wurden die Neuaufnahmen in der Kanzlei ausgeraubt, in der Kammer über die Bank gelegt und mit dem Gummikabel auf das nackte Gesäß geprügelt. Da ich die Neuaufnahmen sowie die Entlassenen untersuchen mußte und dabei von dem tschechischen Werkarzt Dr. Pivota kontrolliert wurde, benützte ich die Gelegenheit und stellte ihm einige Fälle vor. Er griff die Angelegenheit auf und sagte mir: "Ich bin ein guter Tscheche aber ich mache keine Schweinereien." Zur Rache wurde von dem tschechischen Kommandanten der Zahnarzt Dr. Gmel geohrfeigt und in den Bunker gesperrt, da sie mir nicht beikommen konnten. Als kurz darauf in der Nacht, mit aufgegriffenen Flüchtlingen, welche in fast sterbendem Zustand eingeliefert wurden, tschechische Werkschutzmänner in das Lager eindrangen, wurde ich von diesen bei der ersten Hilfeleistung geohrfeigt, mit Füßen getreten und mit dem Revolver bedroht, weil ich gesagt hatte, daß die Männer geprügelt wurden. Ich meldete auch diesen Vorfall dem tschechischen Werkarzt und erlebte die Genugtuung, daß die gemeldeten Fälle mit zum Anlaß genommen wurden, um das Lager 28 Ende März 1946 aufzulösen und die Gefangenen in das Lager 27 zu überführen.


Das Krankenrevier

Das Krankenrevier heißt marotka. Die Marotka des Lagers 28 begann ebenfalls im Juni 1945 mit den beiden Ärzten Dr. Gabler und Dr. Pörner, welche bei der Razzia in Saaz am 3. 6. verhaftet wurden. Die sanitären Zustände waren in der ersten Zeit erschütternd, es fehlte an der primitivsten ärztlichen Einrichtung, die beiden Ärzte hatten buchstäblich nichts als ein rostiges Skalpell und eine rostige Pinzette zur Verfügung. Auch von tschechischer Seite fehlte zuerst jede Voraussetzung einer ärztlichen Arbeit, in der ersten Zeit sollte kein Kranker anerkannt werden, die tschechische Weisung lautete dahin: Wer nicht arbeiten kann, soll erschossen werden. Unter diesen Umständen gab es ein Sterben am laufenden Band, die Erschossenen, Erschlagenen, Verhungerten, Gestorbenen wollten kein Ende nehmen. In der ersten Zeit hatten wir allein in der Marotka jede Woche vier bis fünf Tote. Unvergeßlich bleiben mir die rohen, ungehobelten Holzkisten, in die wir die Leichen legten und der elende Krümperwagen, der jede Woche zwei- bis dreimal aus Oberleutensdorf kam, um die Leichen abzuholen.

Da vollbrachte Dr. Gabler die Großtat seines Lebens, unvergeßlich wird mir sein Wort bleiben, das er uns immer wieder einprägte: Wir müssen rücksichtslos mit allem brechen, was bisher gewesen ist und müssen ganz von vorn und mit nichts anfangen, wie wenn wir nach Alaska oder dem Kongo verschlagen wären. Er kämpfte um jeden einzelnen Kranken und da er den Tygr nehmen konnte, indem er ihn wie ein Tierbändiger behandelte, setzte er sich durch und erreichte die Anerkennung der Kranken. Im Verein mit Dr. Pörner trug er aus eigenen Beständen in Saaz und Brüx und aus Werkbeständen in Maltheuern und Rauschengrund Stück für Stück, alles einzelweise zusammen und baute die Marotka auf. Zuletzt hatten wir eine Station für kleine Chirurgie, eine interne Station mit Labor, Krankenpfleger, Krankengeschichten, Diät, Bad, Entlausung.

Wir standen mit unserem Können vor dem Nichts. Die Krankheiten waren uns zuerst völlig fremd und unbekannt. Sie waren so auffallend und traten so massenhaft auf, daß wir sie "Lagerkrankheiten" nannten. Diese Lagerkrankheiten waren Diarrhoe, Oedem, Phlegmone, sodaß wir von einer Trias der Lagerkrankheiten sprachen. Die Durchfälle waren erschreckend verbreitet und führten zu den meisten Todesfällen. Die schwersten Krankheitsbilder boten einen erschreckenden Anblick: die Kranken bis zum Skelett abgemagert, die papierdünne Haut in Falten stehend, die Körper in verkrümmten, verkrampften Zwangshaltungen, die Gesichter in verzerrten, grinsenden Grimassen, die Hände in irren, beschwörenden Bewegungen. Da ich in der Ambulanz einen Zusammenhang mit der Lagersuppe fand, wurde ich in meiner Überzeugung bestärkt, daß es sich um eine Dyspepsie handelte. Ich übernahm daher das Krankenzimmer mit den Durchfällen und führte radikale Fasttage und reichliche Gaben von Kaffeekohle ein, die wir uns selbst aus Kaffeersatz bereiteten, welchen wir zu dem Zweck aus der Küche erbettelten. Noch mehr verbreitet waren die Oedeme, die Wassersucht bildete die Grundlage für alle übrigen Krankheiten. Das Krankheitsbild der Wassersucht war dem des Durchfalls gerade entgegengesetzt, in den schweren Fällen waren die Kranken wie unförmige Wasserpontons aufgetrieben, Gesichter wie Vollmonde leuchtend, Bäuche wie Wassersäcke geschwollen, Hodensäcke wie Fischblasen aufgetrieben und glänzend, Geschlechtsglieder wie Schweineschwänzchen geringelt, Arme und Beine wie Gießkannen geschwollen. Diese Krankheit war uns vollkommen fremd und unbekannt und führte zu den schwersten Meinungsverschiedenheiten, ob es sich um Herz-, Nieren- oder Stoffwechseloedeme handelte. Therapeutisch kamen wir bald auf Bettruhe und Trockenkost, welche wir dadurch erreichten, daß wir die Wassersuppe und den schwarzen Kaffee strichen und nur Brot und Kartoffel gaben. Unter dieser Behandlung wurden die Oedeme rasch ausgeschwemmt und wir erlebten manchmal Wasserausscheidungen von zwanzig bis fünfundzwanzig Liter und Gewichtsstürze von zwanzig bis fünfundzwanzig Kilogramm binnen einer Woche. Aber die Oedeme traten wieder auf und es kam zu wiederholten Rückfällen, zweimal, dreimal, fünfmal erkrankte derselbe Kranke an Wassersucht. Ich vertrat daher den Standpunkt, daß es sich um Hungeroedeme handelt und daß unsere Trockenkost nicht ausreicht, sondern durch eine Zusatzkost ergänzt werden muß. Auch Todesfälle hatten wir durch das Hungeroedem, welches wir allerdings erst nachträglich erkannten, weil es unter den verschiedensten anderen Krankheiten und unklaren Krankheitsbildern auftrat. Unsere ärztliche Erkenntnis und Behandlung wurde durch unsere gefährliche Stellung erschwert, denn trotz aller besseren Behandlung blieben wir doch Sträflinge. Die Phlegmonen wurden zuerst operiert und bei ihrer großen flächenmäßigen Ausdehnung war der chirurgischen Schneid keine Grenze gesetzt. Aber die Erfolge dieser Behandlung wurden immer zweifelhafter, die Operationswunden heilten schlecht oder garnicht und bereits verheilte Wunden brachen wieder auf, weil die Wassersucht hinzukam. Später gingen die Diarrhoe, Oedem, Phlegmone zurück und es traten Komplikationen in den Vordergrund, Lungentuberkulose, Herzinsuffizienz, Nierenentzündung, Blutarmut. Im Monat Oktober traf uns ein schwerer Schlag, als Dr. Gabler in den Bunker gesperrt wurde, weil er zuviel Kranke aufgenommen und unvorsichtige Bemerkungen gemacht hatte, und anschliessend in das Lager 27 transferiert wurde. Nach ihm war in den Monaten Oktober bis Dezember Dr. Pörner leitender Arzt. Unter dem Eindruck des Unglücksfalles, welcher Dr. Gabler getroffen hatte, steuerte er einen anderen Kurs und stellte die Verbindung mit dem tschechischen Werkarzt Dr. Pivota her, wodurch wir mehr Bewegungsfreiheit gegenüber den tschechischen Lagerkommandanten gewannen. Als er im Januar 1946 auf freien Fuß gesetzt und in das Lager 22 überstellt wurde, wurde ich in den Monaten Januar bis März 1946 leitender Arzt. Nach dem Beispiel Dr. Pörners hielt ich die Verbindung mit Dr. Pivota aufrecht und fand über ihn den Weg zu dem tschechischen Chefarzt der Stalinwerke, Dr. Fajkus. Auf diese Weise erhielt ich die Bewilligung, die Schwerstarbeiterkarte T4 der Gefangenen, welche in die Marotka eingeliefert wurden, nach meinem ärztlichen Ermessen unter die Kranken zu verteilen und so hatte ich endlich die Zusatzkost, um die Oedeme und Phlegmone zu behandeln. Es war eine Freude, den Erfolg dieser Behandlung mit Vollkost zu sehen, die schlaffe geschwollene Haut wurde straff und glatt, die Eiterungen und Entzündungen verschwanden und die Wunden verheilten. In den letzten Monaten verschwanden auch die Lagerkrankheiten im Lager und ich konnte den Zusammenhang dieses Rückganges der Lagerkrankheiten mit der Besserung der Verpflegung statistisch nachweisen.



 

Bericht Nr. 18

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Mord an Vater und Bruder
Berichterin: Anni Wagner, 14 Jahre alt
Bericht vom 3. 12. 1946 (Abschrift eines Briefes) (Marienbad-Brüx)

Lage von BrüxHof, 3.12. 1946
Liebes Fräulein Helga!

Habe Ihre Adresse in den Papieren meines Bruders gefunden. Muß Ihnen die traurige Nachricht bringen, daß mein Bruder und Vater, die noch einmal heimgingen, am 30. September von den Tschechen nach Brüx geschafft wurden. Dort lebten sie noch 8 Tage. Dann sind sie direkt erschlagen worden. Meine Mutter, die schwer krank war, erlag einem Herzschlag. Nun stehe ich ganz allein da. Bin nun in Hof und gehe in das Austauschlager, damit ich in die russische Zone zu meiner Tante kann. Ich bin ja erst 14 Jahre alt. Mein lieber Bruder erzählte oft von Ihnen. Er hatte Sie sehr gern. Er sprach sehr oft von Ihnen und machte Pläne.

Nun leben Sie wohl, alles Gute für die Zukunft, Ihre traurige

Anni Wagner.

Die Nachricht brachte uns ein Tscheche, der drüben ausgerissen ist aus Brüx. Er konnte es nicht mehr mit ansehen, was dort vorging.


Erklärung: Das Original dieses Briefes befindet sich im Besitze unseres Landsmannes Erich Stangl. Der ermordete Wolfgang Wagner aus Marienbad war der Verlobte der Tochter von Erich Stangl.


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Dokumente zur Austreibung der Sudetendeutschen
Überlebende kommen zu Wort