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[Bd. 6 S. 335]

12. Kapitel: Genf und Lausanne: Abrüstung und Tribute.

Die zweite Etappe der Abrüstungskonferenz füllte die Zeit vom 11. April [1932] bis zum Ende dieses Monats aus. In diesen Wochen gerieten die Auffassungen Italiens, Amerikas, Rußlands und Deutschlands in einen kritischen Gegensatz zu derjenigen Frankreichs. Jetzt nämlich trat man ein in die Beratung der prinzipiellen Fragen der Abrüstung, die sich auf fünf Gebiete erstreckten: die Rüstungsherabsetzung als solche, die Entscheidung, wie diese Herabsetzung in bezug auf Mannschaft und Material durchzuführen sei, dann die qualitative Rüstungsverminderung in bezug auf Verbot oder Einschränkung gewisser Waffengattungen, viertens die französische Sicherheitsthese, die ja Ausbau von Artikel 16 der Völkerbundssatzung, die Organisation einer internationalen Streitmacht und die Internationalisierung der Zivilluftfahrt forderte, und schließlich die deutsche Forderung der Gleichberechtigung, welche die Rüstungsbestimmungen der Friedensverträge als Maßstab für die allgemeine Abrüstung anerkannt wissen wollte. Jedes einzelne dieser Probleme war mit ungeheurer Spannung geladen, die sich aus dem gleichsam polaren Gegensatz Deutschlands zu Frankreich ergab. Denn für Deutschland gipfelte ja der ganze Sinn dieser Abrüstungskonferenz darin, daß es als gleichberechtigte Macht mit den anderen Staaten anerkannt wurde. Was Deutschland verboten worden war, dürfte den andern nicht erlaubt sein. Deutschland mußte also in Genf dahin kommen, daß durch das abzuschließende allgemeine Abrüstungsabkommen die Abrüstungsbestimmungen des Versailler Vertrages entweder außer Kraft gesetzt oder auf sämtliche Staaten ausgedehnt wurden.

  Streit um Abrüstung  

Bevor die Konferenzteilnehmer sich wieder versammelt hatten, hatte die italienische Regierung dem Präsidium eine Denkschrift überreichen lassen, worin noch einmal Grandis Abrüstungsvorschläge zusammengefaßt waren. Darin wurde die Zerstörung der gesamten schweren Artillerie (über 100 mm), [336] der Tanks und Panzerautos, der Linienschiffe (über 10 000 t), der Tauchboote, Flugzeugmutterschiffe, Militärluftschiffe und Bombenflugzeuge gefordert. Ferner sollte die Verwendung von chemischen Waffen, insbesondere auch von Gift- und Tränengasen, verboten sein. Und schließlich sollte die Zivilluftfahrt einer öffentlichen Kontrolle unterstellt werden.

Gleich in der ersten Sitzung, am 11. April 1932, legte der amerikanische Botschafter Gibson einen neuen Abrüstungsvorschlag seiner Regierung vor, der sich in manchen Punkten mit dem italienischen Vorschlag deckte. Danach sollten die Hauptangriffswaffen, schwere Artillerie, Tanks und chemische Waffen, abgeschafft werden. Die Staaten sollten sich verpflichten, diese Waffen im Kriegsfalle nicht zu benutzen. Gibson begründete seinen Vorschlag sehr geschickt mit dem Hinweis auf das Problem der Sicherheit. Die beste Lösung der Sicherheitsthese sei durch die völlige Abschaffung der schweren Angriffswaffen zu erzielen. Hierin liege auch der erste entscheidende Schritt für die allgemeine Abrüstung. Man müßte den Defensivwaffen und Festungen die Überlegenheit über die Angriffswaffen geben.

Die amerikanische Formulierung: "Sicherheit ist gleichbedeutend mit Abschaffung der schweren Angriffswaffen" sollte zur Entkräftung der französischen Sicherheitseinwendungen dienen. So kam es, daß der deutsche Botschafter Nadolny sich auf die Seite des Amerikaners stellte, der Franzose Tardieu aber Widerspruch erhob. Nadolny erklärte, daß ein befriedigendes Ergebnis der Konferenz zwar niemals in einer Abgrenzung, sondern nur in einer entscheidenden Herabsetzung der Rüstungen erblickt werden könne. Das sei auch der eindeutige Sinn des Artikels 8 des Völkerbundspaktes. Deutschland stimme vollkommen mit dem amerikanischen und italienischen Vorschlage überein, in der Voraussetzung, daß der amerikanische Vorschlag nur einen ersten Schritt zur allgemeinen Abrüstung bedeute. Wenn er aber das einzige Ergebnis der Konferenz sein würde, so dürfte die Welt mit Recht über eine derartige Lösung unzufrieden sein. Deutschland verlange mehr als lediglich die Abschaffung der Angriffswaffen: es verlange seine Gleichberechtigung!

[337] Tardieu protestierte sofort, indem er die Kontroll- und Sanktionsmaßnahmen vermißte, und begründete in einer Rede des folgenden Tages die unbedingte Notwendigkeit der Kontroll- und Sanktionsforderung. Hauptaufgabe der Konferenz könne nicht die Abschaffung der Waffen, sondern nur die Organisation des Friedens sein. Und dann wiederholte Tardieu die französische Forderung, eine internationale Waffenmacht zum Kampfe gegen den Angreifer zu schaffen.

Aber da trat sogleich der Russe Litwinow mit seinen Forderungen hervor, der eine wesentliche Herabsetzung der Heeresstärken und die völlige Abschaffung aller schweren Angriffswaffen verlangte. Die bereits nach den internationalen Verträgen entwaffneten Staaten sollen von der Herabsetzung der Rüstungen unberührt bleiben, der Grundsatz der Rechtsgleichheit für alle Staaten solle verkündet werden; er müsse zu einem vollständigen Verzicht auf alle militärischen Bündnisse und Militärabkommen führen.

Und dann verteidigte Grandi sehr energisch die italienischen, amerikanischen und russischen Vorschläge und entgegnete Tardieu, wenn die Abrüstungskonferenz von vornherein vom bösen Willen ausgehe, so breche damit das gesamte Gebäude der Sicherheit, des Friedens und des Vertrauens von selbst zusammen, auf dem nicht nur die internationale Zusammenarbeit, sondern auch die Gemeinschaft der Völker beruhe.

Italienischer Außenminister Grandi spricht vor der Abrüstungskonferenz in Genf.
[Bd. 6 S. 225b]    Italienischer Außenminister Grandi spricht vor der Abrüstungskonferenz in Genf.
[Photo Scherl?]

Frankreichs Aussichten waren um die Mitte des April nicht sehr hoffnungsvoll. Nun trafen auch noch der amerikanische Staatssekretär des Auswärtigen, Stimson, und der deutsche Reichskanzler Brüning in Genf ein, um in die Verhandlungen einzugreifen. Allerdings tauchte jetzt ein günstiges Moment für Frankreich auf, denn Stimson gab eine Presseerklärung ab, wonach Amerika nur in die Flottenabrüstungsfrage eingreifen wolle, dagegen die Landabrüstungsfrage abwartender Weise lediglich als Beobachter verfolge und ihre eigentliche Lösung den europäischen Staaten überlassen wolle. Damit schien zunächst einmal der amerikanische Druck von Frankreich genommen zu sein.

Als jedoch die Abrüstungskonferenz am 18. April ihre erste [338] praktische Entschließung faßte, da stellte sich doch heraus, daß Amerika keineswegs und unbedingt hinter Frankreich stand. Die Entschließung hatte den Wortlaut:

      "Der Hauptausschuß der Abrüstungskonferenz vertritt die Auffassung, daß die Herabsetzung der Rüstungen, so wie sie im Artikel 8 des Völkerbundspaktes vorgesehen ist, fortschreitend durch aufeinanderfolgende Revisionen in geeigneten Zwischenräumen durchgeführt ist, nachdem die Konferenz den ersten entscheidenden Abschnitt einer allgemeinen Herabsetzung der Rüstungen auf das mindestmögliche Maß verwirklicht hat."

  Frankreichs Widerstand  

Natürlich war auch diese beschlossene Abrüstung in Abschnitten eine rein theoretische und durchaus ungenügende Sache, und den Vertretern Deutschlands und Italiens ging allmählich die Geduld aus. Sie ließen schon durchblicken, daß sie aus dem Völkerbund austreten würden, wenn keine Einigung über die Abrüstung erzielt werden könne. Indessen versuchte Frankreich wacker auch weiterhin die Konferenz zu sabotieren. Die französische Regierung übermittelte eine Denkschrift, welche die internationale Kontrolle der Verkehrsluftfahrt forderte und verlangte, daß die Verwendung von Luftschiffen keineswegs mehr den Staaten überlassen sein sollte, sondern allein durch den Völkerbund erfolgen dürfe!

Doch die zähen und unverdrossenen Widerstände Deutschlands und Italiens führten allmählich zu einer fühlbaren Isolierung Frankreichs. Immer wieder erhob Nadolny die erste Mindestforderung Deutschlands: Abschaffung der schweren Angriffswaffen. Frankreich war in die Defensive gedrängt, und seine Forderung: Internationalisierung der schweren Angriffswaffen hatte schon gegenüber der deutsch-italienisch-russischen Forderung des Verbots stark an Kraft eingebüßt. Der englische Außenminister Sir John Simons brachte schließlich einen Antrag ein, worin Verbot oder Beschränkung gewisser Waffenarten gefordert wurde. Aber der Widerstand der Franzosen gegen die qualitative Rüstungsbeschränkung war allzu heftig, so daß Simons seinen eigenen Antrag abschwächte, indem er den französischen Wünschen entgegenkam. Der Engländer spielte eine unglückselige Vermittlungsrolle, wenn er erklärte, die Abschaffung gewisser Waffengat- [339] tungen schalte keineswegs die Möglichkeit einer Internationalisierung von Streitkräften aus; so sprach er sich ja indirekt zugunsten des französischen Vorschlages aus, der die Schaffung einer Völkerbundsarmee in Erwägung zog. Immerhin bezeichnete Simons, wie auch Grandi und Nadolny, die Abrüstungsbestimmungen des Versailler Vertrages als vorbildlich für die allgemeine Abrüstung, wodurch sie die Gleichberechtigung Deutschlands grundsätzlich anerkannten.

Die Verhandlungen wurden immer verwickelter, da das Problem der Abschaffung der Angriffswaffen und der Herabsetzung der Rüstungen immer neue Variationen erfuhr. Der Amerikaner Stimson griff das Prinzip des englischen Kompromisses auf und entwickelte von sich aus einen neuen Vorschlag. Danach sollten in Zukunft die Staaten nur über Armeen verfügen dürfen, die, entsprechend dem deutschen Beispiel, der Verteidigung der Grenzen und der Ordnung im Innern dienen. Frankreich würde danach ein Heer von 380 000 Mann behalten. Sämtliche Mächte sollten auf der Abrüstungskonferenz den Stand ihrer gegenwärtigen Rüstungen prüfen und begründen, jedoch dürfen künftig die Sicherheitslage eines jeden Landes und die geographischen Bedingungen lediglich unter dem Gesichtspunkt der Verteidigung und der Aufrechterhaltung der inneren Ordnung für den Rüstungsstand maßgebend sein.

Dieser Vorschlag fand den Beifall der Mehrheit. Aber Frankreich wehrte sich hartnäckig und verzweifelt. Es schickte jetzt den Rumänen Titulescu vor, der verlangte, für jede Waffengattung zu bestimmen, welches Angriffswaffen seien und welches die beste Methode zur Abschaffung oder Beschränkung dieser Waffen sei. Hinter diesem Antrag standen außerdem Bolivien, Chile, Kolumbien, Kuba, Guatemala, Venezuela, Paraguay, Uruguay, Südslawien, Tschechoslowakei, Polen und Persien. Gegen Frankreich aber standen die Vereinigten Staaten, England, Deutschland, Italien und Rußland. Voll Unmut empfand man in Paris, daß man geraden Weges in die Isolierung hineinsteuerte. Stimson, Macdonald, Brüning, Grandi und Litwinow setzten Tardieu heftig zu.

Jedoch auf der Abrüstungskonferenz wechselten die Stim- [340] mungen wie das Aprilwetter. Waren Frankreichs Pläne am 21. April so gut wie erledigt, so kam ihnen England am 22. April, nach einem Frühstück Macdonalds und Tardieus, wieder weitgehend entgegen. Der englische Außenminister Simons gab seinem Vorschlag jetzt die endgültige Formulierung: Die Abrüstungskonferenz nimmt den Grundsatz der qualitativen Abrüstung an, d. h. der Besitz oder Gebrauch bestimmter Rüstungskategorien wird entweder für alle Staaten verboten oder diese Waffen werden durch ein internationales Abkommen internationalisiert.

Diese englische Formulierung hob das bisher vorgesehene absolute und uneingeschränkte Verbot aller Angriffswaffen auf und ließ als gleichberechtigte Maßnahme die von Frankreich geforderte Internationalisierung der schweren Angriffswaffen zu. Auf diese Weise, meinte Simons, wäre die Möglichkeit gegeben, auch die französischen Vorschläge durchzuberaten. Die Delegierten, auch der deutsche Vertreter Nadolny, stimmten dem Kompromiß zu. Nadolny erklärte aber, die qualitative Abrüstung werde nicht durch Internationalisierung, sondern durch Vernichtung der schweren Angriffswaffen erreicht. Nur der sowjetrussische Außenminister Litwinow widersprach dem Kompromiß, dessen wahren Charakter er einen Vertagungsbeschluß nannte. –

Der starke kontinentale Gegensatz in Genf: Frankreich gegen Deutschland, Italien und Rußland und die unklare Haltung Englands hatte eine Atmosphäre der Disharmonie und des Mißtrauens geschaffen. Frankreich hatte verzweifelt um die Anerkennung seiner Internationalisierungsthese gekämpft und war jetzt froh, wenigstens den Kompromiß vom 22. April errungen zu haben. Man stand wieder einmal vor dem Entschluß, die Konferenz zu unterbrechen bis Mitte Mai, wenn die französischen Wahlen vorüber waren. Alle Welt sah jetzt ganz deutlich, daß die schwerste Aufgabe der Konferenz darin bestehen würde, den Gegensatz zwischen deutscher Gleichberechtigung und französischer Sicherheit zu überwinden; trotzdem Frankreich bereits stark isoliert war, hielten die deutschen Vertreter für eine günstige Lösung der Aufgabe es für nötig, sie erst in Angriff zu nehmen, wenn Frankreichs innerpolitische [341] Entscheidungen gefallen waren. Frankreich hatte erst einmal erreicht, daß die unangenehmen Erörterungen verschoben wurden.

Tardieu reiste nach Paris ab, während Brüning, Stimson und Macdonald am 26. April zu einer Besprechung zusammenkamen. Hier forderte Brüning die Gleichberechtigung Deutschlands in der Abrüstungsfrage, und die beiden andern erkannten an, daß die Frage der Gleichberechtigung eine grundsätzliche Frage des Rechts und der Gerechtigkeit sei. Die Amerikaner, und dann auch die Engländer machten den Erfolg der Konferenz davon abhängig, ob die deutsche und die französische Regierung zu einer Übereinstimmung in den grundsätzlichen Rüstungsfragen gelangten. Nach dem starken nationalen Sieg des 24. April hatte Deutschlands Stimme in Genf ein größeres Gewicht erhalten und Brüning konnte jetzt die Erhöhung der deutschen Reichswehr als deutsche Forderung erheben. Man wurde einig, daß jede Nation ein absolut feststehendes Kontingent erhält, das nach ihren innen- und grenzpolitischen Bedürfnissen errechnet wurde, wobei die Deutschland durch den Versailler Vertrag zustehenden Effektivbestände als Maßstab gelten könnten für das, was ein 64 Millionenvolk brauche. Und hier erklärte nun Brüning mit Entschiedenheit, daß Deutschland im Versailler Vertrag eine zu geringe Truppenstärke erhalten habe, und daß die Reichswehr vergrößert werden müsse. Die Situation hatte sich zu Deutschlands Gunsten verschoben und England und Amerika hofften, daß eine deutsch-französische Übereinkunft, welche den Erfolg der Konferenz sichern sollte, bei einer Aussprache zwischen Brüning und Tardieu, die nach einem Telephongespräch Stimsons mit dem in Paris weilenden Tardieu für den 29. April angesetzt war, erzielt werde.

  Ausweichen Tardieus  

Aber Tardieu wußte wohl, daß seine Stellung in Genf sich verschlechtert hatte. Seine stolze Siegeszuversicht hatte in den letzten Wochen doch einen harten Stoß erlitten, und jetzt kam es ihm nur noch darauf an, sich noch eine Zeitlang zu behaupten. Deswegen ging er jeder weiteren Auseinandersetzung aus dem Wege, ehe die französischen Wahlen stattgefunden hatten. So reiste er nicht nach Genf, indem er vorgab, daß sein altes [342] Kehlkopfleiden sich verschlimmert habe. Die Engländer und Amerikaner waren sehr verstimmt über diese politische Krankheit Tardieus, aber sie konnten nicht verhindern, daß die Abrüstungskonferenz wieder einmal für drei Wochen auf dem toten Punkt angekommen war. Inzwischen zerbrachen sich die technischen Ausschüsse die Köpfe darüber, welche Waffen als Angriffswaffen zu betrachten seien; denn dies galt es vor allem erst einmal festzustellen, weil Frankreich das wollte.

Als die zweite Periode der Abrüstungskonferenz Ende April abgeschlossen wurde, war Frankreichs Stellung gewiß stark erschüttert. In zwei Punkten hatte man die französischen Forderungen zurückgewiesen: man hatte der Internationalisierung der schweren Angriffswaffen, wie sie für Frankreich nur in Frage kam, ihre völlige Abschaffung als gleichberechtigt zur Seite gestellt und man hielt nach der Norm der deutschen Abrüstung in Versailles die Abrüstung der anderen Staaten für möglich und nötig. Als nun gar Tardieu der Einladung Stimsons nicht folgte, drohte die Isolierung Frankreichs vollkommen zu werden. Macdonald, der über Tardieus Fernbleiben sehr enttäuscht und unmutig war, rückte jetzt auch von seinem bisher vermittelnden Standpunkte ab und trat mit Entschlossenheit auf die Seite der Gegner Frankreichs. Vor seiner Rückreise nach London erklärte er in einer Rede:

      "Die Abrüstung kann nur auf Grund einer internationalen Vereinbarung erreicht werden. Das gilt für die Land- und für die Seerüstungen, wo wir noch nicht einig geworden sind. England sieht nicht ein, weshalb es den Leitsatz, 'die Sicherheit kann nur erreicht werden, wenn die Völker abgerüstet haben', aufgeben sollte. Es ist an einer Polizeimacht des Völkerbundes nicht interessiert, aber es verlangt die Stärkung der Autorität des Bundes durch Verträge und internationale Vereinbarungen. Friede und gleiche Vorteile der Rechte: das ist die englische Forderung."

Am 29. April wurde die Konferenz auf vierzehn Tage ausgesetzt.

  Öffentliche Meinung  
über Genf

Infolge dieser Ereignisse war die öffentliche Meinung der abrüstungsfreundlichen Völker nicht sehr hoffnungsfroh. Die konservative Londoner Morning Post schrieb Anfang Mai, nach Tardieus Absage seien alle Besprechungen in Genf bisher Luft- [343] gespräche geblieben. Das werde nicht dadurch weniger Wahrheit, daß keiner der Staatsmänner seine Niederlage und Tardieus glänzenden Sieg zugeben wollte. Auch Stimson sei von dieser Psychose der einstigen Kriegsfeldherren, aus jeder Niederlage einen siegreichen Rückzug zu machen, nicht freigeblieben. Alles, was bisher erreicht werden konnte, sei höchstens die Tatsache, daß sowohl Brüning, wie Stimson und Macdonald, ohne es zugeben zu wollen, eingesehen haben, daß die Gegensätze zwischen Deutschland und Frankreich zurzeit unüberbrückbar seien. Sie würden auch unvereinbar bleiben, wenn ein neues französisches Ministerium an das Ruder kommen sollte. – Und damit sollte die englische Zeitung Recht behalten!

Der holländische Courant in Rotterdam meinte, die Verhandlungen würden bestenfalls, wenn sie wieder zustande kämen, sich darauf beschränken, alles Entscheidende auf spätere Zeit zu vertagen. Die soviel gepriesenen persönlichen Ministeraussprachen hätten sich als ein großer Bluff für die den Frieden herbeisehnenden Völker Europas erwiesen. Auch Senator Borah in Amerika äußerte sich recht pessimistisch. Es werde allgemein angenommen, sagte er, daß die Genfer Abrüstung keinen Erfolg haben werde.

In Genf selbst sank von Tag zu Tag die Hoffnung auf den Erfolg. Die englischen und französischen Politiker, die noch dort weilten, bemühten sich, eine Formel zu finden, die Deutschlands Forderung nach Gleichberechtigung befriedigen sollte. Aber die angestrebte Lösung sollte Deutschland lediglich die theoretische, keineswegs die praktische Gleichberechtigung zuerkennen; sie trug der deutschen sachlichen Forderung auf Gleichberechtigung keine Rechnung, sondern sollte endgültig den Zustand der einseitigen Entwaffnung Deutschlands gegenüber den schwergerüsteten deutschen Nachbarstaaten sanktionieren. Daß Deutschland dieser Forderung zustimmen würde, das wagte man selbst in Genf nicht zu glauben. In Frankreich machten sich Bestrebungen geltend, eine Vertagung der Konferenz bis in den November 1932 herbeizuführen. Aber diese Bemühungen scheiterten am Widerstande Deutschlands, Englands, Italiens und Amerikas. Gerade aus Amerika überreichte [344] man gegen Ende Mai dem Präsidenten Henderson ein Schreiben, darin der Wunsch ausgedrückt war, die Konferenz ohne Sommerpause ununterbrochen bis zur Erreichung praktischer Ergebnisse durchzuführen; es müßten vor den amerikanischen Präsidentenwahlen im Herbst 1932 unbedingt praktische Ergebnisse erzielt sein; bei einer vorherigen Unterbrechung bestehe die Gefahr, daß der Kongreß für die amerikanische Abordnung in Genf neue Kredite nicht mehr bewilligen werde.

  Französische Verbissenheit  

Die Vollkonferenz war am 18. Mai in Genf wieder zusammengetreten. Damit war das dritte Stadium erreicht. Jetzt traten die Franzosen mit einer rücksichtslosen Brutalität auf. Hartnäckig sabotierten sie den englisch-amerikanischen Versuch, zu einem allgemeinen Verbot der Angriffswaffen zu gelangen, indem sie gerade die schweren Angriffswaffen als Verteidigungsmittel hinstellten! Schon gleich am ersten Tage kam es zu einem scharfen Zusammenstoß im Luftfahrtausschuß. Die Deutschen hatten beantragt, die militärischen Luftfahrzeuge als Angriffswaffen zu bezeichnen und ihre völlige Abschaffung zu beschließen. Der Belgier Broucquère lehnte diesen Vorschlag scharf ab, er komme als Verhandlungsgrundlage gar nicht in Frage. Der deutsche Vorschlag werfe die Frage der Gleichberechtigung und der Gleichstellung der Rüstungen auf, die im Ausschuß als eine rein politische Frage nicht behandelt werden könne. Sofort erhob sich der französische Luftfahrtminister Dumesnil und erklärte, daß sich die französische Abordnung voll und ganz auf den Standpunkt Broucquères stelle. Die Entwaffungsbestimmungen des Versailler Vertrages seien eine rein politische Frage, die vom Luftfahrtausschuß nicht behandelt werden dürfe!

Der deutsche Vertreter, Ministerialdirektor Brandenburg, verwahrte sich in deutscher Sprache dagegen, daß es sich um eine politische Frage handle. Er verlas sodann die Präambel zum fünften Teil des Versailler Vertrages, worin die Entwaffnung Deutschlands als der erste Schritt zur allgemeinen Abrüstung erklärt wird, und betonte, daß der Angriffscharakter der Militärluftschiffahrt deutlich aus der Antwortnote der alliierten und assoziierten Mächte an die deutsche Regierung vom 16. Juni 1919 hervorgehe, worin die Abschaffung der deutschen [345] Militärluftfahrt damit begründet wurde, daß hierdurch alle kriegerischen Angriffsmöglichkeiten unmöglich gemacht werden sollten. Diesen deutschen Ausführungen traten sogleich die Vertreter Sowjetrußlands, Hollands und Ungarns bei.

Jedoch der Vorsitzende des Luftfahrtausschusses, der Spanier Madariaga, schloß sich der französischen Auffassung an, wie ja denn die neuspanische Republik sich völlig als Trabant der französischen Politik erwies. Bei der Abstimmung ergab es sich dann, daß der deutsche Antrag auf ein völliges Verbot der gesamten militärischen Luftfahrt mit 22 gegen 7 Stimmen abgelehnt wurde. Für den deutschen Antrag hatten auch Österreich, Ungarn, Bulgarien, Sowjetrußland, die Türkei und China gestimmt.

Dieser Vorgang im Luftfahrtausschuß hatte den Deutschen bewiesen, mit welch brutaler Gewissenlosigkeit die französische Machtgruppe die Forderung der deutschen Gleichberechtigung ablehnte. Um so beharrlicher bestanden sie auf der Gleichberechtigung und der Abschaffung der Angriffswaffen.

Nachdem es so Deutschland nicht gelungen war, die Abschaffung der Luftwaffe grundsätzlich zu erreichen, versuchte Frankreich nun im besonderen, den Angriffscharakter bestimmter Flugzeug- und Luftschifftypen lediglich durch das Leergewicht zu bestimmen. Dieser Vorschlag hätte zu Folge haben können, daß alle großen Zivilflugzeuge abgeschafft werden müßten, eine Bestimmung, die in erster Linie wieder Deutschland betroffen hätte. Dagegen aber verlangte Italien, daß auch die Motorenstärke und die Tragflächen als Bestimmungsmerkmale hinzugenommen werden sollten. Hinter der französischen Staatengruppe standen diesmal auch England, Holland und die Vereinigten Staaten, während der italienische Antrag nur von Deutschland und Sowjetrußland unterstützt wurde. Diesmal aber erhielt der französische Antrag nur 18, der italienische jedoch 19 Stimmen.

Die gleiche Verbissenheit legte Frankreich im Heeresausschuß an den Tag. Die Franzosen waren unter keinen Umständen bereit, auf die schweren Angriffswaffen zu verzichten. General Aubert erklärte am 19. Mai im schroffen Widerspruch zu der grundsätzlichen Entschließung des Haupt- [346] ausschusses, daß eine Unterscheidung zwischen Angriffs- und Verteidigungswaffen überhaupt nicht möglich sei. Das Verbot der Angriffswaffen sei zwecklos, da ein zum Angriff übergehender Staat sich niemals an irgendein Waffenverbot halten würde. Das Verbot würde lediglich die Staaten treffen, die heute über die schweren Angriffswaffen verfügten, aber nicht diejenigen Staaten ohne derartige militärische Mittel. Dann führte Aubert sein gewichtigstes Argument vor: Das Verbot der Angriffswaffen würde vor allem die bestehenden Sicherheitsverhältnisse vollständig umstoßen und einen Zustand vollständiger Ungewißheit schaffen. Die französische Regierung werde niemals einer derartigen Regelung zustimmen.

Die Vertreter der anderen Staaten waren von dieser schroffen und hartnäckigen Erklärung außerordentlich peinlich berührt, aber sie waren nicht in der Lage, den Widerstand der französischen Machtgruppe zu brechen. Diese wich jeder Bestimmung der Angriffswaffen und jeder Feststellung der Geschützkaliber mit Angriffscharakter aus und versuchte, fast die gesamte schwere Artillerie nicht als Angriffswaffe, sondern als Verteidigungsmittel zu erklären. Demgegenüber versuchte die deutsche Abordnung gemeinsam mit den übrigen abgerüsteten Staaten, der Türkei und Sowjetrußland, nachdrücklichst entsprechend dem Versailler Vertrag den Angriffscharakter der gesamten schweren Artillerie festzulegen. Doch welcher Staat, der über diese kostbaren kriegerischen Machtmittel verfügte, hatte ein Interesse daran, sich von ihnen zu trennen? So war denn die Vermittlungsrolle einer dritten Staatengruppe, bestehend aus England, Italien, Holland, Schweden und einer Reihe kleinerer Staaten recht matt gespielt. Das Ergebnis der Verhandlungen war denn auch völlige Ergebnislosigkeit, die am 23. Mai in einer Entschließung niedergelegt wurde. Diese besagte nämlich, daß man sich über die Bestimmung der Geschütze, die als Angriffswaffen anzusehen seien, nicht geeinigt habe!

Interessant war nun in dieser Beziehung das Bekenntnis des französischen Vertreters im Marineausschuß: Es sei völlig abwegig, zu behaupten, die Verträge von Versailles und Trianon (Ungarn) hätten Deutschland und Ungarn lediglich Angriffs- [347] waffen nehmen wollen. Im Gegenteil habe man Deutschland auch einen Teil seiner reinen Verteidigungsmittel nehmen wollen, denn jedermann wisse, daß z. B. die Rheinbefestigungen geschleift wurden, die doch ausschließlich nur Verteidigungszwecken dienen konnten. Darauf erhob sich der deutsche Admiral von Freyberg und sagte, er nehme mit Interesse von der Erklärung des französischen Vertreters Kenntnis, daß der Versailler Vertrag Deutschland nicht nur die Angriffsmittel, sondern auch Waffen mit reinem Verteidigungscharakter genommen habe. Durch die beharrliche deutsche Forderung nach Gleichberechtigung und Abschaffung der Angriffswaffen hatte sich der Franzose zu dieser voreiligen Bemerkung hinreißen lassen!

Das einzige, wozu sich die Franzosen verstanden, war eine Einigung im chemischen Ausschuß, wo die Vertreter Deutschlands, Englands, Frankreichs, Spaniens, Rußlands und Japans gemeinsam im Prinzip die vollständige Abschaffung des bakteriologischen und chemischen Krieges beschlossen. –

  Ergebnislosigkeit  
der Ausschüsse

Tag um Tag schleppte sich die Konferenz in ihren Gegensätzen hin, und die ganze Abrüstungsfrage war allmählich auf das Niveau eines wesenlosen Blendwerkes herabgesunken. Im Luftausschuß hatten die Franzosen die Verhandlungen an sich gerissen, und der Schlußbericht, den dieser Ausschuß am 7. Juni gab, war ganz auf die französischen Vorschläge aufgebaut, wonach Militärflugzeuge keine Angriffswaffen seien und somit nicht von den Abrüstungsmaßnahmen erfaßt würden. Hiergegen protestierte sehr scharf der italienische General Piccio, dieser französische Vorschlag führe nicht zur Abrüstung, sondern zur Aufrüstung. Die Vertreter von Deutschland und Sowjetrußland erklärten sich mit Italien solidarisch. Doch wurde bei der Abstimmung dieser franzosenfreundliche Bericht mit 23 gegen 11 Stimmen angenommen, während vier Länder Stimmenthaltung übten. Daraufhin lehnten die Vertreter Deutschlands, Italiens und Sowjetrußlands ihre weitere Mitarbeit am Generalbericht ab. Der Luftfahrtausschuß hatte also seine Arbeiten über die qualitative Abrüstung ebenfalls ergebnislos abgeschlossen.

Auch im Landausschuß ging der Streit hin und her, ohne [348] daß ein Ergebnis erzielt wurde. Anfang Juni hatte der Vertreter Deutschlands, von Weizsäcker, einen Fragebogen vorgelegt, wodurch die Offensivkraft der Festungen und befestigten Plätze ermittelt werden sollte. Es war Deutschlands Bestreben, Festungen als Angriffsmittel zu kennzeichnen und so ihre Abschaffung zu erzwingen, wie man das ja in Versailles mit Deutschland getan hatte. Aber davon wollte Frankreich nichts hören, und zur Verwunderung vieler Delegierter erklärte der englische Vertreter, daß England an diesem Fragenkomplex kein Interesse habe und zur Zurückziehung des deutschen Vorschlages plädiere, zumal kein Mensch wissen könne, ob nicht die Deutschen inzwischen Apparate erfunden hätten, die auch die neuen Festungen zu brechen vermöchten! Das Ergebnis war, daß die Aussprache über den Offensivcharakter der Festungen zurückgestellt wurde.

Anfang Juni legten die drei Kommissionen für Land-, See- und Luftabrüstung der Generalkommission ihre Berichte vor über ihre Ergebnisse, die sie bei der Feststellung der Angriffswaffen gewonnen hatten. Die Ergebnisse waren gänzlich negativ, denn die Kommissionen konnten nur feststellen, daß sie über den Charakter der Angriffswaffen keine Einigung erzielt hätten! –

  Französisch-englische Pläne  

Nun weilte der Engländer Macdonald auf seiner Reise zur Tributkonferenz in Lausanne vom 10.–13. Juni in Paris und versuchte Herriot, den neuen französischen Ministerpräsidenten, zu einem Kompromiß in der Abrüstungsfrage durch ihre Verquickung mit der Tributfrage zu bewegen. Bisher hatten die Franzosen die Lösung der Abrüstungsfrage von der Lösung der Sicherheitsfrage abhängig gemacht, und daran waren alle Abrüstungsvorschläge gescheitert. Jetzt wollte Macdonald die Lösung der Tributfrage von einer gleichzeitigen Behandlung der Sicherheitsfrage abhängig machen. Man hatte folgenden Plan eines Gesamtergebnisses für die Abrüstungskonferenz: Herabsetzung der Rüstungsausgaben, Verbot der Bombenflugzeuge und der großen Geschütze und Abschluß eines politischen Sicherheitsabkommens. Das war der verzweifelte Versuch Macdonalds, die Abrüstungskonferenz nicht ganz und gar ohne Ergebnis verlaufen zu lassen! Er verfolgte dabei die [349] Absicht, daß, wenn Frankreich ernstlich diesen Vorschlag annehme, es gelingen würde, Deutschland zum Verzicht auf die Gleichberechtigung zu bewegen. Indem man Deutschland in Lausanne entgegenkam, wollte man es zwingen, in Genf auf seine Forderungen zu verzichten. So wollten England und Frankreich auf ihre Weise eine Verbindung zwischen dem Problem der Tribute und dem der Abrüstung herstellen. – Aber es war ein fauler Kompromiß, imstande, die Krankheit zu verlängern, statt zu bannen.

In Genf ging der Streit inzwischen weiter. Der Vertreter Frankreichs erklärte:

Die französische Regierung sei der Ansicht, daß Deutschlands Forderung auf Gleichberechtigung nicht vor die Abrüstungskonferenz gehöre, sondern als eine Teilrevision des Versailler Vertrages eine Angelegenheit der Signatarmächte dieses Vertrages sei. Hiergegen erhob sich der Widerspruch der deutsch-italienisch-russischen Abrüstungsfront. Frankreich versuchte jetzt ein Ablenkungsmanöver. Plötzlich wurde am 14. Juni der Luftfahrtausschuß, der seine Tätigkeit bereits ohne Ergebnis beendet hatte, ebenso wie die andern technischen Ausschüsse zusammengerufen, um über die französischen Vorschläge, die Internationalisierung der Zivilluftfahrt betreffend, zu verhandeln!

Genf war völlig überrascht, und die Delegierten meinten, daß die leitenden Konferenzkreise nach dem völligen Mißerfolg der Verhandlungen auf den großen Gebieten der Abrüstungsfrage nunmehr die Frage der Internationalisierung der Zivilluftfahrt in den Vordergrund rücken wollten, um die hierbei zu erwartenden großen Gegensätze und Schwierigkeiten als einen Vorwand für einen ergebnislosen Verlauf der Abrüstungskonferenz vorzuschieben. –

So erschöpfte sich das Narrenspiel der Abrüstungskonferenz im ewigen, unfruchtbaren Hin und Her. Schließlich wußte man überhaupt nicht mehr, was Angriffs- und Verteidigungswaffen waren, und die unbefangenen Beobachter zogen die Schlußfolgerung, daß die Waffenverbote des Versailler Vertrages völliger Unsinn seien. Das bereitete den Amerikanern großen Ärger. Der amerikanische Botschafter Gibson wies [350] darauf hin, daß die Genfer Verhandlungen einen kritischen Charakter angenommen hätten. Aus einer Konferenz, deren Dauer ursprünglich auf zwei Monate berechnet war, sei eine solche von unabsehbarer Dauer geworden. Man sehe doch ein, daß man mit der bisherigen Weise nicht weiter komme, und daß neue Methoden der Verhandlung gefunden werden müßten!

Aber gerade dies war nicht so einfach. In tagelangen geheimen Besprechungen bemühte sich Gibson, mit Frankreich und England einig zu werden, vor allem in den Fragen der Abrüstungskontrolle, der qualitativen Abrüstung und des Ersatzes der Linienschiffe. Die Stellung des Amerikaners war noch dadurch erschwert, daß die Engländer und Franzosen eine Verknüpfung der Reparations- und Abrüstungsfrage ersonnen hatten, wodurch alle Bemühungen Deutschlands, Rußlands, Italiens und Amerikas illusorisch gemacht wurden. Auf ganz besondere Schwierigkeiten jedoch stieß der amerikanische Vorschlag, das französische Landheer herabzusetzen. Diesen Vorschlag wiederholte Gibson noch einmal am 19. Juni in energischer Form, indem er drohte, daß Amerika bei einem Mißerfolg der Abrüstungskonferenz seine Vertreter von der Lausanner und Genfer Konferenz zurückrufen werde. Nichts fruchtete, Frankreich verblieb hartnäckig bei schärfstem Widerspruch. Dann versuchte England die Hartnäckigkeit des Franzosen Paul Boncour zu erweichen. England verfolgte bei seiner Frankreich gegenüber nachgiebigen Haltung das folgende Ziel: Die Franzosen sollen der Abschaffung der schweren Geschütze, der Bombenflugzeuge, der Gas- und chemischen Waffen zustimmen dafür, daß Deutschland auf sein Recht aus dem Versailler Vertrag verzichtet, gleiche Abrüstung aller zu verlangen. Außerdem soll Deutschland sich politisch binden und auf jede Revision seiner Grenzen von 1920 verzichten. Schließlich soll die Tributfrage dahin gelöst werden, daß Deutschland an Frankreich eine Abschlußzahlung leiste, durch Aushändigung von Reichsbahnbonds, wodurch Frankreich einen weitgehenden Einfluß auf die deutsche Reichsbahn erhalten würde. Es war etwa das, was man in Umrissen in Paris besprochen hatte. Aber all dies genügte nicht den unersättlichen Franzosen. Man kam zu [351] keinem Ergebnis, und Henderson setzte, nachdem man Tag für Tag nutzlos gestritten hatte, am Abend des 21. Juni 1932 den Zusammentritt des Hauptausschusses für Anfang Juli fest.

  Hoovers Vorschlag  

Doch da ereignete sich etwas Unerwartetes. In den Vormittagsstunden des folgenden Tages telephonierte Gibson lange mit dem Präsidenten Hoover, und empfing einen Auftrag, der ihn bewog, sofort Henderson, den Präsidenten des Abrüstungskongresses, um die unverzügliche Einberufung des Hauptausschusses zu bitten. Die Delegierten versammelten sich um vier Uhr und vernahmen bei atemloser Stille von Henderson, daß die amerikanische Regierung eine neue Initiative ergriffen hätte; darauf verlas Gibson die Erklärung Hoovers, die folgenden Wortlaut hatte:

      "Es ist meine größte Hoffnung, daß diese Veröffentlichung eines Abrüstungsprogramms einen Appell an alle Völker darstellt und zu einer vertieften allgemeinen Prüfung des Problems und zu einer öffentlichen Erklärung führen wird, die einen wesentlichen Beitrag für das allgemeine Programm der Abrüstungskonferenz darstellt."

Gibson verliest sodann die Instruktionen, die der Präsident Hoover der amerikanischen Delegation am Mittwoch, dem 22. Juni, 4.30 Uhr früh, übermittelt hat. Diese Instruktionen haben im wesentlichen folgenden Inhalt:

      "Die Stunde hat jetzt geschlagen, um endlich alle Einzelerörterungen zu beenden und ein bestimmtes großzügiges Verfahren für die Verringerung der Rüstungslasten anzunehmen, die heute so schwer auf den Arbeitern aller Völker lasten. Dieses Programm würde der ganzen Welt eine wirtschaftliche Belebung bringen und die Möglichkeit geben, die Furcht und alle die Mißverständnisse zu überwinden, die sich aus den Rüstungen ergeben und die das Vertrauen der Völker ersticken. Dieses Programm würde für eine Periode von 10 Jahren mindestens eine Ersparnis von 10 Milliarden Dollar zur Folge haben.
      Die amerikanische Regierung schlägt folgende fünf Grundsätze vor, die für die weitere Behandlung des Abrüstungsproblems bestimmend sein sollen:
[352]     1. Der Wert des Briand-Kellog-Paktes besteht in der Tatsache, daß die Staaten übereingekommen sind, ihre Waffen lediglich für die nationale Verteidigung zu verwenden.
      2. Es muß zu der Herabsetzung der Rüstungen nicht nur durch die Herabsetzung des Rüstungsstandes, sondern auch durch die Erhöhung der Kräfte der nationalen Verteidigung durch Verminderung der Angriffswaffen geschritten werden.
      3. Die Rüstungen stehen in gegenseitigem Verhältnis zueinander: Es muß daher ein Ausgleich bei der Herabsetzung der Rüstungen angestellt werden.
      4. Die Herabsetzung der Rüstungen muß konkret und vorsichtig sein und muß zu einer wahrhaften wirtschaftlichen Erleichterung führen.
      5. Die Land-, Luft- und Seerüstungen stellen die drei großen zu behandelnden Fragen dar. Sie hängen voneinander gegenseitig ab und können nicht voneinander getrennt werden.
      Ausgehend von diesen Grundsätzen schlägt die amerikanische Regierung eine Herabsetzung sämtlicher Weltrüstungen um ein Drittel vor.
      Auf dem Gebiete der Landrüstungen schlägt die amerikanische Regierung die Annahme des bisherigen der Konferenz bereits eingereichten Vorschlages vor, nach dem eine vollständige Abschaffung der Tanks, der chemischen Kriegswaffen und der schweren beweglichen Artillerie erfolgen soll, ferner die Herabsetzung um ein Drittel sämtlicher Landarmeen, die über den Charakter von Polizeikräften hinausgehen.
      Die Bestimmungen des Vertrages von Versailles und der übrigen Friedensverträge haben bereits die Rüstungen Deutschlands, Österreichs, Ungarns und Bulgariens auf einen Stand heruntergedrückt, der der Aufrechterhaltung der inneren Ordnung in diesen Ländern entspricht. Auf diese Weise ist Deutschland, das eine Bevölkerung von 65 Millionen Menschen umfaßt, eine Armee von 100 000 Mann gelassen worden.
      Die amerikanische Regierung schlägt deshalb vor, daß sämtliche Staaten als Streitkräfte, die den Polizeinotwendigkeiten entsprechen, eine Armee annehmen, die im Verhältnis steht zu den Deutschland und den übrigen Staaten eingeräumten [353] Streitkräften; jedoch finden für die Kolonialmächte gewisse Abänderungen statt, unter Berücksichtigung der Interessen dieser Staaten.
      Auf dem Gebiete der Militärluftfahrt schlägt die amerikanische Regierung die vollständige Abschaffung der Bombenflugzeuge vor. Auf diese Weise würde der Besitz von Flugzeugen, die gegen die Zivilbevölkerung angewandt werden könnten, unmöglich gemacht werden.
      Auf dem Gebiete der Flottenrüstung schlägt die amerikanische Regierung die Herabsetzung der Gesamttonnage der Linienschiffe um ein Drittel, der Tonnage der Flugzeugmutterschiffe, der Kreuzer, der Torpedobootszerstörer um ein Viertel und der Tonnage der Unterseeboote um ein Drittel vor. In keinem Fall soll ein Staat mehr als 35 000 Tonnen Unterseeboote besitzen. Für die fünf Hauptflottenmächte hat der Vertrag von Washington bereits die Grenze für die Linienschiffe und die Flugzeugmutterschiffe festgesetzt. Was die Kreuzer und Torpedobootszerstörer Frankreichs und Italiens betreffe, so werden sie so behandelt, als ob diese Mächte dem Vertrag von Washington beigetreten seien. Die Anwendung dieses Programms würde zu einer außerordentlichen Einschränkung der Ausgaben durch den Neubau von Kriegsschiffen führen.
      Die Vorschläge der amerikanischen Regierung sind einfach und direkt. Sie verlangt die Mitwirkung jeder einzelnen Nation. Nichts würde so die Hoffnung der Menschheit wieder beleben, als die Annahme dieses Programms. Es ist ein Wahnsinn für die Welt, noch weiter in ungeheuren militärischen Ausgaben zu verbluten. Die amerikanische Regierung legt diese Vorschläge, die eine wesentliche Erleichterung für alle Mächte bedeuten können, in dem vollen Gefühl der eigenen Verantwortung vor."

In ernstem, feierlichen Tone hatte Gibson diese Botschaft verlesen, jedes Wort deutlich betonend. Er gab noch einige Erklärungen dazu ab, daß die Regierung der Vereinigten Staaten auf Grund dieses Planes bereit sei, unverzüglich auf 50 000 Tonnen Flottenneubauten zu verzichten, ferner 1000 schwere Geschütze, 900 Tanks und 300 Bombenflugzeuge zu vernichten.

[354] Alle Delegierten erkannten die ungeheure Tragweite dieses Hooverplanes, die sich vor allem auch aus der Rückwirkung auf die Tributkonferenz von Lausanne ergab. Aber von ganz fundamentaler Bedeutung war es, daß Hoover in aller Form die Gleichberechtigung Deutschlands anerkannte, indem er die Entwaffnungsbestimmungen des Versailler Vertrages als Norm bezeichnete!

Der Führer der Deutschen, Nadolny, meinte, die Konferenz könne sich zu dieser neuen Initiative des Präsidenten der Vereinigten Staaten beglückwünschen. Es sei notwendig, die Verteidigung der Staaten zu stärken, aber ihre Angriffsfähigkeit zu mindern. Je stärker die Herabsetzung der Rüstungen sei, desto leichter lasse sich die Gleichheit wieder herstellen, der Grundsatz der Gleichheit bilde eine der entscheidendsten Bedingungen für den Erfolg der Abrüstungskonferenz. Allerdings gingen die deutschen Forderungen noch weit über den amerikanischen Vorschlag hinaus: das Rüstungsverhältnis zwischen den Staaten sollte nicht das gleiche bleiben wie bisher, sondern durch Berücksichtigung der deutschen Forderung nach äußerer Sicherheit abgeändert werden! Er forderte also eine für Deutschland infolge seiner besonderen Lage in Mitteleuropa notwendige besondere militärische Sicherung. Auch in der deutschen Presse, bis weit ins demokratische Lager hinein, wurde als Vorbedingung für ein Einverständnis zum Hoover-Plan die Anerkennung des Grundsatzes der deutschen Gleichberechtigung von allen Mächten in Genf gefordert.

  Stellung der anderen Mächte  
zu Hoovers Vorschlag

Der italienische Außenminister Grandi erklärte, daß seine Regierung uneingeschränkt dem amerikanischen Plane zustimme und ihn bedingungslos und vollständig in allen seinen Teilen annehme. Jetzt sei es so weit, daß sich die Welt entscheide.

Wesentlich zurückhaltender war Simons, der Engländer. Der amerikanische Plan dürfe nicht die im Gange befindlichen Versuche einer direkten Verständigung zwischen den Mächten stören und unterbrechen. Im übrigen wünsche die englische Regierung eine über die amerikanischen Vorschläge hinausgehende Verminderung der Flottenrüstungen, insbesondere völlige Abschaffung der Unterseeboote oder zum wenigsten Fest- [355] setzung einer Höchsttonnage von 250 Tonnen für das Unterseeboot. – Die Engländer sahen die von Macdonald in Paris eingeleiteten Verhandlungen durch den amerikanischen Vorschlag bedroht.

Geradezu ablehnend war selbstverständlich die Haltung der Franzosen. Paul Boncour verlangte, daß der amerikanische Plan von der Abrüstungskonferenz gemeinsam mit dem Vorschlag der französischen Regierung zur Organisation der internationalen Sicherheit behandelt werde. Denn nach der Völkerbundssatzung sei das Problem der Abrüstung unlösbar verknüpft mit der Organisation der internationalen Sicherheit. Die französische Regierung nehme den amerikanischen Vorschlag nur unter dem grundsätzlichen Vorbehalt als Verhandlungsgrundlage an, daß die französischen Sicherheitsvorschläge geprüft würden, wenn man eine Herabsetzung der Rüstungen erreichen wolle. Übrigens habe die französische Regierung bereits die Rüstungen weit stärker herabgesetzt als dies der amerikanische Vorschlag vorsehe! – In Paris mußte die Presse den bestürzten Franzosen erklären, es handle sich bei dem Hoover-Plan nur um eine einseitige Regierungserklärung, welche die übrigen Mächte nicht weiter berühre....

Die Lage in Genf hatte sich Ende Juni dadurch erheblich geändert, als neben die deutsch-italienisch-russische Abrüstungsfront jetzt auch die amerikanische Initiative gegen die französische Strömung sich erhob, die im Mai und Juni vorherrschend gewesen war. Die Amerikaner, die den französischen Ruf nach Sicherheit "hysterisch" nannten, rechneten den Franzosen vor, daß fast die Hälfte der gesamten Staatsausgaben Frankreichs dem Heere zugute kämen. Die Amerikaner wünschten, daß endlich der entscheidende Schritt in der Abrüstungsfrage getan würde, sonst würden sie sich von der Abrüstungskonferenz und allen europäischen Fragen überhaupt, also auch von der leidigen Lösung des Schuldenproblems, das in Lausanne versucht wurde, zurückziehen.

Aber die Franzosen störten sich nicht an diesen Drohungen; mit den Engländern vertagten sie die Verhandlungen des Hauptausschusses auf unbestimmte Zeit und trugen so dazu bei, daß die amerikanische Initiative ohne praktischen Erfolg [356] bleiben sollte. Ja, die ganz unter Frankreichs Einfluß geratene Leitung der Konferenz, die in Hendersons Händen lag, wagte die Amerikaner noch so weit zu brüskieren, daß sie für den 15. Juli eine Unterbrechung der Konferenz auf mehrere Monate plante, ohne daß vorher die amerikanischen Vorschläge durchberaten worden wären. Gibson war aufgebracht hierüber. Er reiste am 28. Juni zu Macdonald in Lausanne und erklärte ihm, die amerikanische Regierung verlange eine baldige durchgreifende Erörterung der amerikanischen Abrüstungsvorschläge.

Zweitens aber wurde die Lage in Genf Ende Juni noch dadurch beeinflußt, daß Papen in Lausanne mit aller Energie politische Fragen zur Sprache brachte, die an den Fundamenten des Versailler Vertrages rüttelten. Seit dem 21. Juni hatte die deutsch-italienische Front, die von Rußland unterstützt wurde, in Amerika einen mächtigen Bundesgenossen erhalten, und etwa 14 Tage später war infolge der Lausanner Gespräche ein neuer Bundesgenosse auf dem Anmarsch: England. Macdonald versprach in Lausanne dem deutschen Reichskanzler, daß sich England in Genf für Deutschlands Gleichberechtigung einsetzen werde, wenn Deutschland das Lausanner Abkommen annehme.

  Englischer Vorschlag  

Inzwischen wies die englische Regierung Anfang Juli den Außenminister Simons in Genf an, dem Kongreß einen neuen Abrüstungsvorschlag vorzulegen, der folgendes verlangte: Abschaffung aller schweren Geschütze mit Ausnahme der unbeweglichen Festungsgeschütze, Abschaffung der Bombenflugzeuge, der Schlachtschiffe über 10 000 Tonnen, der Flugzeugmutterschiffe, der Tauchboote (oder deren Höchstbegrenzung auf 150 Tonnen je Schiff), Herabsetzung des Personals der Luftstreitkräfte um die Hälfte, Herabsetzung der effektiven Stärke der kontinentalen Armee, mit Ausnahme der englischen, die bereits verhältnismäßig bedeutend schwächer sei als diejenige der andern Staaten, Abschaffung der Giftgaswaffen und der schweren Tanks.

Die Engländer behaupteten, daß dieser Vorschlag leichter durchführbar sei als derjenige Hoovers und in den nächsten Jahren eine Ersparnis von 2 Milliarden Pfund Sterling in der [357] ganzen Welt einbringen werde, woran England mit 300 Millionen beteiligt sein würde.

Mit diesem Vorschlag war Amerika nicht einverstanden: er sei auf zu lange Sicht vorgesehen, im Gegensatz zum Hoover-Vorschlag. Diesen aber sehe die amerikanische Regierung als unteilbares Ganzes an und könne keine Einzelheiten der Seeabrüstung mit England besprechen, bevor nicht die europäischen Mächte geneigt seien, einer ungefähr 30prozentigen Landabrüstung zuzustimmen.

Wiewohl die Aussprache im Hauptausschuß der Konferenz am 7. Juli eine Zustimmung der Mehrheit zum Hoover-Plan ergab, kam es doch bei der Formulierung einer Entschließung Mitte Juli zu lebhaften Gegensätzen. Der englische Außenminister Simons versuchte eine vermittelnde Formel zu finden, welche allen Beteiligten gerecht wurde und die bisherigen "Ergebnisse" des Kongresses ins rechte Licht rückte. Damit aber war nicht nur Deutschland, sondern auch Amerika, Italien, Japan und Rußland nicht zufrieden. Insbesondere die Sowjetunion meldete erneut Abrüstungsforderungen an, die sich zum großen Teil mit den amerikanischen deckten.

Dicke Bündel von Petitionen der Internationalen Frauenverbände auf der Abrüstungskonferenz in Genf 1932.
[Bd. 6 S. 320a]      Dicke Bündel von Petitionen der Internationalen Frauenverbände auf der Abrüstungskonferenz in Genf 1932.
[Photo Scherl?]
Gewiß, die Diplomaten in Genf befanden sich in einer fatalen Lage. Die öffentliche Meinung der Völker, seit Monaten in Erregung gehalten, wollte Ergebnisse sehen. Täglich erhielt der Kongreß ungezählte Petitionen und Kundgebungen aus allen Völkern, welche die Abrüstung forderten. Diesen Völkern mußte man doch etwas vorweisen! Wenn es auch bereits ziemlich klar war, daß Frankreich in Genf die Rolle des Fuchses spielte, der den Gänsen predigte.

Und der größte Genfer Erfolg war es für die Franzosen, daß es ihnen gelang, bei der Formulierung des Vertagungsbeschlusses das unbequeme Deutschland auszuschalten und England, Italien, Amerika und Japan auf die Seite Frankreichs zu ziehen. Am 18. und 19. Juli hielten Herriot, Simon und Gibson im Beisein des Tschechen Benesch hinter verschlossenen Türen Besprechungen ab, die zu einer Einigung über die Vertagungsentschließung führten. Darin wurden zunächst die Erfolge der Konferenz erwähnt, die in der Begrenzung der Tonnage der Tanks, im Verbot der Jagdflugzeuge, der chemischen und [358] Brandwaffen, ferner in der Schaffung eines ständigen Kontrollausschusses, der über die Durchführung des künftigen Abrüstungsabkommens wachen soll. Schließlich kam man überein, das am 1. November 1932 ablaufende Rüstungsfeierjahr um vier Monate zu verlängern. Keine Einigung wurde erzielt in der Frage der Beschränkung der effektiven Truppenbestände, weil die Franzosen die amerikanischen Forderungen als unannehmbar bezeichneten, ferner in der Frage der Herabsetzung der schweren Geschütze und in der Flottenfrage. Der Streit über das Verbot des Bombenabwurfes wurde im französischen Sinne geregelt; der Bombenabwurf sollte nur außerhalb der "Schlachtfeldzone" verboten sein. Diese ungenaue Formulierung rührte daher, weil man meinte, eine völlige Abschaffung sei nur möglich bei Einsetzung einer Kontrolle für die zivile Luftfahrt. Von Deutschlands Gleichberechtigung wurde in der Entschließung kein Ton gesagt. Was galten alle heiligen Versprechungen Macdonalds in Lausanne, wenn sein Außenminister Simons in Genf sich zum treuen Vasallen Frankreichs machte? Herriot konnte triumphieren: er hatte die Einheitsfront gegen Deutschland zustande gebracht.

  Streit um die Entschließung  

Natürlich kam es in den großen Sitzungen des Hauptausschusses nun zu schweren Zusammenstößen mit Deutschland, Rußland, Italien. Der deutsche Vertreter Nadolny erklärte, daß die deutsche Mitarbeit in Zukunft in Frage gestellt werde, wenn nicht der deutschen Gleichberechtigungsforderung uneingeschränkte Anerkennung zuteil werde.

      "Die deutsche Regierung hält es nicht für möglich, daß bei dieser Unklarheit über eine Grundfrage des ganzen Abrüstungsproblems ersprießliche Arbeit geleistet werden kann. Sie muß deshalb darauf bestehen, daß diese Zweifel dadurch beseitigt werden, daß die Gleichheit aller Staaten hinsichtlich der nationalen Sicherheit und hinsichtlich der Anwendung aller Bestimmungen der Konvention ohne weiteren Verzug zur Anerkennung gelangt... Die deutsche Regierung muß aber schon heute darauf hinweisen, daß sie ihre weitere Mitarbeit nicht in Aussicht stellen kann, wenn eine befriedigende Klärung dieses für Deutschland entscheidenden Punktes bis zum Wiederbeginn der Arbeiten der Konferenz nicht erreicht werden sollte." –

Die deutsche Re- [359] gierung erinnerte an die Versprechungen von 1919 und an die große Geduld des deutschen Volkes.

Mit keiner Silbe ging Herriot in seiner Rede auf die Forderung dieses deutschen Abrüstungsultimatums ein. Das war ja die beliebte französische Taktik: unangenehme Dinge wurden nicht diskutiert; wohl aber reizte der Franzose Deutschland weiter, indem er die internationale Kontrolle der zivilen Luftfahrt ankündigte und Einbeziehung der "Militärverbände" – Reichskriegerbund Kyffhäuser, Stahlhelm, S.A., Reichsbanner! – in die Zahl der effektiven Truppenbestände forderte. – Der franzosenfreundliche Engländer Simons gab der deutschen Gleichberechtigungsforderung keine Zusage und Zustimmung (trotz Macdonalds Lausanner Versprechungen). Aber er erklärte: die Frage der Gleichberechtigung könne jetzt, am Freitagabend 6.15 Uhr, kurz vor Schluß der Sitzung, nicht mehr entschieden werden. Er habe volles Verständnis für die Wünsche, auf denen die Gleichberechtigungsforderung beruhe. Derartig große Fragen wie die Gleichberechtigung würden am Schluß der Konferenz behandelt werden. Mit Ironie bemerkte Simons, bis zur endgültigen Durchführung der Abrüstung würden voraussichtlich viele Konferenzen vergehen; die jüngeren anwesenden Vertreter auf dieser Konferenz hätten vielleicht Aussicht, den Abschluß dieser Konferenzen noch zu erleben.

  Vertagung der Konferenz  

Am nächsten Tage, dem 23. Juli, wurde der vielumkämpfte Vertagungsbeschluß der Konferenz im Hauptausschuß angenommen. Deutschland und Rußland stimmten dagegen. Ungarn, Österreich, Italien, Bulgarien, Türkei, Albanien, Afghanistan und China enthielten sich der Stimme, 41 Staaten stimmten dafür, viele unter Vorbehalt. Einstimmig wurde die Verlängerung des Rüstungsfeier Jahres um vier Monate, vom 1. November 1932 ab, angenommen.

Nach dem Beschluß sollte die Konferenz sich erst wieder am 21. Januar 1933 versammeln. – Diese Wendung in der Abrüstungsfrage war ein voller Sieg Frankreichs, das trotz mancher harten Bedrängnis während der Konferenz seinen Willen durchgesetzt und Zeit gewonnen hatte. Die Argumente der Geschichte und das Weltgewissen sprachen gegen Frankreich. Hiergegen sich aufzulehnen mit Protesten und Beteuerungen lehnte [360] Frankreich ab, seine neue Methode war viel wirksamer: unangenehme Probleme mit Stillschweigen zu übergehen und im übrigen diese Angelegenheiten dilatorisch zu behandeln.

  Englischer Konsultativpakt  

Eine gewisse Ergänzung der Genfer Verhandlungen bildete der Konsultativpakt, den Macdonald in Lausanne Herriot vorgeschlagen hatte. Er sollte die durch die Abrüstungskonferenz mit großen Spannungen geladene Atmosphäre mildern und über das Trennende die europäische Gemeinsamkeit setzen in der Richtung, daß alle europäischen Angelegenheiten gemeinsam geregelt werden sollten. Einige Tage nach Beendigung der Lausanner Konferenz wurde der Text bekanntgegeben:

      1. In Übereinstimmung mit dem Geiste der Völkerbundssatzung beabsichtigen die beiden Regierungen mit vollständiger Aufrichtigkeit miteinander Ansichten auszutauschen und zu unterrichten, die etwa ähnlichen Ursprungs sind wie die jetzt in Lausanne so glücklich gelösten Fragen und die das europäische Regime berühren. Sie hoffen, daß andere Regierungen sich bei Annahme dieses Vorgehens anschließen werden.
      2. Sie beabsichtigen, miteinander und mit anderen Abordnungen in Genf zusammenzuarbeiten, um eine Lösung der Abrüstungsfrage zu finden, die für alle beteiligten Mächte vorteilhaft und gleichmäßig gerecht sein werde.
      3. Sie wollen miteinander sowie mit anderen interessierten Regierungen in der sorgfältigen und praktischen Vorbereitung für die Weltwirtschaftskonferenz zusammenarbeiten.
      4. Bis zu Verhandlungen zu einem späteren Zeitpunkt über einen Handelsvertrag zwischen diesen Ländern werden sie jede Handlung vermeiden, die ihrer Natur nach eine Diskriminierung von einem Lande gegen die Interessen des anderen Landes darstellt.

Das Abkommen erregte großes Aufsehen. Macdonald aber erklärte den Amerikanern, die es als gegen sich gerichtet betrachteten, ausdrücklich, daß dies nicht der Fall sei. Er lud auch Italien, Belgien und Deutschland zum Beitritt ein. Dieser Konsultativpakt war also so eine Art verjüngtes Locarno. Deutschland zögerte mit dem Beitritt und erklärte ausdrücklich, es werde sich an keinem gegen Amerika gerichteten Ab- [361] kommen beteiligen. In Frankreich erkannte man hierin unmutig den Beginn der Revision von Versailles.

Übrigens hatten die Franzosen den Deutschen bereits vor Lausanne eine Art Treuga Dei vorgeschlagen, die aber abgelehnt wurde. Ebenso lehnte Papen den in Lausanne vorgeschlagenen Konsultativpakt der Franzosen ab, dessen Ziel diplomatische Waffenruhe mit vorläufigem Verzicht auf Revision von Versailles war.

Deutschlands Kampf um die Revision des Versailler Vertrages war seit Beginn des Jahres 1932, seit Eröffnung des Genfer Weltabrüstungskongresses, seinem Höhepunkte entgegengegangen. Es ist eine geschichtliche Tatsache, daß Brüning den Fortgang dieses Kampfes zu seinem Höhepunkte einleitete. Aber so, wie die Dinge in Deutschland unter der demokratischen Diktatur Brünings lagen, war es aussichtslos, daß Brünings Kampf um Deutschlands Gleichberechtigung – das war ja letzten Endes der Sinn der Revision von Versailles – erfolgreich sein konnte. Es lag etwas Gegensätzliches, Widerspruchsvolles darin. Nicht allein, daß es dieselbe Gruppe von Staatsmännern war, der auch Brüning angehörte und die 1919 das Versailler Diktat unterzeichnet hatte und noch im Januar 1930 ausdrücklich die Tribute des Youngplanes anerkannt hatte, und Brüning im Januar 1932 erklärte, man könne diese Tribute nicht ausführen, das Ziel der Reichspolitik sei völlige Streichung der Reparationen, – lag auch darin ein elementarer Widerspruch, daß Brüning um Deutschlands Gleichberechtigung kämpfen wollte, ohne die Freundschaft Frankreichs opfern zu wollen. Frankreich aber war der starre Gegner jeder deutschen Gleichberechtigung. Frankreichs Macht, insbesondere in seiner Vereinsamung, beruhte auf dem Versailler Diktat, und diese Macht opferte Frankreich nicht freiwillig!

  Streit um die Tribute  

Es mußten andre Leute kommen, die nicht beschwert waren von den Lasten der Vergangenheit und die also diesen Kampf um Deutschlands Gleichberechtigung freier führen konnten. Bei allem ehrlichen Willen, den Brüning hatte, besaß er nicht die Kraft, die Aufgabe, die er sich gestellt hatte, auch durch- [362] zuführen. Das sah man an folgendem: Seit Ende 1931 hatte Macdonald den Plan einer endgültigen Tributkonferenz angeregt. Sie sollte ursprünglich schon im Februar 1932 in Lausanne tagen. Den Treibereien Frankreichs aber gelang es immer wieder, die Konferenz hinauszuschieben. Noch an dem Tage, da die Regierung Brüning zurücktrat, machte die französische Regierung in London und Rom einen letzten vergeblichen Versuch, die Lausanner Tributkonferenz, deren Beginn auf den 15. Juni festgesetzt worden war, zu verschieben.

Papen und seine Minister hatten eindeutig versichert, sie wünschten gute Freundschaft mit Frankreich, sie hätten keinerlei Haß- oder Rachegefühle gegen den Nachbar, sie wollten in Frieden mitarbeiten an der Lösung der schweren Probleme, die nicht bloß Deutschland, sondern die ganze Welt angingen. Aber in Paris wies man diese Beteuerungen ab, man sah in dem Nachfolger Brünings den säbelrasselnden Militaristen, jenes gefährliche Element, in dem Frankreich seine dauernde Bedrohung erblickte.

Herriot, der neue französische Ministerpräsident, erklärte am 7. Juni in der Kammer:

      "In der Reparationsfrage kann Frankreich sich die Rechte nicht absprechen lassen, die nicht nur aus den Verträgen hervorgehen, sondern auch in den gegenseitigen Abkommen durch das Gewicht und die Ehre der Unterschriften geschützt sind. In Übereinstimmung mit dem Völkerbundspakt werden wir die Mehrheit nicht nur für uns allein, sondern für alle großen und kleinen Staaten suchen. In diesem allgemeinen Rahmen erklärt die Regierung sich zu allen Lösungen, auch zu Teillösungen, bereit, die nach einer offenen Aussprache in Genf eine Herabsetzung der Militärlasten ermöglichen, ohne die nationale Sicherheit Frankreichs in Frage zu stellen."

Es wurden daraufhin für Herriot 390, gegen ihn nur 152 Stimmen der Rechten abgegeben.

Vom 10. bis 13. Juni weilte Macdonald in Paris. Dieser Besuch des Engländers kündigte eine neue englisch-französische Gemeinsamkeit gegen Deutschland an, in Genf wie in der bevorstehenden Konferenz von Lausanne. Macdonald und Herriot kamen in ihrem dreitägigen Gespräch überein, daß deutsche Reparationen und alliierte Kriegsschulden untrenn- [363] bar zusammengehörten und zusammen behandelt werden müßten, eine Ansicht, die in Amerika allerdings nicht geteilt wurde; dort nämlich sagte man, daß eine Streichung der Reparationen durch die europäischen Regierungen nicht auch die amerikanische Regierung zwinge, die Schulden zu streichen. Diese wenig freundliche Haltung Amerikas gegenüber den europäischen Westmächten war die Folge des anmaßenden Tones, den die Franzosen in Genf nun schon monatelang angeschlagen hatten. Doch waren Macdonald und Herriot trotz alledem darin einig, daß eine allgemeine Schuldenstreichung die beste Lösung sei und der Welt am ehesten aus ihrer Not helfe. Herriot war auch bereit, nicht mehr auf dem Reparationsüberschuß Frankreichs für sich selbst zu bestehen, d. h. nicht mehr die Hälfte seines Reparationsanteils für sich zu behalten und nur die andre Hälfte zur Kriegsschuldentilgung an England und Amerika zu zahlen. Ferner beschlossen die beiden Staatsmänner die vorläufig unbefristete Verlängerung des Hoovermoratoriums, die man wenigstens, wenn alle Stränge rissen, als mageres Ergebnis der Lausanner Konferenz mit nach Hause nehmen wollte. Macdonald und Herriot waren sich dabei ganz klar, daß nach Ablauf des Hoovermoratoriums sowieso kein Pfennig von Deutschland zu bekommen sei. Frankreich wollte diesem de-facto-Zustand eine rechtliche Unterlage geben, damit auf diese Weise die rechtliche Grundlage des Young-Planes nicht erschüttert wurde und ein Fall von Deutschland konstruiert worden wäre, wo der Tributplan durch höhere Gewalt zerrissen worden sei. Die endgültige Entscheidung über die gesamte Reparationsfrage wollte man dann aber sich für eine neue Konferenz aufsparen, die im Oktober in London stattfinden sollte. Allerdings beunruhigte es die beiden Staatsmänner, als sie erfuhren, Mussolini habe der italienischen Delegation die strikte Weisung erteilt, in Lausanne die Streichung der Reparationen zu verlangen und sich auf keine Kompromisse einzulassen.

Nach zuverlässigen Berechnungen hatte Deutschland bis zum 1. Juli 1931 die ungeheure Summe von 67,7 Milliarden Reparationen bezahlt, das waren mehr als 5,5 Milliarde durchschnittlich Jahr für Jahr! Und gerade in den Tagen, da in Lausanne [364] die Tributkonferenz tagte, wurde Deutschlands größtes Reparationswerk, der Moselkanal im ehemals deutschen Lothringen, eröffnet. Innerhalb dreier Jahre, von 1929 bis 1932, hatten 3000 deutsche Arbeiter den 35 Kilometer langen und 12–30 Meter breiten Kanal gebaut, die Lebensader der aus dem lothringischen Boden schießenden jungen französischen Industrie. Eine so gewaltige technische Leistung auch dieser Kanal, der die Wassermassen eines Stromes bändigte, war, so blieb er dennoch ein Denkmal der Demütigung Deutschlands unter ein Joch der Sklaverei, das an antike Barbarei erinnerte: Deutsche Menschenkräfte im Frondienst für den Feind! Denn es blieb stets fraglich, was dieses Werk mit dem Wiederaufbau des im Krieg zerstörten Nordfrankreich zu tun hatte. –

Der Reichskanzler von Papen und seine Mitarbeiter in Lausanne, der Außenminister von Neurath, der Reichsfinanzminister von Schwerin-Krosigk und der Reichswirtschaftsminister Warmbold, waren, im Gegensatz zu den Gläubigerstaaten, sich der Bedeutung von Lausanne bewußt: es mußten Taten geschehen, die Tribute mußten fallen, die Aufgabe der Konferenz könne nur sein, einen endgültigen Auftrieb für Deutschland und damit für Europa zu finden. Allerdings hegten die deutschen Minister einen gewissen Pessimismus. Herbeiführung einer Gesamtgesundung der Weltwirtschaft sei eine unerläßliche Aufgabe geworden, allerdings frage es sich, ob zur Überwindung der Weltwirtschaftskrise die Regelung der Reparationsfrage allein genüge.

So war von vornherein die prinzipielle Gegensätzlichkeit der politischen Energien gegeben, die in Lausanne, wesentlich befreit von pazifistischen und völkerversöhnenden Hemmungen, aufeinanderprallen mußten.

  Konferenz von Lausanne  

Am Nachmittage des 15. Juni ward die Tributkonferenz daher unter beträchtlichen Spannungen eröffnet. 18 Regierungen hatten ihre Vertreter gesandt: Deutschland, England, Frankreich, Italien, Belgien, Japan, Rumänien, Tschechoslowakei, Südslawien, Ungarn, Polen, Griechenland, Portugal, Kanada, Australien, Neuseeland, Südafrika und Bulgarien. Im Saale des altertümlichen Schlosses von Ouchy, das vor der glänzenden Spiegelfläche des Genfer Sees in einem paradiesisch [365] märchenhaften Parke liegt, hatte sich dieser Kongreß von Staatsmännern versammelt. Es schien, als wollten Frankreich und England von vornherein der Konferenz ihre gefährliche Bedeutung und ihre Gefahren nehmen, indem sie das Gerücht verbreiten ließen, im Oktober solle eine Weltkrisenkonferenz in London stattfinden und die Einigung der europäischen Mächte solle in Lausanne vorbereitet werden.

  Reden in Lausanne  

Am nächsten Tage hielt Macdonald, dem man einstimmig den Vorsitz der Konferenz übertragen hatte, die Eröffnungsrede. Er wies auf die Not der Welt hin, die sich schon in der Zahl von 25 Millionen Arbeitslosen zeige. Die Staaten seien verarmt, die sozialen Einrichtungen drohten zu versinken.

      "In diesem allgemeinen Zusammenbruch stehen weder Frankreich, noch Deutschland, noch Italien, noch die Vereinigten Staaten, noch England allein. Eine Welt und ein System bricht unter unseren Füßen zusammen. Ein einzelner kann heute nicht mehr an den Wiederaufbau denken, da eine einzelne Macht nicht mehr in der Lage ist, dem wachsenden Elend standzuhalten. Die jetzt beginnende Konferenz hat einen Teil der Ursachen der Weltnot zu behandeln, und zwar die finanzielle Erbschaft des Weltkrieges in ihrer Rückwirkung auf die Weltwirtschaft."

Macdonald sagte dann, indem er sich auf das Baseler Gutachten berief, feierlich eingegangene Verpflichtungen könnten nicht durch einseitige Verleugnungen beseitigt werden; aber dieses Prinzip werde, wie er überzeugt sei, von niemandem angefochten; diesem Prinzip stehe aber die Notwendigkeit gegenüber, Verpflichtungen, die sich als unerfüllbar erwiesen hätten, durch Übereinkunft zu revidieren. Dann wies der englische Minister darauf hin, daß Europa nichts allein unternehmen könne, sondern dazu auch die Mitarbeit Amerikas brauche. Aber es sei auch nötig, daß die Genfer Abrüstungskonferenz zu einem Ergebnis führe.

      "Ein Erfolg in Lausanne ohne einen Erfolg der Abrüstungsverhandlungen ist undenkbar. Wenn die gegenwärtigen Schwierigkeiten überwunden werden sollen, so muß gleichzeitig eine Periode der politischen Ruhe geschaffen werden, damit die Nationen ihre wirtschaftlichen Angelegenheiten in aller Ruhe ohne drohende Kriegsgefahr in Ordnung bringen können.... Alles hängt [366] jetzt von uns ab. Ich richte an diese Konferenz den dringenden Appell, nichts zu fürchten als Schwachheit und bei den Verhandlungen Vorschläge auszuarbeiten, die in sich eine Hilfe für die Welt bedeuten."

Der Engländer charakterisierte dann die doppelte Aufgabe der Konferenz, welche die Reparationsfrage regeln und eine Verständigung über die Lösungsmethoden der wirtschaftlichen und finanziellen Schwierigkeiten der Weltkrise herbeiführen solle.

Verlängerung
  des Moratoriums  

Die Rede Macdonalds war eine ganz geschickte Verkopplung all der Tendenzen, welche Frankreich und England verfolgten: Verknüpfung der deutschen Tribute mit den interalliierten Schulden, Verknüpfung der Tributkonferenz mit den Problemen der Abrüstungskonferenz, aber doch zugleich ein Festhalten am System von Versailles. Alles in allem: Die Rede war ein geschicktes vorzeitiges Ausweichen Englands und Frankreichs vor verantwortlichen Bindungen und zugleich das Bemühen, Deutschland von vornherein aufs neue in der bisherigen Weise festzunageln. Macdonald gab sodann bekannt, daß die englische, französische, italienische, japanische und belgische Regierung sich geeinigt hätten, das am 1. Juli ablaufende Hoovermoratorium vorläufig unbefristet zu verlängern.

So ward die Konferenz von Lausanne durch die Rede Macdonalds und die Mitteilung von der Verlängerung des Tributmoratoriums ganz in dem Sinne eingeleitet, in dem sich Macdonald und Herriot geeinigt hatten.

Die Deutschen hatten zunächst den Eindruck, daß die Gegenseite durchaus versöhnlich und friedlich gestimmt sei, und es hatte den Anschein, als ob die anfänglich über Lausanne lagernde Spannung sich zerteilen würde. Am 17. Juni gab Macdonald, nachdem er schon tags zuvor die Verlängerung des Tributmoratoriums angekündigt hatte, nun folgende Erklärung im Wortlaut ab, die von dem Engländer Chamberlain, dem Franzosen Herriot, dem Italiener Mosconi, dem Belgier Renkin und dem Japaner Yoshida unterzeichnet war:

      "Die unterzeichneten Regierungen, tief durchdrungen von dem wachsenden Ernst der wirtschaftlichen und finanziellen Gefahren, die die Welt bedrohen, sowie von der Dringlich- [367] keit der Probleme, die auf der Lausanner Konferenz zur Verhandlung gelangen, ferner tief überzeugt, daß diese Probleme eine endgültige und präzise Lösung verlangen, die eine Besserung der allgemeinen Bedingungen Europas ermöglichen, eine Lösung, die unverzüglich und ohne Unterbrechung im Rahmen einer allgemeinen Regelung gesucht werden muß, stellen fest, daß gewisse Reparationszahlungen und Kriegsschulden am 1. Juli fällig werden.
      Diese Regierungen sind der Ansicht, daß – um eine ununterbrochene Weiterführung der Arbeiten der Konferenz zu ermöglichen – die Leistung der Zahlungen, die den an der Konferenz beteiligten Regierungen geschuldet werden, auf dem Reparationskonto oder als Kriegsschulden, während der Dauer der Konferenz aufgeschoben würden, jedoch unter dem Vorbehalt der Lösungen, die später gefunden werden.
      Die Regierungen erklären ihren festen Willen, in kürzest möglicher Frist zu einem Ergebnis auf der Konferenz zu gelangen. Da der Zinsendienst für die auf den Kapitalmärkten aufgelegten Anleihen durch diese Entscheidung nicht berührt wird, erklären die unterzeichneten Regierungen, daß sie für ihren Teil bereit sind, entsprechend dieser Regelung zu handeln; sie ersuchen die übrigen Gläubiger-Regierungen, die gleiche Haltung einzunehmen."

Papen erwiderte, daß er diese Erklärung als den ersten sichtbaren Beweis des festen Willens der beteiligten Staaten begrüße, die Arbeiten der Konferenz zu erleichtern und diejenigen umfassenden und endgültigen Entschlüsse, die die Lage erfordern, zu fassen, wenn auch von verschiedenen Seiten Zweifel laut wurden, ob nicht dieser Beschluß eine Vertagung der Konferenz erleichtern würde, was man ja vermeiden wollte.

  Papens Vorschläge  

In der nichtöffentlichen Sitzung hielt der Reichskanzler sodann seine Reparationsrede. Er verzichtete auf die Erörterung der völkerrechtlichen und juristischen Gesichtspunkte, da ja die Haager Abkommen rechtsgültig unterzeichnet worden seien; es komme nur darauf an, die augenblicklich gegebenen Tatsachen ins Auge zu fassen und die notwendigen Folgerungen daraus zu ziehen. Papen zeigte dann, wie alle Hoffnungen von 1929, da der Young-Plan abgefaßt worden [368] sei, zusammengebrochen seien. Die Substanz des Vermögens fehle als Basis für einen neuen Aufschwung. Infolge des Steigens des Goldwertes und des Fallens der Warenpreise hätten alle Schuldner 40–50 Prozent mehr zu leisten. Das gelte für Privatschuldner und Staaten. Es müßten deshalb die Schuldverhältnisse neu geordnet werden, wenn keine schnelle Besserung der Wirtschaftslage eintrete. Dann sagte der Kanzler, Deutschland habe insgesamt bereits etwa 100 Milliarden Reparationen gezahlt. Er schloß seine Rede mit folgenden Darlegungen:

      "Die Geschichte der Reparationen stellt sich heute als eine Reihe von Experimenten dar, die man in immer neuer Form, aber immer mit dem gleichen Mißerfolg am deutschen Volkskörper vollzogen hat. Man hat Deutschland jedesmal ein Maximum an Reparationsleistungen auferlegt und hat es jedesmal darauf ankommen lassen, ob sich dieses Maximum als erfüllbar erweisen würde. Wir haben jetzt die Rückwirkungen dieses Verfahrens auf die deutsche Wirtschaft und die Weltwirtschaft ganz greifbar vor Augen. Die Erfahrungen der letzten Jahre können nur dahin zusammengefaßt werden:
      Die Reparationsleistungen haben sich als unmöglich und schädlich erwiesen. Diese Erfahrungen schließen die Möglichkeit aus, in der Hoffnung auf die künftige Entwicklung ein neues Experiment mit den Reparationen zu machen, das doch wieder zu dem gleichen Mißerfolg wie die bisherigen Versuche führen müßte. Wenn die Weltwirtschaft jetzt nicht endgültig von den Störungen befreit wird, die von den wirtschaftswidrigen Schuldenzahlungen ausgehen, ist eine Besserung in Deutschland und in der Welt nicht möglich.
      Die Reparationen waren ursprünglich für den Wiederaufbau der durch den Krieg zerstörten Gebiete bestimmt. Inzwischen hat ihre Wirkung sich in das Gegenteil verkehrt. Sie bauen nicht auf, sondern sie zerstören. Das zwingendste Gebot der Stunde ist, den Blick von der Vergangenheit auf die Zukunft zu richten. Die Stunde des Handelns ist gekommen, deshalb haben wir in Deutschland noch einmal den Versuch gemacht, die lebendigen, aufbauwilligen Kräfte der Nation zusammenzufassen und dem deutschen Volke über- [369] haupt die Lebensgrundlage zu sichern. Die Zeit der kleinen Mittel der Atempausen, der Verfassungen ist endgültig vorbei. Es muß jetzt ganze Arbeit geleistet werden.
      Ich sehe die große historische Aufgabe dieser Konferenz darin, aus dem verhängnisvollen circulus vitiosus der Vergangenheit endgültig herauszukommen und so den Weg für eine bessere Zusammenarbeit freizumachen, die uns alle einer besseren Zukunft entgegenführen kann."

  Französische Weigerung  

Darauf aber erhob sich Herriot zu einer feindseligen Erwiderung. Frankreich sei keineswegs bereit, zu verzichten. Die Weltgeschichte zeige, daß einer Periode des wirtschaftlichen Niederganges eine solche des wirtschaftlichen Aufstieges folge. Diesen Grundsatz müsse man als gerecht bei den Arbeiten der Konferenz betrachten. Die Deutsche Reichsbahn behaupte, die 660 Millionen Reichsmark nicht aufbringen zu können, sei doch aber nur mit 10 Milliarden Frank belastet, während auf den französischen eine Last von 65 Milliarden und auf den englischen Eisenbahnen eine solche von 100 Milliarden ruhe. Die Schulden und die Tribute seien nicht die einzige Ursache der Verwirrung in Europa und in der Welt. Man müsse die Sicherheit verstärken. Es gebe keinen politischen Frieden ohne einen wirtschaftlichen Frieden, aber es gebe auch keinen wirtschaftlichen Frieden ohne einen politischen Frieden. Diese doppelte Wahrheit müsse die Arbeiten der Konferenz leiten.

Das war der Versuch, mit dem Deutschland überrumpelt werden sollte, der von Macdonald und Herriot ausgeklügelte Weg, um Deutschland aufs neue in Ketten von Versailles zu legen. Herriot wollte, um alle etwaigen deutschen Vorschläge im Keime zu ersticken, die französische These der Sicherheit zur Grundlage der Tributverhandlungen machen. Er rückte also, um politische Forderungen der Deutschen zu entkräften, selbst die politische Forderung Frankreichs in den Vordergrund. Und an diesem Punkte setzte auch die englische Arbeit jetzt ein. Die Sicherheitsfrage hatte ja einen breiten Raum in den Pariser Besprechungen Macdonalds mit Herriot eingenommen. Nachdem Belgien zunächst erklärt hatte, es könne einer glatten Streichung der Reparationen nicht zustimmen, nachdem der englische Schatzkanzler Chamberlain demgegen- [370] über die Ansicht vertrat, es sei der deutschen Regierung unmöglich, den Verpflichtungen, die jetzt fällig seien, nachzukommen, erörterten die Minister den englischen Sicherheitsvorschlag. Es war dies der obenerwähnte Konsultativpakt Macdonalds, der in Paris entstanden war und nun in Lausanne zwischen England und Frankreich bestätigt wurde.

Der 17. Juni umschloß das ganze Problem von Lausanne: vorläufige unbefristete Verlängerung des Tributmoratoriums, Deutschlands Forderung auf endgültige Streichung der Tribute, Frankreichs Widerspruch und Forderung politischer Sicherheit, Englands vermittelnde Haltung in bezug auf Tribute und Sicherheit. War Deutschlands Weg gerade, so war derjenige Frankreichs und Englands gewunden. Diese beiden Mächte wollten Deutschland in Lausanne schachmatt setzen, weil es in Genf nicht gelang!

In Deutschland war man allgemein enttäuscht über diesen Beginn. Man fand, Papen habe zu lau gesprochen, er habe vermieden, auf die Ungerechtigkeit der Tribute überhaupt hinzuweisen. Man vermißte auch die klare Feststellung, daß die wirklichen Reparationsleistungen schon längst überzahlt seien. Die Fünfmächteerklärung sei nichts weiter als ein augenblickliches kurzes Teilmoratorium, dessen Illusionen durch die Rede Herriots gründlich zerstört seien. Man wartete auf den deutsch-französischen Zweikampf, der nun beginnen mußte. In Paris war man mit Herriot sehr zufrieden, mit Ausnahme linksgerichteter Kreise, in London aber war man stark verstimmt über die unversöhnliche Rede des Franzosen.

Infolge des englisch-französischen Versuches, zwischen den Fragen der Abrüstung und der Reparationen neue Wechselbeziehungen herzustellen, bestand zwischen Genf und Lausanne eine enge Verbindung. So kam es, daß man in Genf schon über Einzelheiten in der Reparationsfrage, vor allem über die "Abschlußzahlung" unterrichtet war, ehe in Lausanne das Getümmel darüber anhob. Immer deutlicher aber zeigte sich in Genf wie in Lausanne, daß der einzige Störenfried der Welt Frankreich war. Diese Erkenntnis bewog Macdonald, zunächst einmal die Vollsitzungen in Lausanne auf unbestimmte Zeit zu vertagen, und zu versuchen, ob nicht durch private Minister- [371] besprechungen Frankreichs verstockter Sinn in etwas verwandelt werden könne, besonders, da die Engländer überrascht waren von der Unnachgiebigkeit der Deutschen. Dieser taktische Wechsel vollzog sich am 20. Juni, und Frankreich bekam zu spüren, daß seine Freunde von ehemals, Italien, England, Amerika, recht ungehalten wurden.

Macdonald hatte Herriot nahegelegt, mit Papen zu verhandeln. Doch das wollte der Franzose nicht, bevor er mit England und Amerika einig geworden sei. Die angelsächsischen Mächte – Gibson war aus Genf herübergekommen – zeigten Entgegenkommen, und im Laufe des 20. Juni wurde die Dreimächtebesprechung abgehalten. Macdonald, dessen Geduld auf eine harte Probe gestellt war, bot den Franzosen an: völlige Tributstreichung unter Verzicht auf die von den Franzosen geforderte "Abschlußzahlung", dafür Zugeständnisse Deutschlands in der Sicherheitsfrage, Anerkennung eines 15jährigen "Gottesfriedens" in Europa durch Deutschland. Gibson verlangte energische Abrüstung als Vorbedingung für eine Neuregelung der europäischen Kriegsschulden an Amerika und behielt sich eine "Bedürftigkeitsprüfung" (d. h. Einblick in den Heeresetat) vor Gewähr von Zahlungserleichterungen an die einzelnen Schuldner vor. Gibson legte Hoovers Standpunkt klipp und klar vor: Einigung Europas über die Reparationen, sodann individuelle Anträge auf Feststellung der Zahlungsfähigkeit des betreffenden Schuldnerstaates; sachliche Vorbedingung sei jedoch die Bereitwilligkeit, die Rüstungen herabzusetzen und die Wehretats erheblich zu beschneiden. Europa könne solange auf keine Sympathien Amerikas hoffen, als es gewaltige Summen für Kriegsrüstungen ausgebe.

Herriot erkannte, daß Frankreich in Lausanne isoliert war. Dennoch blieb er hartnäckig in der nun folgenden zweistündigen Besprechung mit Macdonald und Papen. Herriot beharrte auf der "Abschlußzahlung", die durch Verpfändung deutscher Eisenbahnobligationen zu erfolgen habe. Zugeständnisse in der Abrüstungsfrage lehnte er ebenfalls ab. Nachdem man zwei Stunden ohne Erfolg herumgestritten hatte, erhoben sich Herriot und seine Mitarbeiter und gingen hinaus. Elementare Gegensätze standen sich gegenüber: Frankreich, das am [372] Tributsystem festhielt, und auf der anderen Seite Deutschland, Italien und England, welche sofortige und vollständige Streichung der Tribute verlangten. Macdonald war so verärgert, daß er mit sofortiger Abreise drohte.

Man war jetzt in Lausanne vollkommen in eine Sackgasse geraten. Macdonald wußte keinen Rat mehr, wie er vermitteln sollte. Schon wurden verzagte Stimmen laut, welche eine Vertagung der Konferenz vorschlugen. Macdonald versuchte noch einmal, die Lage zu retten. Er stellte den Deutschen anheim, möglicherweise durch Zugeständnisse eine Lösung der Tributfrage anzubahnen. Das wurde auf deutscher Seite abgelehnt. Unter Macdonalds Vermittlung begannen am 24. Juni die ergebnislosen Aussprachen zwischen Papen und Herriot, deren Zweck es war, den Franzosen Deutschlands aussichtslose Lage klarzumachen.

In einer abermaligen Besprechung zwischen Herriot und Papen am 27. Juni hielt Herriot seine Tributforderungen aufrecht. Papen erwiderte: Das System der Tribute müsse unter allen Umständen fallen. Jede Fortsetzung dieses Systems bedeute den völligen Ruin der gesamten Weltwirtschaft und des Vertrauens, das die Grundlage eines allgemeinen Wiederaufstieges sei. Die deutsche Regierung würde keine Unterschrift leisten, von der sie schon heute überzeugt sei, daß sie nicht gehalten werden könne, weil die weitere Tributzahlung eine völlige Unmöglichkeit sei. Aber die deutsche Regierung sei durchaus bereit, an einem konstruktiven Aufbauprogramm für Europa mitzuarbeiten. Es seien von Deutschland hierfür konkrete Vorschläge ausgearbeitet. Danach sollte in erster Linie die wirtschaftliche und finanzielle Sanierung Österreichs und Südosteuropas herbeigeführt werden. Deutschland sei bereit, an einer Stabilisierung der internationalen Währungen auf einer internationalen Konferenz, an der Aufhebung bestehender Handelshemmnisse und der Deviseneinschränkungen, an dem Abbau von prohibitiven Zöllen und ähnlichen Maßnahmen sofort mitzuwirken. Bei diesen Bemühungen um eine Sanierung Europas käme Deutschland und Frankreich eine besondere Stellung zu. Eine Übereinstimmung dieser beiden Länder bilde nach deutscher Auffassung die Grundlage für eine gedeihliche [373] Fortentwicklung Europas. Deshalb werde es sich auch weiter darum handeln, die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen diesen beiden Ländern fester zu knüpfen als es zur Zeit der Fall sei. Dies waren so Ansichten, die in der deutsch-französischen Wirtschaftskommission ihren Nährboden fanden. Papen selbst hatte dieser Kommission angehört. Da er jetzt in seiner Umgebung starke, unterirdische Gegenströmungen gegen seine ablehnende Haltung spürte, griff er auf diesen Vorschlag zurück, der sowohl die Verzagten in seiner eigenen Umgebung – es gab Leute, die sprachen von Deutschlands endgültiger Wirtschaftskatastrophe bei einem Scheitern der Lausanner Konferenz – wie auch die Franzosen versöhnen sollte.

Der deutsche Vorschlag gipfelte in der Errichtung einer gemeinsamen Wiederaufbaukasse, zu der alle Länder Beiträge zusteuern sollten. Dieser Plan schien den Franzosen geeignet, um sofort in versteckter Weise wieder ihre Tributforderungen zu erheben. Deutschland solle seinen Beitrag durch Hingabe von Eisenbahn- und Industrieobligationen entrichten!

Die deutsche Initiative brachte eine neue Wendung für die Lausanner Konferenz, die Ende Juni bereits zum Scheitern reif war. Man beschäftigte sich jetzt intensiv mit dem deutschen Plane, der in Paris große Erregung hervorrief, in London aber große Anerkennung fand wegen der gemäßigten, geschickten und zu gewissen Entgegenkommen bereiten und im Sinne einer Wiederaufbauarbeit geführten Politik des deutschen Reichskanzlers.

Neue Hoffnung erfüllte nun die bereits verzweifelten Teilnehmer der Lausanner Konferenz. Eine Einigung Deutschlands mit Frankreich schien in letzter Stunde doch noch möglich, und Macdonald hielt eine große Rede, wo er die Aufgaben der Konferenz von Lausanne näher umschrieb: Reparationsstreichung, Stützung der Mark, internationale Wirtschaftszusammenarbeit. Er führte da im großen ganzen aus, daß weitere Tributzahlungen die internationale Krisis verschärfen würden, denn Deutschland sei nicht in der Lage, Reparationen zu bezahlen. Allerdings wies der Engländer immer auf den Zusammenhang der deutschen Tribute mit den Kriegsschulden der Gläubigerstaaten hin und forderte auch deren Streichung. [374] Es sei auch Pflicht, die Stabilität der deutschen Währung zu sichern. In Lausanne müsse eine Endlösung gefunden werden, welche das Vertrauen der Welt wiederherstellen und den internationalen Handel wieder beleben könne.

  Papens politische Forderung  

Der Reichskanzler von Papen, der diesen Stimmungsumschwung als ein günstiges Zeichen betrachtete, unternahm jetzt einen kühnen Vorstoß. Die Kritik der nationalen Kreise Deutschlands bewog ihn dazu. Man hatte den Plan einer deutsch-französischen Zusammenarbeit bemängelt, man hatte die politische Note bisher vermißt, die Frankreich in die Verhandlungen hineingebracht habe. Man klagte über einen Mangel an Initiative bei Papen. Was dem einen recht sei, sei dem andern billig. Wenn Frankreich so für seine Sicherheit besorgt sei und Abrüstungsfragen mit Tributfragen verbinde, weshalb solle Deutschland seinem Gegner nicht auch auf diesem Felde begegnen? Papen änderte also seine Taktik und begab sich auf das Gebiet der großen Politik. Das Vertrauen der Welt, so sagte er den andern, könne nur dann wiederhergestellt werden, wenn Deutschland von den Diskriminationen des Versailler Vertrages befreit würde, wenn die Artikel über die Kriegsschuldlüge und die Reparationen gestrichen würden, wenn Deutschlands Gleichberechtigung und Sicherheit anerkannt würden. Geschähe dies, dann sei Deutschland auch bereit, der Kasse für den internationalen Aufbau einen Zusatzbeitrag über den festgesetzten Anteil hinaus zu zahlen. Weiter schlug Papen eine Wirtschaftsunion zwischen Deutschland, Polen und den Donaustaaten vor, vorausgesetzt, daß der westpreußische Korridor internationalisiert und Danzig wieder deutsch würde.

Die Franzosen waren starr. Zum ersten Male wagte eine deutsche Regierung, in aller Form die Revision des Versailler Vertrages zur Verhandlung zu stellen! Und da machten nun sie nicht mehr mit –, sie verweigerten rundweg jede Diskussion über diese Dinge. Die Fragen der Gleichberechtigung und Sicherheit Deutschlands gehörten auf die Genfer Abrüstungskonferenz, aber nicht hierher, erklärten sie. Jetzt plötzlich wollten sie nichts mehr von einer Verbindung der Genfer und Lausanner Konferenzen wissen, wofür sie doch bisher so eifrig gearbeitet hatten! Sie sprangen sofort auf ihr anderes Mittel [375] über, das sie gegen das unbequeme Deutschland in Reserve hatten: Die Verkuppelung der deutschen Tribute mit den alliierten Kriegsschulden. Dies war die zweite politische These, die Macdonald und Herriot auf ihrer Pariser Besprechung für Lausanne aufgestellt hatten. In der Nacht vom 29. auf den 30. Juni schlugen sie den Deutschen vor, die endgültige Regelung der Tributfrage von der endgültigen Regelung der interalliierten Schuldenfrage mit den Vereinigten Staaten abhängig zu machen. Mit diesem Vorschlage sollte die erst von Macdonald so gewaltsam betriebene Endlösung nun doch noch bis zum Früjahr 1933 vertagt werden, bis zu dem Zeitpunkt, da der im Herbst 1932 neugewählte Präsident der Vereinigten Staaten sein Amt übernommen haben würde.

  Französische Ablehnung  

Frankreich wollte von der amerikanischen Entscheidung ein für allemal abhängig machen, ob Deutschland von den Tributen befreit werde oder weiter zahlen müsse. Die Frage der deutschen Gleichberechtigung in der Abrüstung wurde von den Franzosen rundweg abgelehnt.

  Gentlemen-Agreement  

England, Frankreich, Italien und Belgien schlossen nun, ohne daß Papen dem Vorschlag zugestimmt hatte, unter sich insgeheim am 2. Juli das folgende Gentlemen-Agreement ab, das die Verbindung der Tribute mit den Kriegsschulden festlegte:

      Die Lausanner Abkommen treten erst nach der in diesen Abkommen vorgesehenen Ratifizierung endgültig in Kraft. Was die Gläubigermächte anlangt, in deren Namen dieses Schriftstück paraphiert ist, so wird die Ratifizierung nicht eher stattfinden, bis zwischen ihnen und ihren eigenen Gläubigern eine befriedigende Lösung erzielt worden ist. Sie haben alle Freiheit, ihre Haltung vor ihren Parlamenten darzulegen. Im Wortlaut des Abkommens mit Deutschland wird dagegen nicht auf dieses Übereinkommen hingewiesen werden. Wenn in der Folge eine befriedigende Lösung ihrer eigenen Schulden erreicht worden ist, werden die unterzeichneten Gläubigermächte die Ratifizierung vornehmen, womit das Abkommen mit Deutschland Rechtskraft erhält.
      In dem Falle, in dem eine Regelung der Schulden nicht erzielt werden kann, wird das Abkommen mit Deutschland nicht ratifiziert werden. Dadurch würde eine neue Lage entstehen, [376] und die interessierten Regierungen würden sich darüber einigen, was zu geschehen hat. In diesem Falle wird die Rechtslage aller interessierten Mächte wieder die werden, die vor dem Hoover-Moratorium bestanden hat. Die Reichsregierung wird von diesem Abkommen unterrichtet werden.

Papen, der von dem Gentlemen-Agreement noch nichts wußte, verwarf den Vorschlag der Gläubigermächte voll und ganz. Der Vertreter Italiens stand ihm darin bei, indem er vollständige Streichung aller Tribute forderte. Papens Forderungen, Ablehnung der Verbindung deutscher Tribute mit den alliierten Schulden, vollständige Streichung der deutschen Tribute, Streichung des Teiles 8 im Versailler Vertrag, stellten etwa das Gegenteil von dem dar, was Herriot und Macdonald als Ziele der Konferenz vereinbart hatten. Die beiden erkannten, daß, wenn man zu einem Ergebnis mit den Deutschen kommen wolle, man auf alle unbestimmten Vorschläge verzichten müsse. Deshalb änderten sie jetzt ihren Plan, legten ihn bestimmter dar, indem sie zwar eine Verkuppelung der Tribute mit den Kriegsschulden beibehielten, aber doch schon in Lausanne eine endgültige deutsche Abschlußzahlung von 4 Milliarden – Tilgungsbeginn nach fünf Jahren – vorschlugen. Sei Amerika mit einer Schuldenstreichung einverstanden, dann werde ein Teil der Restschuld erlassen.

Papen hielt diesen Vorschlag ebenfalls für unannehmbar. Der bestehende Zustand der Unsicherheit und Ungewißheit würde weiterhin bestehen bleiben. Außerdem könne Deutschland nicht zulassen, daß zwischen deutschen Tributen und interalliierten Kriegsschulden eine unmittelbare Verbindung hergestellt werde. Schließlich fehle in dem Vorschlag die von Deutschland geforderte Streichung des Kapitels 8 des Versailler Vertrages mit den Bestimmungen über die Kriegsschuldlüge und die Tribute.

  Englisch-französischer Vorschlag  

Die Gläubigermächte spezialisierten nun ihren Vorschlag, ohne doch schon die Verbindung der Tribute mit den interalliierten Schulden zu lösen. Die deutsche Regierung sollte nach einem dreijährigen vollständigen Moratorium einen Betrag von 4 Milliarden Goldmark in Form von Bonds zahlen, die der Bank für internationalen Zahlungsausgleich in Basel als dem [377] Treuhänder übergeben werden sollten. Die Bank solle nach Ablauf der drei Moratoriumsjahre diese Bonds auf den Markt bringen, jedoch nur unter der Voraussetzung, daß sie dies im Hinblick auf die gesamte Kreditlage Deutschlands für tragbar halte und falls der Ausgabekurs dieser Bonds 90 Prozent erreiche, d. h., daß weitgehendes Vertrauen des Auslandes zur deutschen Kreditfähigkeit vorhanden sei. Die Verzinsung dieser Bonds sei auf 5 Prozent zuzüglich 1 Prozent Amortisation festgelegt. Der Erlös aus der Unterbringung dieser Bonds solle für den Wiederaufbau Europas verwendet werden. Durch die Zahlung der 4 Milliarden Bonds werde das bisherige Reparationssystem als erledigt betrachtet. Gleichfalls erledigt seien dadurch auch die nach dem Hoover-Moratorium gestundeten Zahlungen, eingeschlossen die Reichsbahnzahlungen. Nicht berührt davon wurden jedoch die Verzinsung und Tilgung der Dawes- und Younganleihe (150 Millionen), das belgische Markabkommen (23 Millionen) sowie 25 Millionen Besatzungskosten und 41 Millionen Mixed Claims. (Die Mixed-Claims-Zahlungen waren Leistungen, durch die gemäß dem deutsch-amerikanischen Schuldenabkommen vom Juni 1930 teilweise Urteile der deutsch-amerikanischen gemischten Kommission – Mixed Claims Kommission – erfüllt wurden. In diesen Urteilen waren Amerikanern Entschädigungen für Kriegsschäden zugesprochen worden. Teilweise hatten auch Deutsche Nutzen davon, deren Vermögen im Kriege durch Amerika liquidiert worden war. Die Mixed-Claims-Leistungen sollten bis 1981 laufen.) Dieser Vorschlag wurde wie schon gesagt der Stellung Amerikas zur Schuldenfrage untergeordnet.

Am Abend des 2. Juli wurde dieser Vorschlag den Deutschen übergeben. Den ganzen folgenden Tag, es war ein heißer Julisonntag, setzten die Vertreter der Gläubigermächte, insonderheit Herriot und Macdonald, den Deutschen mit Bitten, Drohungen und Beschwörungen zu, diesen Vorschlag anzunehmen. Doch Papen sagte Nein! Erstens sei eine Abschlußzahlung von 4,2 Milliarden untragbar für Deutschland. Sodann müsse es Deutschland ablehnen, in eine Front der europäischen Schuldnermächte gegen Amerika eingereiht werden. Ferner seien die Ausgabebedingungen für die Bonds unannehmbar. Schließlich [378] aber vermisse Deutschland endgültige Beseitigung des gesamten Teiles 8 des Versailler Vertrages mit dem berüchtigten Artikel 231 über die deutsche Kriegsschuld. Dies sei nach deutscher Auffassung die Vorbedingung für eine Gesamt- und Endregelung der Tributfrage.

  Schwierige Verhandlungen  

Macdonald erkannte die Berechtigung der deutschen Einwendungen ohne weiteres an, vor allem auch deshalb, weil in letzter Zeit von den amerikanischen Gläubigern ein Druck auf die europäischen Mächte ausgeübt wurde, um eine Endregelung der Tribute unter Berücksichtigung des deutschen Standpunktes zu erzwingen. Nur Frankreich blieb unzugänglich. Herriot war zu keinem Entgegenkommen zu bewegen. Am Abend des 3. Juli war man genau so weit wie 14 Tage vorher: man sah noch keinen Ausweg aus den Gegensätzen. Herriot begab sich nach Paris, um die neu auftauchenden innerpolitischen Schwierigkeiten, die von der Rechten geschürt wurden, zu dämpfen, und Macdonald, der Verzweiflung nahe, erklärte, er werde am Mittwochabend abreisen.

Die Tage von Lausanne waren von einer aufreibenden, nervenzerreißenden Spannung erfüllt. Macdonald hatte wohl ein Verständnis für die Haltung der Deutschen, doch erfüllte ihn die ungewöhnliche Hartnäckigkeit der Deutschen mit großem Ärger. Eine solche Hartnäckigkeit hatte man bei den Verhandlungen mit den Deutschen in den letzten 12 Jahren noch nicht erlebt. Das war eine ganz neue Erscheinung. Herriot stand unter einem mächtigen innenpolitischen Zwange. Seine Gegner von der Rechten warteten auf den Mißerfolg in Lausanne, um ihn zu stürzen. Macdonald und Herriot wären schon längst aus Lausanne abgereist, wenn ihnen nicht das Scheitern der Konferenz als Mißerfolg ausgelegt worden wäre. Aber sie, vor allem Herriot, mußten etwas nach Hause bringen.

Der deutsche Reichskanzler von Papen und seine Mitarbeiter waren in die eisernen Bande moralischer Verpflichtung geschlagen. Das ganze deutsche Volk wartete darauf, daß Lausanne die endgültige Befreiung von den Tributen bringen sollte. Tag für Tag wurden in Deutschland die Stimmen der Nationalsozialisten, der Rechtsparteien, der vaterländischen [379] Vereinigungen laut, welche kategorisch forderten: "Schluß mit den Tributen!" Auf der anderen Seite warteten die Anhänger der Koalitionsparteien darauf, daß sich Papen eine Blöße geben sollte, um mit hämischem Hohn über ihn herzufallen. Auch sie schrieen laut und unablässig: "Schluß mit den Tributen!", um Papens Stellung zu erschweren, denn im Geheimen schürten die deutschen Sozialdemokraten in Paris die ablehnende Haltung der Franzosen. Der Reichskanzler hatte in Deutschland selbst keine Macht, auf die er sich stützen konnte, und von rechts wie von links wurde ihm immer wieder zugerufen, er mache es auch nicht besser als Brüning! Nur in Italiens Außenminister Grandi hatte Papen einen Bundesgenossen, denn auch Italien forderte endgültigen Schluß mit den Tributen.

Am 5. Juli führten die zweitägigen Verhandlungen zwischen Papen und Macdonald zu einem Kompromiß. Danach war Macdonald bereit, der deutschen Forderung nach Gleichberechtigung auf dem Gebiete der Abrüstung durch eine für Deutschland günstige Vereinbarung entgegenzukommen. Ferner war England bereit zu einer grundsätzlichen Erklärung der alliierten Mächte über Streichung der Tributartikel des Versailler Vertrages wie auch des Artikels von der deutschen Kriegsschuld. Dafür wollte Deutschland eine Abschlußzahlung von 2,6 Milliarden leisten, wovon sogleich 1,6 Milliarden an die Bank für internationalen Zahlungsausgleich gegeben werden sollten. Der Kurs für die Ausgabe der ersten Bonds sollte 90 Prozent betragen. Da dieser nach der Lage der Weltwirtschaft unerreichbar schien, wollte man das Wort "sogleich" nicht wörtlich auffassen, sondern in ihm ein Moratorium von ungewisser Dauer sehen. Der Rest von einer Milliarde sollte in Bonds zu 95 Prozent nach erfolgter Ausgabe der Bonds über 1,6 Millarden untergebracht werden, jedoch in einer Frist von zehn Jahren. Würde innerhalb dieser zehn Jahre die Ausgabe der restlichen Milliarde nicht gelingen, so soll sie gestrichen werden. Die Bonds sollen auch nicht, wie Frankreich das früher verlangte, Schuldverschreibungen der deutschen Reichsbahn, sondern Schuldverschreibungen des Deutschen Reiches sein.

[380] Als Herriot von dem Einigungsvorschlag hörte, rief er sofort telefonisch seinen Kriegsminister Paul Boncour aus Genf nach Lausanne und besprach mit ihm die Forderung der deutschen Gleichberechtigung. Das Ergebnis der Aussprache war Herriots striktes Nein! Er lehnte ab wie bisher alles, was von deutscher Seite kam. Und die gesamte französische Presse von rechts bis links stand hinter dem schroffen Nein des Ministerpräsidenten.

So wurde der 6. Juli wieder ein außerordentlich kritischer Tag. Bei den stürmischen Verhandlungen war Frankreich isoliert. England, Italien, Belgien und Japan unterstützten Deutschland. Macdonald versuchte auf Herriot einen gelinden Zwang auszuüben: wenn Frankreich den Deutschen in der Tributfrage entgegenkomme, werde England den Franzosen in der Frage der französischen Kriegsschulden an England entgegenkommen. Nun, in der Tributfrage ließe sich ja reden, aber die politischen Forderungen Deutschlands betreffs Gleichberechtigung, Teil 8 des Versailler Vertrages und Kriegsschuldartikel – nein, darüber werde überhaupt nicht diskutiert! Die Deutschen hatten keine Veranlassung, ihren Standpunkt aufzugeben. Sie hatten ihren guten Willen gezeigt. Mochte die Konferenz scheitern, wenn die andern es so wollten. Deutschland würde keinen Nachteil davon haben, das Hoovermoratorium würde automatisch in diesem Falle verlängert werden und weitere Tributzahlungen würden nicht erfolgen.

Macdonald, der am 6. Juli, abends abreisen wollte, blieb. Mit neuen Kräften begann er, zwischen Deutschland und Frankreich zu vermitteln. Das war außerordentlich schwierig. Von Papen war zu keinem Zugeständnis bereit. Voll Unmut erklärte er, die hartnäckige Weigerung Frankreichs sei auf die Einflüsse sozialistischer Kreise zurückzuführen, die das größte Interesse hätten, die ausgesprochene Rechtsregierung in Deutschland zu stürzen.

  Schließliche Einigung  

Wieder folgten zwei Tage angestrengtester Verhandlungen. Der 7. Juli, die Nacht zum 8. Juli und der 8. Juli waren von Besprechungen ausgefüllt, um die Konferenz, die plötzlich wieder völlig in Frage gestellt war, zu retten. Endlich kam ganz unerwartet eine Einigung zustande in der Weise, daß man erklärte, die Konferenz von Lausanne habe nur einen Teil der [381] europäischen Probleme, nämlich die Tributfrage zu regeln, sämtliche politischen Fragen mußten deshalb ausgeschaltet werden. Das war die Ansicht der Mehrheit, und so mußte Papen nach dieser eindeutigen Erklärung auf die von ihm seit einer Woche vertretenen politischen Klauseln verzichten! Sein Kampf war ohne Ergebnis geblieben. Immerhin konnte Papen das Scheitern seiner politischen Forderungen in Kauf nehmen, da es sich hierbei lediglich um eine formelle Außerkraftsetzung des Teiles VIII und des Artikels 231 handelte. Tatsächlich hatte er ja sein Ziel erreicht, wenn der Youngplan und mit ihm die deutschen Tribute gestrichen wurden. Denn mit dem Youngplan und den Tributen fiel automatisch auch Teil VIII des Versailler Vertrages, auf den sich der Youngplan rechtlich stützte. Diese Erwägungen waren es wohl auch, die Papen nach eingehender Besprechung mit Macdonald bewogen, im Interesse der Tributstreichung auf seine politischen Forderungen zu verzichten. Das erstrebte Ziel war jedenfalls wertvoller als die Absicht, der unsinnigen Hartnäckigkeit der Franzosen Trotz zu bieten.

  Schlußsitzung  

Am Abend des 8. Juli, 22,30 Uhr, fand dann die letzte öffentliche Vollsitzung der Lausanner Konferenz statt.

Der Sitzungssaal trug einen feierlichen Charakter. In der Mitte war ein großer viereckiger Tisch aufgestellt. Macdonald war umgeben von seinen vier Ministerkollegen. Neben der englischen Abordnung hatten die Deutschen Platz genommen. Auf der anderen Seite saßen die französischen Regierungsvertreter. Die meisten waren im Frack erschienen.

Macdonald eröffnete die feierliche Sitzung der Tributkonferenz und beglückwünschte die Mächte zu der nach langen Kämpfen zustandegekommenen Einigung (das gesamte Vertragswerk trug den Titel "Pakt von Lausanne"). Er legte das Abkommen mit Deutschland sämtlichen Mächten vor und richtete an die einzelnen Mächte die Frage, ob sie dem Abkommen zustimmten.

Zunächst erhob sich Reichskanzler von Papen, dem einige Stunden vorher der Text des Gentlemen-Agreement vom 2. Juli mitgeteilt worden war. Er richtete, bevor er der Annahme des Abkommens zustimmte, an den Präsidenten die Frage, wann [382] die endgültige Ratifizierung des Abkommens durch sämtliche Mächte herbeigeführt werden könne. Macdonald erklärte, falls die Ratifizierung in absehbarer Zeit nicht geschehe, werde eine neue Konferenz notwendig sein. Daraufhin erklärte von Papen, daß er das Abkommen annehme, denn die englische Antwort hatte klar ergeben, daß Deutschland außerhalb der europäischen Schuldnerfront gegen Amerika geblieben war, und daß man im Falle der Nichtratifikation nicht zum Youngplan zurückkehren würde. Macdonald erklärte daraufhin, die deutsche Zustimmung sei ein gutes Beispiel für die übrigen Konferenzmächte. Sämtliche übrigen Mächte stimmten darauf dem Abkommen zu. Das Abkommen über die endgültige Beseitigung des Tributsystems ist damit von den Konferenzmächten einstimmig angenommen worden.

Ministerpräsident Herriot gab eine Erklärung ab, in der er zunächst den neuen Geist von Lausanne feierte, der sich in erster Linie in der gebührenden Achtung des eigenen Vaterlandes äußere. Diese Konferenz habe sich dadurch ausgezeichnet, daß die einzelnen Regierungen nicht versucht hätten, ihren eigenen Willen den anderen aufzudrängen. Kennzeichnend für den neuen Vertrag von Lausanne sei die Achtung der Verträge, auf der allein das internationale Leben, wie auch das Privatleben beruhe. Herriot betonte, alle seien von tiefem Mitgefühl für die großen Leiden und die Not des deutschen Volkes erfüllt. Jetzt sei die Stunde gekommen, nicht an das Trennende, sondern an das Gemeinsame zu denken und einen gemeinsamen großen Gedanken und eine gemeinsame Geistesverfassung zu schaffen. Herriot schloß mit den Worten: "Friede allen Menschen, die guten Willens sind."

Reichskanzler von Papen führte unter anderem aus:

      "Das erste Ziel dieser Konferenz war, eine endgültige Lösung der Reparationsfrage zu finden. Ich bin glücklich, feststellen zu können, daß dieses Ziel erreicht ist. Das Reparationsproblem ist endgültig beseitigt. Diese Konferenz hat für Deutschland das Ende der politischen Zahlungen gebracht. Ein wesentliches Hindernis, das den politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen unseren Ländern entgegenstand, ist aus dem Weg ge- [383] räumt. Ich glaube und hoffe, daß wir hiermit die stärkste Wurzel der Weltwirtschaftskrise durchgeschlagen haben.
      Unerläßlich ist es freilich, daß wir den hier begonnenen Sieg fortsetzen. Zwei Voraussetzungen sind es, die ich als wesentlich ansehe: einmal müssen tatkräftig und entschlossen die wirtschaftlichen Hemmungen beseitigt werden, die aus der Krise geboren sind, und ich hoffe, daß die Weltwirtschaftskonferenz dieses Ziel verwirklichen wird. Die zweite ist, daß die politische Entspannung fortschreitet und ausgebaut wird.
      Die Lösung, die wir hier gefunden haben, hat Opfer verlangt, und ich erkenne willig an, daß die Gläubiger Deutschlands Opfer gebracht haben, um die endgültige und vollständige Beseitigung des Problems der Reparationen zu ermöglichen. Auch wir sind uns bewußt, an die äußerste Grenze dessen gegangen zu sein, was wir noch verantworten könnten. Ich erkläre hier ganz offen, daß wir uns nur mit schwerem Herzen haben entschließen können, die in dem Lausanner Abkommen niedergelegten Verpflichtungen zu übernehmen. Wir haben geglaubt, dies tun zu können, weil es sich bei den Leistungen, die von uns gefordert werden, nicht mehr um Reparationszahlungen, sondern um einen Beitrag handelt, den Deutschland zum wirtschaftlichen Wiederaufbau der Welt leistet. Die deutsche Regierung hat den festen Willen, das Wiederaufbauprogramm im eigenen Lande in der tatkräftigsten Weise in Angriff zu nehmen und hofft damit, ein Wesentliches zur Wiederherstellung normaler Wirtschaftsbeziehungen mit anderen Ländern beizutragen. Das trübe Kapitel der Reparationen ist geschlossen.
      Lernen wir auch aus diesem Problem, aus den verzögerten Entschlüssen und ihren Fehlwirkungen für die ganze Welt, daß gewonnene Erkenntnisse zu entscheidendem Handeln führen müssen. Deshalb sollten die noch offenstehenden Fragen einer beschleunigten Lösung zugeführt werden. Die wirtschaftliche Befriedigung der Welt verlangt vor allem die politische Stabilität. Sie ist nur gewährleistet, sofern allen Völkern neben gleichen Pflichten auch gleiche Rechte zugebilligt werden. Deutschlands Ansprüche sind bekannt.
      Ich schließe mit der Versicherung, daß die deutsche Regierung und das deutsche Volk bereit und willig sind, in Zusammen- [384] arbeit mit allen Regierungen und Völkern der Erde den wirtschaftlichen Wiederaufbau der Welt in Angriff zu nehmen. Ich hoffe, daß die Konferenz von Lausanne einen neuen Ausblick auf eine glückliche Zukunft eröffnen wird." –

Das umfangreiche Vertragswerk von Lausanne besteht zunächst aus einer allgemeinen geschichtlichen Darstellung der Vorgänge, die zur Einberufung der Konferenz geführt haben. Es gibt sodann die Moratoriumserklärung der Gläubigermächte vom 16. Juni wieder.

  Pakt von Lausanne  

Das Reparationsabkommen mit Deutschland beginnt mit einer Präambel, in der die Regierungen von England, Belgien, Kanada, Australien, Neu-Seeland, Südafrika, Indien, Frankreich, Griechenland, Japan, Portugal, Polen, Rumänien, Tschechoslowakei, Südslawien und Deutschland feststellen, daß die Rechtsgültigkeit der Haager Abkommen vom 20. Januar 1930 nicht zur Verhandlung stehen, jedoch im Hinblick auf die großen wirtschaftlichen Krisen und Schwierigkeiten von dem Wunsche geleitet, das notwendige Vertrauen für die normalen wirtschaftlichen und finanziellen Bedingungen zu sichern, die unterzeichneten Mächte folgendes Übereinkommen getroffen haben (dies ist die "Politische Erklärung"):

      "Die unterzeichneten Staaten des gegenwärtigen Abkommens sind in Lausanne zusammengetreten, um eines der Probleme des Weltkrieges mit dem ehrlichen Wunsche zu regeln, zur Bildung einer neuen Ordnung beizutragen, die die Schaffung und Entwicklung des Vertrauens zwischen den Völkern im Geiste des gegenseitigen Entgegenkommens, der Zusammenarbeit und der Gerechtigkeit fördert. Die Mächte sind nicht der Ansicht, daß das in Lausanne geschaffene Werk, das vollständig den Reparationen ein Ende bereitet, genügt, um den Frieden zu erreichen, den die Völker wünschen. Jedoch hoffen sie, daß diese Erkenntnis in sich selbst so bedeutend ist, und so große Bemühungen notwendig gemacht hat, daß sie von allen friedlichen Elementen Europas und der Welt verstanden und richtig geschätzt wird, und daß neue Werke folgen werden. Diese Taten werden umso leichter durchzuführen sein, als die Völker diesen neuen Schritt zu einem wahren Frieden unterstützen, der, um vollständig zu sein, sich [385] gleichmäßig auf die wirtschaftliche und politische Ordnung beziehen muß, wie sie auch jeden Appell an die Gewalt oder an die Waffen zurückweisen. Die Unterzeichnermächte des gegenwärtigen Abkommens werden sich daher bemühen, die gegenwärtig gestellten Probleme, oder diejenigen Probleme, die später gestellt werden, in dem gleichen Geiste zu lösen, der dieses Abkommen beseelt."

Die Finanzregelung. Es folgt der finanzielle Teil der Abmachungen (Artikel I). Artikel I regelt die von der deutschen Regierung im Gesamtbetrag von 3 Milliarden Goldmark auf der Grundlage der gegenwärtigen Währung auszugebenden Schuldverschreibungen zu 5 Prozent, sowie in 9 Punkten die näheren Ausgabebedingungen. Die Schuldverschreibungen können von der B.I.Z. erst nach Ablauf von 3 Jahren vom Zeitpunkt der Unterzeichnung des Abkommens begeben werden. 15 Jahre nach der Unterzeichnung werden die von der B.I.Z. nicht untergebrachten Schuldverschreibungen annulliert. Der Ausgabekurs ist 90 Prozent.

Bemerkenswert ist Punkt 6, wonach im Falle, daß die Reichsregierung im Auslande mit oder ohne ihre Garantie Anleihen auflegt, sie bis zu einem Drittel das Nettoeinkommen dieser Anleihen zum Rückkauf der Schuldverschreibungen verwenden muß. Gegebene Vorschüsse für die gleiche Zeit oder weniger als ein Jahr bleiben davon unberührt. Punkt 7 besagt, falls zu irgendeinem Zeitpunkt die B.I.Z. der Ansicht ist, daß der Kredit der deutschen Reichsregierung wiederhergestellt ist, jedoch die Anleihekurse unterhalb des Mindestpreises der Emission liegen, so kann eine Zweidrittelmehrheit des Verwaltungsrates der B.I.Z. den Mindestpreis ändern.

In allen anderen Fragen (Punkt 8) faßt der Verwaltungsrat der B.I.Z. seine Entschließungen mit Stimmenmehrheit.

Das Tributabkommen mit Deutschland erklärt den vollständigen Abschluß des bisherigen Reparationssystems. Die bisherigen Abmachungen und Verträge über die Reparationszahlungen Deutschlands kommen damit in Fortfall.

Aus diesem Grunde werden das Solldepot der Reichsbank bei der B.I.Z. in Höhe von 65 Millionen Mark sowie die von der [386] Reichsbahn bei der B.I.Z. hinterlegten Obligationen in Höhe von 460 Millionen Mk. frei. Die zukünftigen Verpflichtungen Deutschlands betragen damit für die Endregelung der Tribute die Verzinsung und Tilgung der Schuldverschreibungen des Deutschen Reiches in Höhe von 3 Milliarden Mark und würden damit theoretisch 180 Millionen Mark jährlich ausmachen. Da jedoch die Schuldverschreibungen nach dem dreijährigen Vollmoratorium von 1935 an nur in Abschnitten auf den internationalen Markt kommen und die ganze Frage der Aufnahme dieser Schuldverschreibungen auf dem internationalen Kapitalmarkt vollständig unübersichtlich ist, kann die 1935 tatsächlich eintretende finanzielle Belastung Deutschlands gegenwärtig noch gar nicht bestimmt werden. Die gesamten Schuldverschreibungen des Reiches in Höhe von 3 Milliarden werden im Falle der normalen Tilgung nach 37 Jahren getilgt. Die nach 15 Jahren noch nicht ausgegebenen Schuldverschreibungen werden gelöscht.

Weiter bestehen bleiben dagegen diejenigen Verpflichtungen, die auch von dem Hoover-Moratorium nicht berührt waren, also die Verzinsung und Tilgung der Dawes- und Younganleihen in Höhe von insgesamt 150 Millionen Mark, die jährlichen Besatzungskosten in Höhe von 21 Millionen Mark, das belgische Mark-Abkommen mit 22 Millionen Mark und die sogenannten Mixed Claims in Höhe von 41 Millionen Mark jährlich. Zuzüglich der rechnungsmäßig vorgesehenen 180 Millionen würde sich eine rechnerische Belastung von 414 Millionen jährlich ergeben. –

Wegen dieses Ausganges der Konferenz wurde Papen in Deutschland von der Rechten stark angegriffen. Große Hoffnungen waren enttäuscht worden. "Frankreich hat gesiegt!" war das Urteil der nationalen Kreise, während die Linke von einem "schönen Erfolg der Erfüllungspolitik" (im Vorwärts) sprach. Die Nationalsozialisten rückten infolge von Lausanne noch weiter von dem "Ministerium der nationalen Ohnmacht" ab, als sie dies bereits infolge der inneren Wirren taten. Ihr Führer Adolf Hitler erklärte, der Vertrag von Lausanne, der eine Belastung des deutschen Volkes mit 3 Milliarden bringe, werde in 6 Monaten nicht mehr drei Mark wert sein. Während Macdonald und Herriot bei der Rückkehr in ihre Länder mit be- [387] geistertem Jubel empfangen wurden, bereiteten die Berliner dem Reichskanzler von Papen einen kühlen Empfang.

Papen führte zur Rechtfertigung seiner Haltung in Lausanne mehrere Gründe an. Hätte Deutschland abgelehnt, sagte er, so würde die ganze Welt Deutschland allein die Schuld hieran beigemessen haben. Der Zusammenbruch der Konferenz würde aber eine neue schwere Erschütterung für Deutschlands Handel und Wirtschaft bedeuten, ja, jeder Aufschwung in Deutschland würde dann unmöglich geworden sein. Es hätte auch die Gefahr bestanden, daß der Zinsen- und Tilgungsdienst für die privaten deutschen Auslandsschulden nicht mehr möglich gewesen wäre und die Privatgläubiger versucht hätten, ihre Forderungen durch Rückgriffe in die deutsche Wirtschaft zu sichern. Die Durchsetzung der politischen Forderungen erwies sich als eine einfache Unmöglichkeit.

Es gelang allerdings Papen nicht, seinen unerwarteten Vorstoß gegen die politischen Fundamente des Versailler Vertrages erfolgreich durchzuführen. Immerhin kam die tatsächliche Beseitigung des Youngplanes und der Tribute einer tatsächlichen Beseitigung von Teil VIII und Artikel 231 gleich, und es war ein Erfolg, daß die unklaren und dehnungsfähigen Bestimmungen des Youngplanes über ein Sanktionsverfahren, das die Großmächte über den Haager Gerichtshof in bestimmten Fällen einleiten konnten, endgültig gestrichen wurden. Auch war es Papen gelungen, die von der Gegenseite verlangte deutsche Anerkennung der Verknüpfung des Lausanner Abkommens mit der alliierten Schuldenregelung aus dem Abkommen zu beseitigen. Die Verbindlichkeit des Gentlemen-Agreements für Deutschland war durch die Erklärung Macdonalds am Abend des 8. Juli klar und deutlich abgelehnt worden. Das Ergebnis der Lausanner Konferenz war also das, daß man sich lediglich auf die Beseitigung des Youngplanes beschränkte und daß sowohl die Gläubigermächte wie auch Deutschland auf ihre politischen Klauseln verzichteten.

Drei Dinge genügten Papen für das Ergebnis von Lausanne: erstens, daß Deutschland nicht in die gemeinsame europäische Schuldnerfront gegen Amerika eingereiht wurde, sodann, im Falle einer Nichtratifizierung des Lausanner Abkommens eine [388] Rückkehr zum Youngplan nicht erwogen wurde, und schließlich, daß Macdonald sich bindend für Deutschlands Gleichberechtigung erklärt hatte. Im Gegensatz zu den früheren deutschen Regierungen hatte Papen diesmal mit England gegen Frankreich Politik gemacht. Im Haag, Januar 1930, hatte Wirth noch die gegenteilige Politik verfolgt.

Dr. Schacht, der frühere Reichsbankpräsident, welcher die Haager Politik der Reichsregierung aufs schärfste mißbilligte, beglückwünschte Papen zu dem Lausanner Ergebnis. Daß in Lausanne nicht mehr erreicht worden sei, meinte Schacht, komme daher, daß die ganze Lausanner Konferenz unter dem Druck der Vorbereitungen des vorhergehenden Kabinetts gelegen habe. Die Vorbereitungen seien nicht aus dem Geiste des Kämpfens, sondern aus dem des Duldens geboren gewesen. Wäre die Lausanner Konferenz nach den Reichstagswahlen zusammengetreten, so würde der nationale Lebenswille Deutschlands in ganz anderer, eindrucksvollerer Weise die deutschen Unterhändler haben schützen können.

  Bedeutung der Konferenz  

Lausanne steht im Zwielicht zweier Zeiten. Die Zerrüttung der deutschfeindlichen Front von 1919 offenbarte sich in deutlicher Weise.

Zunächst in der Auslegung des Gentlemen-Agreements. Herriot, und mit ihm Frankreich, klammerte sich mit allen Kräften an die Vergangenheit. Um dieser Vergangenheit neue Lebensmöglichkeit zu geben, war die enge Verbindung zwischen deutschen Tributen und alliierten Kriegsschulden zur Voraussetzung für die Ratifizierung des Abkommens erklärt worden. Würde diese Voraussetzung nicht erfüllt, werde man zum Youngplan zurückkehren. Ganz anders Macdonald. Im Prinzip einer Streichung der Schulden und Tribute zustimmend, erklärte er noch in Lausanne, daß, falls die Voraussetzung des Gentlemen-Agreements nicht gegeben sei, man nicht zum Youngplan zurückkehren, sondern eine neue Konferenz einberufen werde. Das hatte er ganz eindeutig und in aller Öffentlichkeit den Deutschen versichert.

Dann Italien: es hatte zwar seine Unterschrift unter das Gentlemen-Agreement gesetzt, trat aber in seiner Forderung [389] einer endgültigen Streichung der deutschen Tribute auf die Seite Deutschlands.

Amerika, der Gegner Deutschlands von 1919, war zum Bundesgenossen von 1932 geworden. Es machte den europäischen Gläubigern Deutschlands schwere Vorwürfe wegen des Gentlemen-Agreements und erklärte eine weitgehende Abrüstung als Voraussetzung für jede Schuldenrevision seinerseits.

Die Rückwirkung von Lausanne auf die Genfer Konferenz ergab sich auch noch auf einem andern Gebiete: Macdonald gab den Deutschen das Versprechen, für ihre Gleichberechtigung in Genf sich einzusetzen, das er allerdings bis zur Vertagung der Konferenz nicht einlöste.

Deutschland aber führte zum ersten Male einen wuchtigen Vorstoß gegen die Fundamente von Versailles und meldete seine Revisionsforderungen an, alle Wünsche der Franzosen auf Verzicht einer Revision und insbesondere auf Verzicht einer Grenzrevision im Osten standhaft ablehnend.



Geschichte unserer Zeit
Dr. Karl Siegmar Baron von Galéra