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[Bd. 3 S. 52]

2. Kapitel: Die Zustände im Reich, Cunos Sturz,
Aufgabe des passiven Widerstandes.

Als die Franzosen an der Ruhr einfielen, befand sich das deutsche Volk in einem trostlosen Zustande innerer Zerrissenheit. Es war kaum ein halbes Jahr vergangen, seitdem die Nation durch die Ermordung Rathenaus bis in ihre tiefsten Tiefen erschüttert worden war. Die politischen Gegensätze, welche durch dieses Ereignis aufgedeckt worden waren, waren viel zu elementar, als daß sie durch eine Katastrophe, die von außen über das Volk hereinbrach, hätten verwischt werden können. Die wirtschaftliche Not wuchs von Tag zu Tag. Es gab nicht nur Arbeiter und Angestellte, sondern auch viele hunderttausende bürgerliche Familienväter, die nach sorgenvoll durchwachten Nächten jedem Morgengrauen entgegenbangten, weil sie nicht wußten, wie sie für ihre Kinder und Familien das tägliche Brot beschaffen sollten. Die Mark war vernichtet (galten doch 5000 Papiermark kaum noch eine Goldmark), Vermögen und Sparpfennige waren zerstört. Aber ein stiller Grimm gegen die wenigen Großkapitalisten fraß sich in die Herzen, wodurch eine weitere Zerklüftung des Volkes herbeigeführt wurde. –

  Maßnahmen der Regierung  

Cuno hatte vom ersten Augenblicke an den französischen Ruhreinfall als völkerrechtswidrig verurteilt. Er konnte nicht daran denken, den Eindringlingen mit Waffengewalt entgegenzutreten, wenn er nicht das wirtschaftliche Herz Deutschlands, das Ruhrgebiet, in einen rauchenden Trümmerhaufen verwandelt sehen wollte. Und aus der Erkenntnis heraus, daß Deutschland keine materielle Gewalt anwenden konnte und durfte, bemühten sich der Reichskanzler und seine Minister um so mehr, die sittlichen Kräfte des Volkes zu mobilisieren, sie verkündeten den passiven Widerstand und forderten von allen den Willen zum Aushalten. Nun, es zeigte sich, daß die Deutschen an Rhein und Ruhr, welche unmittelbar unter der drakonischen Grausamkeit der Franzosen zu leiden hatten, [53] ziemlich geschlossen diesen passiven Widerstand durchführten, wenn es auch dort schon Verräter an der deutschen Sache gab. Wie anders aber sah es doch im unbesetzten Gebiete aus!

Die Reichsminister wurden nicht müde, den Willen zum Widerstande wach zu halten in den Massen. Man rief zu freiwilligen Spenden für das deutsche Volksopfer auf, um damit die Bedrängten und die Vertriebenen zu unterstützen. Und in der ersten Begeisterung kamen namhafte Summen zusammen, die aber zum größten Teile durch die Geldentwertung aufgezehrt wurden. Die Landwirte spendeten Lebensmittel, jeder, der nur irgend etwas entbehren konnte, trug sein Scherflein dazu bei, die Not der Ruhrkämpfer zu lindern. Familien nahmen die Kinder der Vertriebenen auf und pflegten sie, als seien es ihre eigenen. Im Reichshaushalt wurde ein besonderer Posten von 500 Milliarden für Unterstützungszwecke an Vertriebene, Beamte, Angestellte, Sozial- und Kleinrentner, gemeinnützige Anstalten, Kinderspeisungen, für die Versorgung des Ruhrgebietes mit Lebensmitteln, Entschädigung für Requisitionen, Kreditgewährung an leistungsschwache Gemeinden eingesetzt. Ein Notgesetz wurde vom Reichsrat angenommen, worin die obersten Landesbehörden ermächtigt wurden, Vorschriften über Einschränkungen von Vergnügungen und Lustbarkeiten herauszugeben; Schieber und Wucherer sollten an den Pranger gestellt werden, ihre Namen sollten öffentlich in Zeitungen und Anschlägen bekanntgegeben werden. Dem Reichspräsidenten wurde die Befugnis erteilt, in besonders kritischen Zeiten den Paßzwang und Sichtvermerkszwang einzuführen. Den Vertriebenen wurde ein Vorzugsrecht vor allen anderen Wohnungssuchenden eingeräumt. Schließlich wurde der Reichsregierung das Recht der Gesetzgebung übertragen, die erforderlich sein würde, um den Folgen des Ruhreinfalles unter der Bevölkerung nach Möglichkeit vorzubeugen. Man dachte in erster Linie an wirtschaftliche Gesetze. Die Regierung wurde mit Vollmachten ausgestattet, die etwas Diktatorisches hatten. Der Reichstag, der sich solange und immer durch seinen schleppenden Geschäftsgang als hemmendes Element erwiesen hatte, [54] sollte ausgeschaltet werden, wenn es Fragen zu lösen galt, welche sich auf den Krieg an der Ruhr bezogen.

Der Reichspräsident Ebert gab mehrere Verordnungen heraus, welche das gleiche Ziel verfolgten, das Volk vor den Gefahren des Ruhrkampfes zu schützen. So verordnete er Anfang März, daß Spione, welche dem Feinde wirtschaftliche, politische oder militärische Angelegenheiten verraten, mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren oder lebenslänglichem Zuchthaus bestraft werden sollten. Dieselbe Strafe wurde allen denen angedroht, die solche Spione verbergen, aufnehmen oder ihnen Beistand leisten. Vier Wochen später (29. März [1923]) verbot der Reichspräsident, Waren zu liefern oder sonstige Leistungen zu bewirken, wenn bekannt sei oder den Umständen nach angenommen werden müsse, daß sie unter Mitwirkung von Dienststellen der an der Ruhrbesetzung beteiligten Mächte oder anderer nach den deutschen Vorschriften nicht zuständigen Stellen dem Besteller oder einem sonstigen Empfänger zugeführt werden sollten. Es erwies sich auch als notwendig, daß man unsichere Kantonisten, von denen angenommen werden konnte, daß sie die Franzosen und Belgier an der Ruhr unterstützten, in ihrer persönlichen Freiheit beschränkt werden mußten, wenn sie in das besetzte Gebiet reisen wollten. Eine dementsprechende Verordnung ließ der Reichspräsident am 17. April verkünden.

  Ministerreden  

Die Reichsregierung unterließ nichts, mit Wort und Schrift eine eindrucksvolle Propaganda für den passiven Widerstand zu entfalten. Die Minister reisten im Reiche herum, hielten Reden und erläuterten den Sinn des stillen Kampfes an der Ruhr. Ihre ganze Tätigkeit stellten sie unter den hohen Gedanken, den Schiller in der Rütliszene seines "Wilhelm Teil" zum Ausdruck bringt:

      "Wer von Ergebung spricht,
      Soll rechtlos sein und aller Ehren bar.
      Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern,
      In keiner Not uns trennen und Gefahr."

Es war ein Kampf um hohe Ziele, um sittliche Ziele: Freiheit und Einheit. Cuno und seine Minister waren von diesem [55] Geiste getragen, und sie besaßen den rechten Willen, ihn dem Volke einzuflößen. Auf einer Rede in Darmstadt führte der Reichsinnenminister Öser (13. Februar) aus:

      "Die Linie des Widerstandes geht dahin, daß keine deutsche Hand sich rühren darf, um den Feinden ihre Maßregeln in Deutschland zu erleichtern, und jeder deutsche Kopf muß denken: Was kann ich an dieser Stelle, auf die ich gestellt bin, tun, um meinem Vaterlande zu helfen? – Ein Nachgeben darf es hier in keiner Hinsicht geben. Der Widerstand muß auf der ganzen Linie durchgeführt werden in der Ablehnung alles dessen, was unrechtmäßig von uns verlangt wird... Unser Endziel ist, Deutschland freizumachen von jeder Fremdherrschaft, die deutschen Hoheitsrechte wiederherzustellen und uns zu Herren unserer eigenen Wirtschaft zu machen."

In Stuttgart erklärte Cuno, der Reichskanzler (am 23. März):

      "Der passive Widerstand in der Art, in der er geleistet wird, ist meines Erachtens unüberwindlich, wenn die Voraussetzungen für die Weiterführung dieses passiven Widerstandes so gesichert sind, wie sie es heute unbedingt sind. Es gibt kein Mittel und keine Waffe, die die verschränkten Arme des Bergmannes wie des Eisenbahners zur Tätigkeit bringen könnte, es kommt nur auf eins noch ganz besonders an, darauf, daß diese Disziplin, diese Selbstzucht, diese moralische Stärke, die uns die Ruhr- und Rheinbevölkerung Tag für Tag zeigt, auch übertragen wird auf uns alle im unbesetzten Gebiet. Wer die innere Ordnung stört, indem er unbesonnen handelt, von welcher Seite es immer kommen mag, vergeht sich am Vaterland."

Aber gerade dies letzte war es, was die Regierung Cuno trotz allem guten Willen nicht verhindern konnte. Das deutsche Volk war infolge jahrelanger innerer Zerrüttung zu sehr in parlamentarische Anschauungen und parteipolitische Doktrinen verbissen, als daß es sich vorbehaltslos der Führung einer Regierung anvertraut hätte, von der es außerdem feststand, daß sie auf sehr schmaler parteipolitischer Basis stand. Die Regierung hatte nicht die Kraft, in der schweren Stunde des Reiches ihren Willen durchzusetzen, denn eine der größten Parteien, die Sozialdemokratie, befand sich, wenn auch [56] anfänglich nicht in offener, so doch aber in feststehender und gegebener Opposition. Diese wurde geradezu bis zur Feindseligkeit gesteigert in der Furcht, daß, wie dies infolge der Ruhrbesetzung der Fall war, sich ein starkes Nationalempfinden erhob und daher die Gefahr bestand, daß die bürgerliche Regierung, nicht durch Sozialdemokraten gezügelt und gebändigt, schwach genug sein könnte, sich von den nationalistischen Kräften fortreißen zu lassen. Welche furchtbaren Perspektiven blutiger Verwicklungen nach außen und nach innen eröffneten sich in diesem Falle! Darum betrachtete es die Sozialdemokratie als ihre Aufgabe, die Wucht des passiven Widerstandes abzuschwächen, die Energie des nationalen Gewissens zu paralysieren. Sie wollte, indem sie die Regierung Cuno der Kraft beraubte, die Republik vor nationalistischen und monarchistischen Gefahren schützen, denn diese Gefahren wurden um so größer, je länger Cuno und seine Umgebung die Kraft besaßen, den passiven Widerstand durchzuhalten. Die gefährlichen Folgen eines siegreichen Krieges an der Ruhr waren den Sozialdemokraten von vornherein klar. Sie mußten, wie schon 1918, so auch hier, darauf hinarbeiten, daß die deutsche Regierung zum mindesten keine Erfolge gegen Frankreich errang. Nur so glaubte sie ihre Erfolge von 1918 sichern zu können.

Schon die Reichstagssitzung vom 13. Januar zeigte, daß der Wille zum passiven Widerstande keineswegs Allgemeingut der Nation war. Zwar war sich der Reichstag von rechts bis noch weit in die Sozialdemokratie hinein einig in der Verurteilung des Ruhreinfalles, und der Protest hiergegen wurde mit 283 Stimmen angenommen. Nur 12 Kommunisten stimmten dagegen, und 16 Sozialdemokraten enthielten sich der Stimme. Da erhob sich dann der Kommunist Frölich und bestritt dem Bürgertum das Recht zur Entrüstung, weil es von jeher selbst für Gewaltpolitik gewesen sei. Die Kommunisten fühlten sich in dieser Stunde als Brüder ihrer französischen Genossen, einig mit ihren ausländischen Brüdern, vor allem mit Sowjetrußland. Man bedürfe keiner nationalen Einheitsfront, sondern der Einheitsfront des Proletariats. Nur der Sturz der Regierung Cuno [57] könne das deutsche Volk retten. Und im preußischen Landtag hieb der Kommunist Dahle in die gleiche Kerbe. Der Feind der Arbeiterschaft sei der Kapitalismus überhaupt, und zu seiner Bekämpfung solle die Arbeiterschaft eine Einheitsfront bilden. Cuno sei ebenso eine Marionette der deutschen Industriellen wie Poincaré ein Hampelmann der französischen. Nur das deutsche Proletariat könne das deutsche Volk retten. – In der Geschichte der deutschen Republik gab es noch nie einen Augenblick, da der Zwiespalt zwischen den Linksradikalen und der jeweiligen Reichsregierung überbrückt worden wäre. Jetzt aber, in der Stunde, da der Feind in deutsches Land eingebrochen war, mußte die besondere Betonung dieses Zwiespaltes und die Forderung des Regierungssturzes von vornherein die Zuversicht am Gelingen des Ruhrkampfes heftig erschüttern.

  Kommunistisch-sozialistische  
Quertreibereien

Gar bald fanden aber die Kommunisten mehr und mehr Bundesgenossen in der Sozialdemokratie. Diese, stets voller Argwohn gegen die Monarchisten und überall Komplotte gegen die Republik witternd, knurrte vor Groll, daß eine Regierung, an der sie keinen Teil hatte, mit diktatorischen Machtmitteln ausgerüstet wurde. Hatte doch der Reichstag selbst die Regierung zu allen Maßnahmen ermächtigt, welche notwendig sein würden, um die wirtschaftlichen und sozialen Gefahren abzuwenden. Die Steuerdebatte Ende Januar gab den Sozialdemokraten im Reichstag die beste Gelegenheit, um der Reichsregierung vor breitester Öffentlichkeit eine gehörige Bremse anzulegen.

      "Die Kritik des Auslandes an dem französischen Gewaltakt", meinte der Sozialist Wels am 25. Januar, "ist zurückzuführen auf die Abneigung gegen den Militarismus. Die Stimmung des Auslandes würde sich sofort gegen Deutschland wenden, wenn an die Spitze der deutschen Abwehraktion Männer wie Ludendorff und Helfferich träten. Der Staat ist erst durch die Demokratie zur Volkssache und nationalen Angelegenheit geworden, die uns den Widerstand an der Ruhr ermöglicht. Wenn jetzt die von der Rechten geförderten Faschistenelemente die Zerklüftung unseres Volkes betreiben, dann ist das Verrat an der nationalen Sache. Darum ist es so sehr bedauerlich, daß zwischen [58] den Nationalsozialisten und gewissen Stellen der Reichswehr Verbindungen bestehen... Die Feindschaft gegen die Republik wird von den pensionierten Offizieren gefördert, die zusammen 50 Milliarden von der Republik als Pensionen beziehen, mehr als die Renten aller Kriegskrüppel betragen. Wann kommt endlich das Gesetz über die Kürzung der Pensionen?"

Seine Parteigenossen Breitscheid und Ledebour und Frölich, der Kommunist, unterstützten Wels in seiner Polemik, indem sie behaupteten, nur das Proletariat zahle Steuern. Die Stundung der Kohlensteuer infolge des Ruhreinfalles sei eine Ungerechtigkeit. Besonders scharf griffen sie Helfferich, den Vorkämpfer der Steuerpolitik der Rechtsparteien, an.

Das war schon eine gefährliche Saite, die von der Sozialdemokratie angestimmt wurde. Sie griff zu den Waffen des Klassenkampfes, um die nationale Erhebung zu dämpfen und der Regierung Cuno das Handeln zu erschweren. Wurde doch schon im Ruhrgebiet selbst die Stimme des Thersites laut. Am 28. Januar waren die von den Franzosen verurteilten Industriellenführer nach Essen zurückgekehrt, von vielen Tausenden Essener Einwohnern umjubelt. Doch schon am nächsten Tage brachte die sozialdemokratische Essener Arbeiterzeitung Artikel gegen die deutschen "nationalistischen Orgien", "gegen das nationalistische Gesindel", die "agrarischen Wucherer" und die "deutschen kapitalistischen Ausbeuter". Das große sozialdemokratische Organ des Ruhrreviers drohte, daß die Gewerkschaften im Falle der Wiederholung nationaler Kundgebungen gegen Frankreich die Arbeitermassen "zum Schutze der Republik" aufbieten würden, damit dem "nationalistischen Gesindel" die Lust an weiteren nationalistischen Kundgebungen "ausgetrieben" werden könnte. Außerdem wurde gedroht, daß das Ruhrvolk durch den Wucher des deutschen Kapitals "zur Verzweiflung getrieben" werde. So wurden die Geister zielbewußt gegen die deutsche Regierung mobilisiert.

Diese Kräfte der Opposition stärkten sich im Laufe der Zeit, da die wirtschaftliche Bedrängnis infolge des Ruhrkampfes immer stärker wurde. Die Kaufkraft der Mark sank [59] immer mehr, die Lebensbedürfnisse wurden immer teurer, der Eisenbahnverkehr wurde eingeschränkt; um den notwendigsten Verkehr aufrechtzuerhalten, mußte aus England sogar Steinkohle in Menge eingeführt werden, ein Ereignis, das in der Wirtschaftsgeschichte Deutschlands, des Landes der Steinkohlen, einzig dastand.

  Nationale Organisationen  

Die nationalen Organisationen standen zu Cuno, doch hatten sie mit zwei Schwierigkeiten zu kämpfen: es fehlte die einheitliche Leitung, und sie mußten im geheimen wirken. Bald nach dem Rathenaumord waren auf Grund der Republikschutzgesetze fast sämtliche rechtsgerichteten Verbände, unter anderen auch die große nationale Frontkämpferorganisation "Stahlhelm", aufgelöst worden. Damit waren diese Verbände allerdings nicht von dem Erdboden verschwunden. Die örtlichen Vereinigungen erstanden unter anderem Namen wieder als Turnerschaften, Wandervereine, Kegelklubs usw. So gab es einen Sportklub "Olympia", einen Vergnügungsklub "Humboldt" usw. Manche glaubten festgestellt zu haben, daß die Mitgliederzahl der Rechtsverbände infolge der Unterdrückung noch erheblich zugenommen habe.

Die Sozialdemokratie fürchtete diese unsichtbare Macht, die etwa eines Tages nach dem Vorbild des italienischen Faschismus die Gewalt an sich reißen könnte. Da gab es vor allem die Organisation des Oberleutnants Roßbach. Dessen Soldaten, ehemalige Baltikumkämpfer, hatten, wie die Brigade Ehrhardt, tätigen Anteil am Kapp-Putsch genommen. Nach dessen Scheitern wurde das Freikorps, das noch vollkommen nach außen hin seinen militärischen Charakter hatte, durch die Regierung Bauer zur Bekämpfung der Kommunisten an der Ruhr geschickt. Hiernach zog sich die Truppe nach Pommern, in den Kreis Greifenhagen zurück. Hier herrschte die größte Unsicherheit. Kein Einwohner wagte, das Dorf zu verlassen. Banden trieben sich auf den Feldern herum, welche die Ernte stahlen. Da bewährten sich die Roßbacher als ausgezeichneter Schutz auf den Gütern. Sie waren in Hundertschaften eingeteilt, die auf pommerschen Gütern und Rittergütern zerstreut lagen und dort als Aufseher, Flurschutzbeamte oder Landarbeiter Dienste verrichteten. Die Landbesitzer, welche wohl wußten, [60] welchen Schutz sie den Leuten Roßbachs zu danken hatten, verstanden auch die Organisation vor der Auflösung zu bewahren, welcher um die Mitte 1921 alle anderen Selbstschutzorganisationen verfielen. Nach außen hin erschien sie dezentralisiert, und das Band des inneren Zusammenhangs war der Öffentlichkeit verborgen. Der Charakter dieses Verbandes ließ sich nicht genau feststellen. Es handelte sich zwar um Zivilisten, die dem Berufe einfacher Arbeiter nachgingen. Aber es war eine gewisse militärische Organisation und Disziplin nicht zu verkennen. Auch hielten sich die Leute an die Gesetze und Bestimmungen, die sie aus der Zeit des aktiven Militärdienstes her kannten. Sie behaupteten, bei Truppenteilen der Reichswehr registriert zu sein. Da ihnen aber kein Sold gezahlt wurde, mußten sie ihren Lebensunterhalt durch Landarbeit verdienen.

Vier Jahre bestand diese Vereinigung nun, und es war infolge ihres friedlichen Charakters als Arbeitertruppe sehr schwer, ja unmöglich, sie aufzulösen. Dem widersetzten sich auch die Rittergutsbesitzer. Die Truppe ergänzte sich dauernd durch Leute, die aus der Reichswehr ausschieden. Besonders auffällig war es, daß die Roßbacher streng über die Hütung des Geheimnisses wachten, das über ihnen ruhte. Es fiel auf, daß hin und wieder Angehörige dieses Bundes verschwanden, die ihren Kameraden nicht hinlänglich sicher erschienen oder sich durch irgendwelche Äußerungen des Verrates verdächtig gemacht hatten. Man fand dann plötzlich irgendwo im Walde oder an einer abgelegenen Stelle ihre Leichen. Aus diesen Vorgängen entwickelten sich später die sogenannten Prozesse wegen der Fememorde, doch ist keineswegs einwandfrei festgestellt worden, daß es sich um irgendwelche auf Grund bestehender Satzungen anbefohlene Mordtaten handelte.

  Deutschvölkische  
Freiheitspartei

Diese Organisation wurde das Rückgrat des nationalen Widerstandes gegen die Ruhrbesetzung. Der Oberleutnant Roßbach ging im Januar daran, die einzelnen losen und lokalen Verbände der aufgelösten vaterländischen Organisationen zu sammeln und zu Ortskartellen zusammenzuschließen. Er bediente sich dabei der Deutschvölkischen Freiheitspartei, welche Ende 1922 als Zuflucht für die Mit- [61] glieder der aufgelösten Verbände gegründet war und nach außen hin, um keinen Anlaß zum Verbot zu geben, als politische Partei erschien, während sie innerlich analog den vaterländischen Verbänden organisiert war. Aus dem Drange der vaterländisch Gesinnten, wieder in einer großen Organisation vereinigt zu sein, bildete sich auch der "Wehrwolf", eine neue große Vereinigung, ein Sammelbecken für alle Männer, welche die französische Tyrannis ablehnten. Auch junge, militärisch nicht geschulte Leute wurden hier aufgenommen. Der "Wehrwolf" verbreitete sich alsbald über ganz Norddeutschland und gründete in allen Städten und größeren Orten Ortsgruppen, in denen sich besonders Arbeiter, Angestellte, Handwerker und Bauern zusammenfanden. So war tatsächlich in dem Streben, deutsches Land und deutsches Volk zu befreien, durch die Ruhrbesetzung der Franzosen neue Tatkraft entfacht. Die Unterdrückungs- und Knebelungsmaßnahmen, die in Norddeutschland seit August 1921 gegen alles, was nationale Freiheit und Macht forderte, ergriffen wurden, waren nicht imstande, die starke Lebenskraft dieser Bewegung zu ersticken und zu erdrücken. Im Frühjahr 1923 gelang es, sämtliche vaterländische Organisationen unter eine einheitliche Führung zu sammeln in der großen Spitzenorganisation: "Vereinigte Vaterländische Verbände Deutschlands", nachdem auch das Verbot des "Stahlhelms" wieder aufgehoben worden war.

  Nationalsozialisten in Bayern  

Eine geräuschvollere Initiative entfaltete die nationalsozialistische Bewegung in Bayern. Die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei war nach dem Zusammenbruch 1918 von einem Schlosser Drechsler gegründet worden. Sie hatte ein sozialistisches Ziel: den Kampf gegen den Wucherkapitalismus, und ein nationales: aktive Abwehr des Versailler Friedensdiktates. Die Partei stand also weder ausgesprochen links noch ausgesprochen rechts, hatte aber, besonders in Süddeutschland, aus Arbeiterkreisen starken Zulauf. Auch trat sie sehr energisch für den

  Adolf Hitler  

Anschluß Österreichs an Deutschland ein. Der Träger des Anschlußgedankens war vor allem auch Adolf Hitler, der, 1889 in Braunau, Oberösterreich, geboren, die Führung der Partei 1919 übernommen hatte. Die [62] Nationalsozialisten, an und für sich robust und radikal, waren der Ansicht, daß man dem flagranten Rechtsbruch Frankreichs an der Ruhr nur mit der Waffe entgegentreten könne. Es wurde allen Ernstes bei vielen Leuten der Gedanke laut, eine Armee aufzustellen und an den Rhein zu marschieren. Da die Regierung Cuno jedoch, in der Erkenntnis der Katastrophe, die aus diesem gutgemeinten, aber undurchführbaren Projekte für Deutschland entstehen würde, derartige Ideen als absurd abwies, gab es auch nach dieser Seite hin, wie gegen Sozialdemokraten und Kommunisten, Spannungen und Reibungen.

  Parteitag in München  

Die bayerische Regierung empfand das laute Wesen der Nationalsozialisten unangenehm. Am 27. Januar sollte in München der Parteitag der Nationalsozialisten stattfinden. Am Tage zuvor eröffnete die bayerische Regierung Kahr, die rechtsgerichtet war, den nationalsozialistischen Führern, daß angesichts der gespannten Lage sämtliche Veranstaltungen und Festlichkeiten unter freiem Himmel verboten seien. Hitler war empört, behauptete, so etwas gäbe es nicht, und drohte mit Gewalt gegen den Staat. Daraufhin wurde der Ausnahmezustand verhängt und der Innenminister Dr. Schweyer zum Generalstaatskommissar ernannt. Dieser verbot für den folgenden Tag sämtliche zwölf von den Nationalsozialisten angesetzten Versammlungen sowie die von Sozialdemokraten und Kommunisten geplanten Gegenversammlungen. Jedoch das Volk war hiermit nicht einverstanden, und die bürgerliche Presse, besonders die Münchener Neuesten Nachrichten, übten scharfe Kritik an der Regierungsmaßnahme. Darauf nahm die Regierung die gegen die Nationalsozialisten ausgesprochenen Verbote im wesentlichen zurück. Es blieben nur die öffentlichen Umzüge und Versammlungen unter freiem Himmel untersagt, die allerdings von den Nationalsozialisten niemals angekündigt oder in Aussicht genommen waren. Abgesehen von den geschlossenen Versammlungen der aus Norddeutschland und Österreich Eingetroffenen, wurden sechs öffentliche Versammlungen und die Fahnenweihe des nationalsozialistischen Sturmtrupps im Zirkus Krone gestattet.

Die Nationalsozialisten hatten infolge der von ihnen [63] geforderten Befreiungsaktion für das Ruhrgebiet ungeheuren Zulauf, und so kam es, daß sie mehr als die sechs erlaubten Versammlungen abhielten, die von vielen Tausenden besucht wurden. Man erging sich in maßlosen Angriffen gegen die bayerische Regierung. Hitler leitete die Tagung ein mit einem Aufruf im Völkischen Beobachter. Er brachte wütende Drohungen gegen die Sozialdemokratie vor, und hielt den sozialistischen Führern ihr "infames Verbrechen" vor. Er forderte unerbittliche Vergeltung für den "größten Gaunerstreich der Weltgeschichte".

      "Wie nun auch das Schicksal seine Hiebe auf Deutschland fallen lassen mag, solange dieses Volk nicht den Meuchelmördern im eigenen Körper das Handwerk legt, wird ihm ein Erfolg nach außen nie beschieden sein. Während man papierne und rednerische Proteste gegen Frankreich hinausbläst, ist der Todfeind der deutschen Rasse noch innerhalb der Mauern des Reiches und treibt sein wühlerisches Handwerk weiter. Nieder mit den Novemberverbrechern, mit all dem Geflunker und Geschwätz von Einheitsfront usw.! Hüten wir uns, zu vergessen, daß sich zwischen uns und die Volksbetrüger, Arbeiterverführer und bürgerlichen Parteiverbrecher zwei Millionen Tote schieben! Unser Rechtsempfinden sagt uns, daß nicht nur der kleine Dieb zu hängen ist, sondern der große National- und Vaterlandsverräter zu richten ist."

Hitler hielt in den Versammlungen aufpeitschende Reden, und rauschender Beifall belohnte ihn. Jedoch, seine Ideen waren zu extravagant, als daß sie bei der großen Masse nachhaltigen Widerhall gefunden hätten, abgesehen von einer kleinen Schar, die unentwegt zu ihm hielt und allerdings auch beträchtlich angewachsen war. Man nahm eine Entschließung an, worin sofortige Ungültigkeitserklärung des Versailler Vertrages, Einstellung jeglicher Geld- und Sachlieferungen, sofortige Währungsreform, rücksichtsloser Kampf gegen Vaterlandsverräter, Aufhebung der Republik-Schutzgesetze, Verhaftung der Novemberverbrecher und die Todesstrafe gegen Wucherer und Schieber gefordert wurde. –

  Reichswehr  

Ein großer Zug der Freiheitsbegeisterung rauschte durch das deutsche Volk. Er ergriff auch die Reichswehr, und viele Offiziere und Soldaten brannten auf den Augenblick, da sie [64] in den Kampf gegen Frankreich ziehen durften. Und dennoch war die deutsche Freiheitsbewegung jener Tage zum Scheitern verurteilt, aus verschiedenen Gründen. Bei vielen, sehr vielen kam der Wille, das Vaterland von der Fremdherrschaft zu befreien, aus tiefster, innerster, heiliger Überzeugung. Sie waren durchdrungen von aufrichtiger Vaterlandsliebe. Dann aber gab es auch sehr viele, die aus reiner Abenteurerlust sich nach dem ungebundenen Leben des Krieges sehnten, sei es, daß ihnen die Energie zu andauernder Arbeit fehlte, sei es, daß sie hofften, als Soldaten allen wirtschaftlichen Nöten entrückt zu sein. Diese geistige Zwiespältigkeit, welche ideale und materielle Gründe vermengte, konnte auf die Dauer nicht ein Heer schaffen, das Großes zu leisten imstande war. War doch die Anschauung von der widerspruchslosen Pflichterfüllung, wie sie die Grundlage und die Stärke der alten Armee war, in den letzten Jahren bedenklich erschüttert worden, seitdem es keine allgemeine Wehrpflicht mehr gab. Dann aber mußte jeder einsichtige Beobachter von vornherein zugeben, daß ein bewaffneter Aufstand für Deutschland der Ruin sein würde. In dem Augenblick, da bewaffnete Deutsche den Marsch an die Ruhr antreten würden, standen eine Million Franzosen und Belgier, aufs beste und modernste ausgerüstet, mitten in Deutschland und verwandelten blühende Städte und Gefilde in trostlos zerstörte Wüsten. Und würden überhaupt England, Italien, Polen, die Tschechoslowakei und wie sie alle heißen – würden sie bei einem solchen Waffengange untätig zugesehen haben? Zu guter Letzt wären die deutschen Sozialisten und Kommunisten der Regierung Cuno in den Arm gefallen, sobald sie Miene gemacht hätte, den Krieg zu eröffnen. Es war phantastisch, an Krieg zu denken, und aus diesem Grunde lehnten der Reichskanzler und der Reichswehrminister alle Vorschläge ab, die sich etwa in dieser Richtung bewegten.

Dann aber noch etwas anderes: die deutsche Freiheitsbewegung jener Tage war zu geräuschvoll. Sie ließ außer acht, was die Geschichte lehrte, daß nur in der Stille, in unbemerkter Heimlichkeit die Früchte der Freiheit reifen. Gewiß gab es kleine Gruppen, die verschwiegen waren und arbeiteten, ohne daß es gesehen wurde; aber sie befanden [65] sich, im ganzen betrachtet, in einer derartig verschwindenden Minderzahl, daß sie keinen Ausschlag geben konnten. Schließlich aber fehlte die einheitliche Führung, die Hauptvorbedingung für jedes große Unternehmen, welches Erfolg haben soll. Die Kräfte waren zu zersplittert, und jede Gruppe behauptete, sie allein beschreite den richtigen Weg, und jeder Führer von hundert Mann betrachtete sich im stillen als den berufenen Befreier Deutschlands. Es fehlte die große, zusammenfassende Energie des wirklichen Führers. Hitler hielt faszinierende Reden, damit aber war seine Kraft erschöpft, und Ludendorff, der große Praktiker des Weltkrieges, dachte nicht daran, die Führung einer ungeschulten Truppe zu übernehmen. – Da die Dinge so standen, war an eine erfolgreiche Erhebung nicht zu denken.

In den Köpfen der Sozialdemokraten und Kommunisten aber spukte die faschistische Gefahr. Die an sich schon bestehende Nervosität der Linksparteien wurde durch die überlaute Rührigkeit der nationalen Elemente noch verstärkt, sie wuchs aber besonders dadurch, daß man, wie ich bereits zeigte, der bürgerlichen Regierung Cuno nicht recht traute. Es war geradezu der selbstverständliche Gang der Dinge, wenn die Anhänger der Linksparteien bald vergaßen, daß die Franzosen an der Ruhr standen, und nur auf Mittel und Wege sannen, die "Faschisten" zu unterdrücken. Es bildete sich bald ein zielbewußtes Programm heraus, in dem vor allem vier Ziele aufgestellt wurden: Abbau des passiven Widerstandes, der nur die Tätigkeit der vaterländischen Verbände stärkte, die ihn in einen aktiven Widerstand umwandeln wollten, Auflösung der vaterländischen Organisationen, Bewaffnung roter, proletarischer Hundertschaften und Kampf gegen die Reichswehr, die vermeintlich reaktionär, monarchisch gesinnt war. –

Erhöhte Tätigkeit
der Linksparteien
  in Thüringen und Sachsen  

Nach dem Schluß des nationalsozialistischen Parteitages in München zerstreuten sich seine Teilnehmer wieder in Deutschland. So kam ein Zug von etwa 500 Personen, der nach Norddeutschland wollte, auch durch Thüringen. Die sozialistische Regierung dieses Landes ließ von diesen 370 Personen verhaften – darunter 40 [66] Offiziere –, während der Rest entkommen konnte. Man fand bei den Verhafteten Geheimbefehle, welche zur Bildung von Freischaren aufforderten. Es kamen noch andere derartige Fälle vor. In Sachsen wurde sogar wegen solcher Vorkommnisse von den Kommunisten die sozialdemokratische Regierung gestürzt. Der sozialistische Innenminister Lipinski hatte schon beim Beginn des Ruhreinbruchs vor Unbesonnenheiten gewarnt. Die Regierung werde alle Kraft einsetzen, um neuen Kriegstreibereien und einem neuen Kriegsbrande entgegenzuwirken. Da fand Ende Januar in Leipzig eine Versammlung der Rechtsparteien statt, die von den Kommunisten angegriffen und gestört wurde. Bei der Aussprache im Landtage hierüber warfen die Kommunisten der sächsischen Regierung vor, sie unterstütze die Gegenrevolution. Die Kommunisten brachten einen Mißtrauensantrag ein, der von den Deutschnationalen und Demokraten unterstützt wurde. Es stimmten 54 Stimmen für, 39 sozialdemokratische Stimmen gegen den Antrag. Dies hatte den Rücktritt der Regierung zur Folge (30. Januar). Der Landtag

  Zeigner-Regierung in Sachsen  

unternahm mehrmals den vergeblichen Versuch, eine neue Regierung zu bilden. Der bürgerlichen Uneinigkeit war es schließlich zu danken, daß am 21. März der radikalsozialistische Dr. Zeigner mit 49 Stimmen zum Ministerpräsidenten gewählt wurde. Es begann nun ein schärferer Wind in Sachsen zu wehen. Wie sich Bayern in der Folgezeit als Stützpunkt der radikalnationalen Elemente entwickelte, so wurde Sachsen von jetzt an zum Sammelpunkt der radikal-sozialistischen Kräfte. Zwei Gegensätze wuchsen heran, nahmen zu an Kraft und Umfang, so daß sie in späteren Monaten eine ernste Gefahr für die Einheit des Reiches bedeuteten.

Die sächsischen Kommunisten hatten eine ungeheure Angst davor, daß die Nationalsozialisten von Bayern das Reich erobern und die Republik stürzen könnten. Um diese faschistische, konterrevolutionäre Erhebung zu vereiteln, forderten sie bereits am 27. Januar unverzüglich Arbeiterwehren, Unterdrückung aller reaktionären Verbände und Verhaftung der Führer. Den ganzen Februar hindurch füllten in Sachsen Verhandlungen zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten [67] über die Regierungsbildung aus, und schließlich wurde zwischen den Verhandlungsausschüssen eine Einigung erzielt. Die Kommunisten traten zwar nicht in die Regierung ein, denn das hätte ihren Grundsätzen widersprochen, aber sie versprachen, eine neue sozialdemokratische Regierung zu unterstützen, wenn eine Amnestie für Not- und Abtreibungsdelikte verkündet, das Gesetz über Arbeiterkammern durchgeführt, Maßregeln zur Wucherbekämpfung ergriffen und proletarische Abwehrorganisationen gegen die faschistische Gefahr gebildet würden. Diese proletarischen Hundertschaften sollten gemeinsam von beiden Parteien errichtet werden und sozusagen eine Verstärkung der staatlichen Polizei darstellen. Am 19. März gaben die beiden Parteien ihre Zustimmung zu dieser Vereinbarung, welche über die Unterstützung einer sozialdemokratischen Minderheitsregierung durch die Kommunisten zustande gekommen war. Der Regierung Zeigner, die nun zwei Tage später gebildet wurde, war die Marschroute also klar und unzweideutig vorgezeichnet.

Der sozialdemokratische Parteivorstand in Berlin hatte bereits am 6. Februar die Notwendigkeit verkündet, scharf den Trennungsstrich gegen die "nationalistische Verhetzung" zu ziehen und den "Kampf gegen die politische Reaktion nachdrücklich fortzusetzen". Fünf Tage später nahm die sozialdemokratische Partei Thüringens in Weimar mit zwanzig gegen neun Stimmen eine Entschließung an, in der es hieß, daß es nach vier Wochen Ruhrbesetzung immer klarer werde, daß die weitere, schier unbegrenzte Fortdauer dieses Zustandes – des passiven Widerstandes nämlich – zur wirtschaftlichen und politischen Katastrophe führen müsse; der passive Widerstand werde nicht zu dem gewünschten Erfolge führen, "wenn der Kampf nicht gleichzeitig durch eine entsprechende, zielklare Außenpolitik der Reichsregierung abgekürzt und beendet werde". Man müsse zurückkehren zur Erfüllungspolitik, der "wichtigsten Voraussetzung für den Beginn erfolgreicher Verständigungsverhandlungen". In dieser Richtung müsse ein Einfluß auf den Reichskanzler Cuno ausgeübt werden. Der Nationalismus sei durchaus abzulehnen, denn die deutsche und [68] französische Schwerindustrie wollten sich nur vertrusten, um das Proletariat auszubeuten. Um die Erfüllungspolitik erfolgreich aufzunehmen, sei Erfassung der Sachwerte notwendig. Auch die radikale Ledebourgruppe, die am 30. und 31. März in Berlin tagte, lehnte Einheitsfront und passive Resistenz entschieden ab und forderte die Arbeiter geradezu auf, den Ruhrkonflikt zu benutzen, um das deutsche Kapital zu der von ihm verschuldeten Wiedergutmachung zu zwingen. Ledebour war zwar der Ansicht: "Wir dürfen nichts tun, was so ausgelegt werden könnte, als wollten wir Poincaré und seine Soldateska unterstützen", aber er blieb stark in der Minderheit.

  Zeigners Kulturpolitik  

Thüringen und Sachsen fühlten sich bewußt als die republikanischen Bollwerke Deutschlands gegen das reaktionäre Bayern und gegen die unzuverlässige Reichsregierung. Schon gleich nach dem Ruhreinfall, im Februar, begann ein systematischer Kampf in Sachsen gegen die bürgerliche Weltanschauung und Wirtschaftsweise. Es gehörte zu den letzten Taten des Ministeriums Buck, daß man gegen Kirche und Religion zum Angriff überging, und Zeigner ging auf diesem Wege weiter. Man entzog der christlichen Kirche die finanzielle Grundlage, indem man sich weigerte, den notleidenden Pfarrern von Staats wegen Zuschüsse zu geben. Die Inflation hatte die Kirchenvermögen vernichtet, und es gab keine Mittel, um die Beamten zu besolden. Es kam vor, daß Pfarrer, welche Väter kinderreicher Familien waren, sich kärglichen Lebensunterhalt verdienen mußten, indem sie wochentags als einfache Handarbeiter in Fabriken oder Bergwerken arbeiteten. Aber man ging viel weiter. Nicht genug, daß zwei christliche Feiertage aufgehoben wurden, wurde ein Gesetz veröffentlicht, welches an staatlich nicht anerkannten Feiertagen Lehrern und Schülern künftig in keinem Falle mehr Unterrichtsbefreiung zum Zwecke der Teilnahme an religiösen Feiertagshandlungen gewährte und jede Art religiöser Beeinflussung außerhalb des Religionsunterrichts verbot. Andachten, Gebete und Kirchenlieder waren nur noch auf die Religionsstunden beschränkt. Schüler, die hiergegen verstoßen würden, sollten unverzüglich von der Schule verwiesen werden. Jetzt gab es in den Schulen verwegene Gotteslästerungen zu hören, und das Heilige und [69] Erhabene, das in junge Herzen gepflanzt werden sollte, wurde in den Kot gezogen. Statt vom Kreuzestode des Erlösers unterhielten sich die Lehrer mit ihren Schülern über nichtswürdige Dinge. Man erörterte die Frage der freien Liebe und veranstaltete Nackttänze. Mit Gewalt sollten die Gewissen in die Gottlosigkeit des Materialismus gezwungen werden, denn die Religion diente der Verdummung der Massen. Der Haß gegen die "Pfaffen" und gegen die Kirche wurde schon der zartesten Jugend eingeimpft. Bittrer Unmut, tiefer Groll aber erwuchs hiergegen in den Eltern, in den Familien.

Die sächsische Regierung strebte danach, das Ideal der sozialistischen Schule nicht bloß auf dem Gebiete der Religionsfeindschaft zu verwirklichen. Unentgeltlich sollte der Besuch der Schulen und Hochschulen werden, die Lernmittel sollten frei sein. Lehrer, die sich diesen Zielen widersetzten, wurden gemaßregelt. Auch die anderen Gebiete des Gemeinschaftslebens unterlagen der sozialdemokratischen Diktatur. Leute, die wegen der Not- und Abtreibungsverbrechen verurteilt worden waren, wurden begnadigt. Die Amnestie wurde gegen die Stimmen der Bürgerlichen durchgesetzt. Besonders in der Justiz führte Zeigner ein strenges Regiment. Verdächtige Beamte wurden ihres Amtes enthoben. Der Minister erzog, wie es einmal im Reichstag ausgedrückt wurde, seine Beamten durch Druck auf den Magen zu Republikanern. Es bildete sich ein System von Gesinnungsschnüffelei und Denunziantentum heraus, das alle moralischen Empfindungen überwucherte. Der Beamte mißtraute seinen Kollegen, denn ein wohlorganisiertes Spitzelsystem breitete sich über den ganzen Staat. Jede unbedachte Äußerung konnte zum Verhängnis werden, denn es konnte in jener Zeit der Inflation keinen Beamten ein größeres Unglück treffen als dieses, brotlos zu werden. Selbst in den Familien war Vorsicht geboten, denn die Wände hatten Ohren. Und wenn schon ein Beamter die Aufmerksamkeit des Ministers erregt hatte, dann war er vom Schicksal gezeichnet. Jeden Augenblick konnte der Blitz auf ihn niederfahren. Von den Gerichten war kein Schutz zu erwarten. Fanatische Sozialdemokraten wurden zu Staatsanwälten bestellt, und diese beherrschten als Freunde des Ministers die Rechtsprechung, [70] besonders bei politischen Vergehen. Von Sozialdemokraten und Kommunisten wurden Arbeiterhundertschaften gebildet, die augenblicklich bereit waren, in der Stunde der Gefahr der Polizei zu Hilfe zu eilen. Diese selbst war im Sinne der Regierung radikal gereinigt worden. Zeigner beabsichtigte auch, das sozialistische Wirtschaftsprogramm zu verwirklichen. Er erklärte am 3. April im Landtag, seine Regierung werde alles tun, was geeignet sei, um die Entwicklung von der Privatwirtschaft zur Gemeinwirtschaft vorwärtszutreiben. Den Arbeitern versprach er eine umfangreiche Kontrolle in den Betrieben einzuräumen.

  Zustände in Thüringen  

Die Zustände in Thüringen glichen vollkommen denen in Sachsen. Auch hier triumphierte der fanatische Haß gegen Kirche und Religion. Das Bildungsniveau der Lehrer sank zusehends, da nicht mehr Kenntnisse und Fähigkeiten, sondern Parteistandpunkt ausschlaggebend war. Die sittlichen Bande der Schule lockerten sich. Der Pfarrer war eine geächtete Persönlichkeit. Arbeiterkommissionen kontrollierten die Gaststätten, daß der Bourgeois keine Milch, keine Sahne, keine Butter verzehre, um nicht den Proletarierkindern die Milch zu entziehen. Die Lebensmittelpreise wurden diktiert, und in der Verteilung wurde die Arbeiterschaft bevorzugt. Im Reichsinnenministerium hatte im März eine Besprechung mit dem thüringischen Staatsminister Frölich stattgefunden über die Bildung von proletarischen Selbstschutzorganisationen. Frölich erklärte zwar im Landtag, diese Konferenz sei in den kollegialsten Formen vor sich gegangen, habe aber zu keiner Einigung geführt. Die thüringischen Minister hätten erklärt, daß, solange sich die rechtsradikalen, republikfeindlichen Kampforganisationen bemerkbar machten, man den Parteien nicht verbieten werde, den Schutz der Republik durch Abwehrorganisationen zu sichern und wahrzunehmen. Wenn die rechtsradikalen Kampfverbände tatsächlich beseitigt würden, würden die von den republikanischen Parteien gebildeten Verbände von selbst verschwinden. Die akute antirepublikanische Gefahr sei sehr groß, wie aus einem Abteilungsbefehl hervorgehe, den man bei einem in Gera verhafteten Kurier gefunden habe. Es wurden in der Tat im April und Mai zur [71] Abwehr des Faschismus von Sozialdemokraten und Kommunisten sogenannte republikanische Notwehren begründet, welche der Regierung als Ergänzung der Polizei zur Verfügung stehen sollten. Diese roten Hundertschaften waren gut bewaffnet und machten unbekümmert, zumeist abends und nachts, teilweise sogar am Tage Felddienstübungen. Die Sozialisten waren auch mit den Kommunisten über den Eintritt in die Regierung in Unterhandlungen getreten, doch brachen die Sozialisten diese Besprechungen ab (26. Mai), da die Kommunisten zuviel Sitze verlangten.

Auseinandersetzungen
in den Landtagen
  Preußens und Bayerns  

So schob sich ein starker sozialistischer Keil zwischen den Norden und den Süden Deutschlands. Doch auch in Preußen und Bayern machten die Sozialdemokraten Vorstöße gegen die Rechtsorganisationen; die Kommunisten gingen weiter und verlangten Bewaffnung proletarischer Hundertschaften. Am 24. März hatte der preußische Landtag abzustimmen über einen kommunistischen Antrag, der die Auflösung der bürgerlichen Selbstschutzorganisationen und die Bewaffnung proletarischer Abwehrformationen forderte. Dieser Antrag wurde im ersten Teil gegen die gesamte sozialistische Linke, im zweiten gegen die Stimmen der Kommunisten abgelehnt. Selbst den preußischen Sozialdemokraten schien es ein gefährliches Spiel mit dem Feuer, den Freunden der Bolschewisten Gewehre in die Hände zu geben. Man hatte aus den Aufständen der früheren Jahre gelernt. Nichtsdestoweniger waren die Kommunisten weit entfernt, ihren Lieblingsgedanken aufzugeben. Half ihnen nicht der Staat, nun, so halfen sie sich selber. Sie vereinigten sich in den Städten und auf dem Lande zu militärischen Einheiten, die zwar keine Waffen hatten, sich aber dennoch in Feld und Wald bei Hörnerklang und Trommelwirbel kriegerischen Gefühlen hingaben.

Karl Severing.
[Bd. 4 S. 80a]      Karl Severing.
Photo Scherl.
Nun kam es doch vor, daß sich in unmittelbarer Nachbarschaft Thüringens die Dinge weiterentwickelten, als es der preußischen Staatsregierung angenehm war. Irgendwoher, man weiß nie genau, wie sich so etwas abspielt, waren rote Hundertschaften plötzlich mit Waffen ausgerüstet worden und brüsteten sich mit ihrem militärischen Schmuck vor dem Volke. Diese mit Recht aufsehenerregende Erscheinung veranlaßte den [72] preußischen Innenminister Severing unverzüglich, Mitte April ein Polizeikommando nach Suhl zu schicken, welches den kriegsbegeisterten Proletariern die Gewehre wieder wegzunehmen hatte. Ohne Zweifel standen die Vorgänge in Thüringen im Zusammenhange mit denen des Ruhrgebiets. Nach Mülheim im besetzten Ruhrgebiet reichte allerdings der Arm des preußischen Ministers nicht, daher konnten sich dort, wie wir schon sahen, Tumulte und Unruhen entwickeln, die von den bewaffneten Kommunisten angezettelt und von den Franzosen gebilligt wurden. Die Suhler Vorgänge riefen bei den Kommunisten ein lautes Geschrei hervor, und der Landtag hatte sich des langen und breiten noch einmal mit der Frage zu beschäftigen, ob es zulässig sei, Kommunisten Gewehre in die Hand zu geben. Severing, welcher Sozialdemokrat und preußischer Innenminister war, verneinte die Frage entschieden. Ebenso unverantwortlich wie es sei, Kindern die Waffe in die Hand zu drücken, sei es, den Kommunisten Gewehre auszuliefern. Ja, eine Staatsregierung, die dies tue, begehe geradezu Selbstmord. Davon aber könne keine Rede sein, und es liege auch keine Veranlassung dazu vor. Immerhin aber, so meinte er: "Diese Arbeiterbataillone sind bei weitem nicht so gefährlich wie die Organisationen von rechts."

Severing gegen die
  Deutschvölkische Freiheitspartei  

Auch Severing war nervös geworden durch die hohe Aktivität der vaterländischen Verbände. Dies verleitete ihn dazu, die Deutschvölkische Freiheitspartei aufzulösen, und als diese hiergegen Einspruch erhob, trat der Staatsgerichtshof der Severingschen Verordnung bei, und die Partei blieb verboten. Die Sozialdemokratie und die Minister sahen die Partei als die logische Fortsetzung der aufgelösten Organisationen an und begrüßten die Severingsche Verordnung. Die Deutschvölkische Freiheitspartei war, wenn man sich einmal so ausdrücken darf, das Gehege, in welchem Roßbach und seine Freunde wirkten. Sie war nach außen hin das Schild, welches die militärische Freiheitsbewegung dem Staate gegenüber decken sollte, indem man der Ansicht war, daß die Konstituierung als Partei der parlamentarisch-politische Freibrief, das Amulett war, welches vor dem Eingreifen der Staatsgewalt schützen sollte. Roßbach selbst wurde verhaftet und [73] dem Untersuchungsgefängnis des Reichsgerichts zugeführt. Er berief sich zwar darauf, um sich zu rechtfertigen, daß er mit den höchsten Stellen des Reiches, dem Reichskanzler Cuno und dem Kommandierenden General der Reichswehr, Seeckt, in Verbindung gestanden und mit deren Einvernehmen gehandelt habe. Doch Seeckt wie Cuno sagten ohne Umschweife aus, daß Roßbach zwar die Verbindung mit ihnen gesucht habe, sie selbst aber diese nicht hätten zustande kommen lassen. Laute Anklagen wurden im Landtage laut. Severing geißelte die gefährliche Tätigkeit der Partei, er legte ihre letzten Beweggründe dar und deckte das Wesen der Organisationen auf. Er häufte Vorwürfe auf die Führer, Ludendorff, Hitler, Roßbach, Hennig, Wulle, von Gräfe. Wochenlang wühlte und rumorte die Angelegenheit der Deutschvölkischen Freiheitspartei in Volk und Parlament wie ein Fieber, das, zu früh unterdrückt, unter der Oberfläche weiterglimmt und schüttelt, bis es langsam verlischt. Mitte Mai gab es noch im Reichstag eine große Debatte darüber. All die längst bekannten Vorwürfe und Verdächtigungen der Sozialdemokraten wurden wieder vorgebracht: die Deutschvölkische Freiheitspartei sei nur ein Deckmantel, unter den alle verbotenen Organisationen unterschlüpfen könnten; Roßbach sei der Führer, und in den einzelnen Provinzen seien Unterführer eingesetzt. Man sprach von einem Kriegsplan zur militärischen Niederwerfung Berlins, den man gefunden haben wollte. Man behauptete, daß in der Reichswehr nach einwandfreien Feststellungen elf Millionen Mark für die Partei gesammelt worden seien. So lag ein Geist des Mißtrauens und der Schwäche auf dem Volke, statt daß es einig gewesen wäre in der entschlossenen Abwehr all der Gewalttaten, welche die Ruhrtragödie mit sich brachte.

In Bayern hatten die Sozialdemokraten im März den Antrag eingebracht, alle bestehenden Sturmabteilungen und Sturmtrupps sofort aufzulösen, wirksame Vorkehrungen gegen Neubildungen zu treffen und die Ausübung der verfassungsmäßigen Versammlungsfreiheit unverzüglich sicherzustellen. Demgegenüber brachte die Bayerische Volkspartei einen Antrag ein, der erklärte, daß Stoßtrupps, Sicherheitsabteilungen usw. einen doppelten Zweck verfolgen können: entweder den [74] Schutz der Versammlungsfreiheit der eigenen Partei oder Störung der Versammlungsfreiheit anderer Parteien. Deshalb solle die Regierung ersucht werden, in jedem Einzelfalle nachzuprüfen, welche Ziele verfolgt würden. Demgemäß sollten Organisationen, die Gewalttätigkeit, Bedrohung der Staatsgewalt oder Gefährdung der öffentlichen Ordnung bezweckten, unnachsichtlich sofort unterdrückt werden, Einrichtungen aber, die nach ihrem Programm oder ihren Satzungen lediglich einen geordneten Selbstschutz verfolgten, sollten scharf auf Einhaltung der Satzung überwacht und jeder Verstoß sollte streng bestraft werden.

Die Demokraten suchten sich den Forderungen der Sozialdemokratie, etwas gemildert, anzuschließen. Sie beantragten deshalb, alle Sturmabteilungen, Stoßtrupps, bewaffnete Sicherheitsabteilungen oder sonstige parteipolitisch eingestellte Organisationen ähnlicher Art, die zum gewaltsamen inneren Kampf in Land und Reich bestimmt seien, sofort aufzulösen und wirksame Vorkehrungen gegen Neubildungen zu treffen, ferner die Ausübung der Versammlungsfreiheit unverzüglich sicherzustellen und die Störungen dieser Freiheit unnachsichtlich zu ahnden.

Am 20. März hatte sich der Verfassungsausschuß des Bayerischen Landtages mit diesen Anträgen zu beschäftigen. Bei der Abstimmung ergab es sich, daß die Anträge der Sozialdemokraten und der Demokraten abgelehnt wurden, dagegen derjenige der Bayerischen Volkspartei mit fünfzehn gegen zwölf Stimmen Annahme fand. Auch als der Landtag am 24. April über die Anträge abstimmte, wurden diejenigen der Sozialdemokraten und Demokraten abgelehnt, dagegen derjenige der Bayerischen Volkspartei angenommen. Im Grunde genommen war ja die Prüfung, ob ein Trupp dem Schutz oder der Störung von Versammlungen diente, und das Ergebnis dieser Prüfung höchst subjektiver Natur, und es hätte keineswegs des Antrages der Bayerischen Volkspartei bedurft, denn tatsächlich blieb alles so, wie es war.

  Sozialistisch-Kommunistische  
Vorstöße in Bayern

Auch die Kommunisten rührten sich in Bayern. Sie bildeten rote Hundertschaften, wie sie es in Sachsen, Thüringen und Preußen sahen. Den 1. Mai begingen sie wie alljährlich, so auch diesmal in festlicher Weise. Der robuste Charakter der [75] Bayern, das gute Bier und der Furor der Nationalsozialisten brachten es mit zwingender Notwendigkeit dahin, daß es vielerorts zu ganz soliden Holzereien und Raufereien kam. Es war für beide Teile ein großes Gefühl der Befriedigung und Erleichterung, wenn sie erst einmal ihren Groll gegeneinander entladen hatten. Das veranlaßte die bayerische Regierung am 11. Mai, ihr Volk auf die "Gefahren von zwei Seiten" hinzuweisen und zur Ruhe zu ermahnen. Entschieden wurde die "Diktatur des Proletariats" verurteilt. "Eine Staatsregierung, die auf Autorität hält, darf nicht zugeben, daß private Organisationen oder doch deren Führer sich eine vom Staate unabhängige Gewalt beilegen und sich der Regierung entgegenstellen." Aus dieser richtigen Erkenntnis heraus wurde eine Notverordnung vom gleichen Tage verkündet, die jeden mit exemplarischen Strafen bedrohte, wenn er die öffentliche Ruhe störte, das Versammlungsrecht mißbrauchte und das öffentliche Leben vergiftete. –

Zu diesen innerpolitischen Schwierigkeiten gesellten sich alsbald die schweren wirtschaftlichen Nöte, welche an dem Willen der Regierung Cuno zum passiven Widerstande rüttelten. Der Arbeiter seufzte und hungerte, der Unternehmer sah seine Sachwerte mit dem Werte der Mark zerfließen. Gar manchem mag schon nach wenigen Wochen der Gedanke gekommen sein, es sei besser, den passiven Widerstand aufzugeben und sich mit Frankreich zu vergleichen. Es war das Resultat einer schüchternen Betrachtungsweise, geboren aus der Sorge um Zukunft und Existenz. Bereits am 20. März verfaßte der Geheimrat Fritsch, der einem Kreise von Bankiers angehörte, eine Denkschrift, worin er den Gedanken eines "kooperativen Zusammengehens" mit Frankreich erörterte. Er forderte geradezu Unterwerfung unter den vertragsbrüchigen Gegner und Anerkennung der französischen Vorherrschaft, um einen Zusammenstoß der deutschen und französischen Industrie zu ermöglichen. Es waren dies Lieblingsgedanken einer Gruppe internationaler Industrieller und Bankiers, die auf einen Zusammenschluß der französischen Steinkohle und des deutschen Stahles hinarbeiteten. Die Denkschrift blieb auf den kleinen Kreis derjenigen beschränkt, für die sie hergestellt [76] worden war, und insofern hatte sie keine Bedeutung für das Volk. Auch auf Cuno hatte sie keinen Einfluß. Dadurch aber, daß die hierin ausgesprochenen Gedanken auch in maßgebende Kreise des Auslandes eindrangen, spornte sie die Hoffnung der Franzosen an und erschütterte das Zutrauen zum deutschen Volke. Insofern hatte die Denkschrift einen Anteil am weiteren rapiden Sinken der Mark.

  Cunos Note vom 2. Mai  

Wesentlich wichtiger war es, daß Lord Curzon am 20. April im Oberhause den Gedanken äußerte, sobald Deutschland mitteilen werde, wieviel es zahlen könne und ein Garantieangebot an Frankreich mache, werde sich Englands Hilfe für beide Parteien zeigen. Er hoffe, daß auf dieser Linie noch eine Lösung gefunden werden könne. Es war der englischen Regierung auf alle Fälle darum zu tun, daß Europa aus der Sackgasse herauskam, in die es sich durch den Ruhreinfall der Franzosen verrannt hatte. Lord Curzon gab eine Anregung, einen Fingerzeig, und Cuno begriff den Wink. Am 2. Mai ging eine gleichlautende Note der deutschen Regierung an Amerika, England, Belgien, Italien, Japan und Frankreich ab. Sie machte Vorschläge zur Regelung der Reparationsfrage, um, wie man sagte, die ständig sich verschärfende Spannung zu lösen. Deutschlands Gesamtverpflichtungen in Bar- und Sachleistungen wurden auf 30 Milliarden Goldmark begrenzt, von denen 20 Milliarden bis zum 1. Juni 1927, 5 Milliarden bis zum 1. Juni 1929 und der Rest bis 1. Juni 1931 durch Ausgabe von Anleihen aufzubringen seien.

      "Die deutsche Regierung ist überzeugt, daß sie mit diesem Vorschlag bis an die äußerste Grenze dessen gegangen ist, was Deutschland bei Anspannung aller Kräfte zu leisten vermag; sie hat nach der durch die Ruhrbesetzung verursachten weiteren schweren Störung und Schwächung der deutschen Wirtschaft ernste Zweifel, ob nicht der Vorschlag die Leistungsfähigkeit Deutschlands übersteigt. Die deutsche Regierung ist ferner davon überzeugt, daß kein Unbefangener, der die Schmälerung der Produktionsbasis Deutschlands und die Verringerung seiner Vermögenssubstanz durch die bereits bewirkten großen Leistungen berücksichtigt, bei objektiver Beurteilung zu höheren Schätzungen gelangen [77] kann."

Sollte jedoch keine Einigung erzielt werden, dann schlug man für diesen Fall eine "von jeder politischen Einwirkung unabhängige internationale Kommission" vor, welche die Leistungsmöglichkeiten prüfen und dann die Leistungsverpflichtungen festsetzen sollte. Deutschland sei ferner bereit, seinen gesamten Besitz und seine gesamte Wirtschaft als Garantie zu verpfänden. Die deutsche Regierung ging dann in der Note weiter dazu über, die schon im Dezember 1922 angeschnittene Sicherheitsfrage zu behandeln, wie dies Lord Curzon auch gewünscht hatte.

      "Im gleichen Interesse friedlicher Zusammenarbeit Deutschlands und Frankreichs ist die deutsche Regierung, wie sie auch mit ihrer Anregung zum Abschluß eines Rheinpaktes bekunden wolle, zu jeder friedensichernden Vereinbarung bereit. Insbesondere ist sie zu einer Vereinbarung bereit, die Deutschland und Frankreich verpflichtet, alle zwischen ihnen entstehenden Streitfragen, die nicht auf diplomatischem Wege geschlichtet werden können, in einem friedlichen, internationalen Verfahren zu behandeln, und zwar Streitigkeiten rechtlicher Art in einem schiedsgerichtlichen Verfahren, alle übrigen Streitigkeiten in einem Vergleichsverfahren nach dem Muster der Bryan-Verträge."

Als Voraussetzung für alle Unterhandlungen über Reparationen und Sicherheit forderte Cuno die Wiederherstellung des status quo ante an Rhein und Ruhr, das heißt Räumung des Ruhrgebietes, Rückkehr der Vertriebenen, Aufhebung der verhängten Strafen usw.

  Ablehnung  

Doch schon nach drei Tagen traf Frankreichs Antwort ein. Sie lautete: "unzulänglich und unannehmbar". Die von Deutschland vorgeschlagenen 30 Milliarden seien ja nur der vierte Teil der vom Wiedergutmachungsausschuß festgesetzten Summe. Am 13. Mai antwortete Lord Curzon. England sei enttäuscht, vor allem über das Angebot der unzulänglichen Summe. Man erwarte eigentlich eine viel ernsthaftere und bestimmtere Mitwirkung Deutschlands, welche die Verbündeten als billig und aufrichtig ansehen könnten. Auch Italien, Mussolini, lehnte am gleichen Tage ab. Cuno setzte sich daraufhin mit den großen deutschen Wirtschaftsverbänden in Verbindung und fragte, ob sie bereit seien, [78] sich bis zu einem bestimmten Grade für Reparationsleistungen zu verpflichten; er fragte, ob sie freiwillig im Interesse der Nation einen Teil der Tribute übernehmen wollten. Am 25. Mai übergab der Reichsverband der deutschen Industrie dem Reichskanzler eine Denkschrift. Zunächst wurde festgestellt, daß es völkerrechtlich nicht möglich sei, das Privateigentum für Leistungen des Reiches haftbar zu machen. Im internationalen Verkehr hafte nach wie vor das Reich für die Reparationsleistungen. Dennoch aber sei die deutsche Privatwirtschaft willens, der Reichsregierung zu Hilfe zu kommen und bis zu einem bestimmten Grade die Leistungen zu übernehmen. Voraussetzung sei, daß die Arbeitsleistung des deutschen Volkes gesteigert und die Belastung der Privatwirtschaft verringert werde. Auch die Landwirtschaft erklärte: "Wenn die deutsche Privatwirtschaft, und zwar subsidiär, mithaften soll, so sind den in erster Linie verpflichteten Garanten, Reich und Ländern, Vorausleistungen aufzuerlegen." Es sei zwar nicht gerecht, wenn nur der unbewegliche Besitz haften solle, wenn aber die Landwirtschaft Reparationslasten tragen solle, dann fordere sie Freiheit der Wirtschaft, geringere Steuern, Schutzzölle und Staatsschutz vor sozialistischem Terror.

  Cunos Note vom 7. Juni  

Am 7. Juni ging die deutsche Denkschrift zur Note vom 2. Mai an die interessierten Staaten ab. Das Deutsche Reich bot den Reparationsgläubigern nunmehr folgende Garantien: 10 Milliarden Goldmark Obligationen der Reichsbahn, welche jährlich 500 Millionen Mark Zinsen bringen würden; ferner sollten Industrie, Banken, Handel, Verkehr und Landwirtschaft, die gesamte Wirtschaft, mit 10 Milliarden Goldmark erststelliges Pfandrecht auf gewerblichen, städtischen, land- und forstwirtschaftlichen Grundbesitz belastet werden, woraus ebenfalls 500 Millionen Mark jährliche Zinsen zu erwarten waren; schließlich sollten Zölle auf Genußmittel und Verbrauchssteuern auf Tabak, Bier, Wein und Zucker und der Ertrag des Branntweinmonopols, insgesamt 800 Millionen Goldmark jährlich, verpfändet werden. Im Grunde genommen war es ein furchtbares Angebot, geboren aus der ganzen verzweifelten Not eines [79] großen Volkes: das ganze Deutschland, Besitzende und Besitzlose, beugten sich unter das Kaudinische Joch der Reparationen.

  Erneute Ablehnung  

Aber auch das nahm Frankreich nicht an. Es forderte sofortige Aufgabe des passiven Widerstandes. Im Grunde ihrer Seele hatten ja auch die Franzosen ihr Ruhrabenteuer herzlich satt, der passive Widerstand war ihnen furchtbarer geworden, als sie anfangs geglaubt hatten. Am 3. Juni erklärte der Minister Loucheur bei irgendeiner Gelegenheit in Maubeuge, Frankreich werde bald das Ruhrgebiet verlassen, da Deutschland durch die Besetzung sehr geschädigt sei. Jedoch der Zeitpunkt, da die französischen Truppen zurückgezogen werden sollten, wurde immer weiter hinausgeschoben, denn Poincaré hoffte im stillen, daß der passive Widerstand schließlich eines Tages an der inneren Uneinigkeit des deutschen Volkes zusammenbrechen würde. – Nachdem der zweite Schritt des Reichskanzlers ebenfalls ergebnislos verlaufen war, war für Deutschland die Angelegenheit erledigt, und man unternahm vorläufig nichts weiter in dieser Sache. –

Konflikt zwischen
  Reich und Sachsen  

Um so mehr spitzte sich die Lage im Innern zu. Eine Entscheidung zwischen rechts und links, ein Kampf um Leben und Tod schien immer unvermeidlicher zu werden unter dem Druck der nationalen Not, und der Kampf nahm seine äußere Gestalt an zunächst in einem Konflikt zwischen dem Reich und Sachsen. In aller Stille hatte Zeigner seine Herrschaft befestigt. Justiz und Polizei hatte er sich willfährig gemacht, und die errichteten und heimlich bewaffneten roten Hundertschaften schienen ihm nicht nur eine sichere Rückendeckung gegen irgendwelche unvorhergesehenen Ereignisse, nein, im Hinblick auf sie schien ihm der Augenblick nicht mehr ferne zu sein, da er aus eigener Initiative das sozialistische Regime restlos verwirklichen konnte: Sozialisierung der Wirtschaft, Zerschmetterung der Bourgeoisie. Es waren verwegene Gedanken, die in dem Hirne dieses Mannes reiften; mußte er sich doch sagen, daß er – außer dem kleinen Thüringen – keinen Bundesgenossen in Deutschland hatte und daß Sowjetrußland infolge innerer Veränderungen wenig Aussicht auf Unterstützung bot. Aber die Erregung, die infolge der Teuerung das Volk ergriffen hatte, beflügelte den Mut des Ministers. [80] Ende Mai war es in Dresden vier Tage lang zu ernsten und umfangreichen Erwerbslosentumulten gekommen, und Innenminister Liebmann, Zeigners Genosse, beschuldigte grundlos die rechtsgerichteten Kreise, sie mißbrauchten die Erwerbslosen, um einen Vorwand für ein aktives Eingreifen der Reichswehr zu schaffen.

Zeigners und
  Schützingers Drohungen  

Am 16. Juni hielt der sächsische Ministerpräsident Zeigner in Niederplanitz eine Rede, die gleichsam ein Fanfarenstoß für die kommende Revolution war und in Deutschland nicht nur Aufsehen, sondern Angst und Sorge und Unmut erregte. Die Reichswehr wurde in der rücksichtslosesten Weise angegriffen. Sie sei kein Instrument zum Schutze der Republik, sie sei aufs innigste mit den monarchistischen Geheimorganisationen verkettet. In Wirklichkeit werde die Republik nur durch die Arbeiterschaft geschützt. Es sei nicht Zufall, daß in Leipzig und Dresden rechtsradikale Elemente angetroffen würden, es sei nicht Zufall, daß der Reichswehr die Waffen abhanden kämen. Für Sachsen stehe viel auf dem Spiele; es gehe der Kampf um den Bestand und die Sicherung der Republik; viel müsse noch geschehen. Überall zeige sich eine große Nervosität, es brauche nur der Funke ins Pulverfaß zu fliegen. Cunos Politik sei bankrott; die Ruhrfront zeige Risse. Für Mitteldeutschland bergen die nächsten Monate große Gefahren, und es werde dazu kommen, daß der Arbeiterschaft die Faschisten bis an die Kehle bewaffnet gegenüberstünden. Bayern sei der Sammelplatz und Ausgangspunkt der Bewegung, und wenn Cuno vor einem zweiten Versailles stände und dann abtreten müsse, dann sei der Augenblick für die jungdeutschen und faschistischen Wellen gekommen und auch für Süddeutschland, wo Hitler eine Gefahr für den Staat geworden sei, wo die Faschisten mit der Reichswehr Übungen abhalten. Die Gegensätze würden sich austoben und sich vom Ausgangspunkte fortwälzen. Große Teile Deutschlands würden ihre eigenen Wege gehen.

Diese in Form von Prophezeiungen ausgesprochenen Gedanken enthüllten den Willen und die Absicht der sächsischen Regierung. Ein Bürgerkrieg sollte heraufbeschworen werden, der letzten Endes kein anderes Ziel als die Errichtung der [81] Räteherrschaft und die Zertrümmerung des Reiches hatte. Noch hatten die Führer des Proletariats ihre Hoffnungen und Wünsche auf die Räteherrschaft nicht aufgegeben, und günstiger als in früheren Jahren erschien ihre Verwirklichung in der Not und Bedrängnis, in welche das Volk durch den Ruhrkampf geraten war. Den proletarischen Massen allerdings ging es um etwas anderes, viel Wichtigeres, um Brot. So drängten Führer und Massen der Linken gegenseitig zur Handlung, doch mit verschiedenen Absichten. Die Regierung Cuno erkannte, daß Zeigner anfing, gefährlich zu werden, und sie vermahnte ihn dringend in aller Stille. Doch schon wenige Wochen später ertönte ein zweites Signal zum Bürgerkriege. Der sächsische Polizeioberst Schützinger, ebenfalls eine maßgebende Persönlichkeit, hatte es unternommen, in der Glocke bedenkliche Erörterungen über die "Möglichkeiten eines Bürgerkrieges" zu veröffentlichen. Auch er wählte die von Zeigner angewandte Form einer desinteressiert erscheinenden Betrachtungsweise mit versteckten Aufforderungen. Doch die Geschichte ist unbarmherzig. Sie begleitete diese Ideen und Wünsche mit einem Kommentar blutiger Ironie. Gerade in der Zeit, da Sachsens Proletariat in Schützingers Ausführungen schwelgte, gelang es dem im Leipziger Untersuchungsgefängnis inhaftierten Kapitänleutnant Ehrhardt, zu entfliehen. Am 23. Juli sollte er sich wegen Verstoßes gegen das Republikschutzgesetz vor dem Staatsgerichtshof verantworten; zehn Tage vorher fuhr ein Kraftwagen vor dem Gefängnis vor, dem einige beherzte junge Leute entstiegen. Sie öffneten mit Schlüsseln die eisernen Türen und konnten den auf diese Weise befreiten Gefangenen entführen, ohne daß ihre Handlungsweise irgendwelches Aufsehen erregt hätte. Ganz Deutschland war von einem homerischen Gelächter erfüllt, daß ein solches Ereignis im Machtbereiche des republikschützenden Zeigner und des allgewaltigen Polizeiobersten Schützinger vorfiel!

Indes, die Reichsregierung beantwortete Schützingers Auslassungen mit einer Kundgebung (18. Juli), in der sie versicherte, sie werde rücksichtslos alle Machtmittel einsetzen, um Anschläge gegen Bestand und Verfassung des Reiches nieder- [82] zuwerfen. An welche Adresse die Kundgebung gerichtet war, ließ deutlich der letzte Satz erkennen: "daß die Reichsregierung auch bemüht ist, mit den Landesregierungen von Sachsen und Thüringen im Interesse der ruhigen Entwicklung unserer inneren Verhältnisse ein Einvernehmen zu pflegen, ist bekannt. Sie wird es auch in dieser Beziehung nicht an pflichtmäßiger ernster Aufmerksamkeit fehlen lassen." Die Sächsische Staatszeitung bemerkte dazu offiziös zunächst folgendes: "die Aufmerksamkeit gegenüber Sachsen sei überflüssig". Nachdem sich Zeigner mit seinem Ministerium besprochen hatte, schrieb er, am 25. Juli, einen geharnischten Brief nach Berlin. Er inkriminierte die letzten Sätze, die er wörtlich anführte. Diese Erklärung habe außerordentlich überrascht. Bedürften etwa Sachsen und Thüringen einer besonderen Oberaufsicht? Soll "in dieser Beziehung" behauptet werden, in Sachsen hätten die inneren Verhältnisse derartige Formen angenommen, daß von Sachsen aus ein Bürgerkrieg drohe?

  Antifaschistenkundgebungen  

Am Sonntag, dem 29. Juli, fand die von den Kommunisten veranstaltete große "Antifaschistenkundgebung" statt. Lange Proletarierkolonnen mit wütenden, grimmigen Gesichtern und roten Fahnen wälzten sich von früh bis spät durch die Straßen. Die Internationale wurde gesungen, und an allen Ecken verteilte man Flugblätter blutrünstigen Inhalts gegen den Faschismus, für den Bürgerkrieg und gegen die Regierung Cuno. Ebensolche Reden wurden gehalten. Wie die kommunistische Parteileitung behauptete, hätten sich Millionen von Arbeitern, Arbeiterinnen, Angestellten, Beamten in Stadt und Land unter der Führung der KPD. gesammelt. In Berlin haben nicht die Säle ausgereicht, um die zu den Versammlungen strömenden Mengen zu fassen. Besonders imposant verlief der Tag in Sachsen und Thüringen. Hier marschierten die Massen in einem Umfange auf, der die Zahl der am 1. Mai Demonstrierenden überstieg – unter Zeigners Ägide.

Nach dieser Herzensstärkung erließen die Kommunisten am 1. August ein Bulletin, das, endlos lang wie alle amtlichen Erlasse dieser Partei, schließlich in folgenden Forderungen gipfelte:

      "Gemeinsamer Kampf aller Werktätigen in Stadt [83] und Land zur Eroberung der politischen Macht, zur Erkämpfung der Arbeiterregierung, das ist die gemeinsame nächste Aufgabe. Die Lebensmittel müssen beschlagnahmt werden! Die Devisen des Großkapitals müssen beschlagnahmt werden! Die Wucherer und Schieber müssen ins Zuchthaus! Den Faschisten müssen die Waffen abgenommen werden! Alle Waffen in die Hände der Arbeiter! Fort mit der Regierung Cuno! Fort mit jeder Koalitionsregierung! Es lebe die Arbeiterregierung! Es lebe das Bündnis mit Sowjetrußland! Es lebe der gemeinsame Kampf aller Werktätigen!"

  Streik und Raub  

Millionen berauschten sich an dieser verwirrenden Fülle kommunistischer Herzenswünsche, und alsogleich brachen rings im Lande Streiks aus, nicht einheitlich organisiert, gewissermaßen ohne System und deswegen zur Erfolglosigkeit verurteilt. Der von der Parteileitung geforderte Generalstreik wurde nicht durchgeführt, da sich die Sozialdemokratie nicht beteiligte, und so verzettelte sich die große Aktion, indem sie sich nur auf die Kommunisten beschränkte. Schon in der Frühe der heißen sonnigen Augusttage zogen die jungen Arbeiter mit roten Fahnen, nackter Brust und kurzen Kniehosen hinaus ins Grüne, wobei sie sich lediglich darauf beschränkten, Revolutionslieder zu singen. Sie zogen den unschuldigen Naturgenuß mühseliger und gefährlicher Revolutionsarbeit vor. War es aber schon eine Sünde, wenn in jenen Tagen schwerer wirtschaftlicher Not die Maschinen in den Fabriken stillstanden, so war es geradezu ein Verbrechen, daß die Landarbeiter von den Feldern gingen und die schwerreife Ernte, die in Garben aufgestellt der Einbringung harrte, gewissenlos den Witterungsunbilden und nächtlichen Diebstählen, die damals üblich waren, aussetzten. Ja, vielfach ging man noch weiter. Irgendeine streikende Bande aus der Stadt oder vom Lande fielen wie ein Heuschreckenschwarm über ein gemähtes und gebündeltes Kornfeld her und drosch das Getreide an Ort und Stelle aus, die Körner in Säcke füllend und fortführend. Die Besitzer und die Polizei waren machtlos. Sie wurden in Schach gehalten und vertrieben durch Banditen, welche mit Gewehren, Revolvern und Handgranaten bewaffnet waren. Auch kam es vor, daß nachts der [84] dunkle Himmel in düsterrotem Schein aufflammte, weil irgendwelche Fanatiker gefüllte Getreidescheuern angezündet hatten. So wurde mit dem kostbarsten Gut, das das deutsche Volk damals besaß, mit dem Brotgetreide, gewüstet! Aber die kommunistische Bewegung verzettelte sich. Der Wille war da, aber gelähmt. Es fehlte irgendwo an der hinreißenden und mitreißenden Gewalt: das Volk war ausgehungert, die Massen ließen sich nicht mehr zu einer großen Aktion aufpeitschen. Das Selbstvertrauen fehlte, weil der Magen knurrte. In Deutschland werden nicht nur gute Geschäftsabschlüsse, sondern auch gute Revolutionen nur nach einem handfesten Frühstück getätigt. Sonst bleibt alles Stümperei. Die Revolution mit knurrendem Magen mauserte sich schließlich zu einem regelrechten Mundraub großen Stiles. So auch ist es zu erklären, daß die kommunistische Presse Sachsens einen kläglichen Mißerfolg hatte, als sie am 13. August zum sofortigen Generalstreik aufrief: den Führern ging es noch um politische Ziele, den Massen nur noch um leibliche. Auch das war eine Folge der Inflation.

Zeigners Konflikt
  mit der Reichswehr  

Zeigner indessen schwelgte in seinem Element. Besessen von dem Gedanken, dazu berufen zu sein, den Sozialismus restlos zu verwirklichen, ging ihm in seiner Verblendung jede Vorstellung von der wahren Stärke, oder besser gesagt Schwäche, desjenigen Volksteiles ab, auf den er sich bei seiner Tätigkeit stützte. Er verwechselte seine politischen Ziele mit den wirtschaftlichen Interessen der ihm folgenden Massen und merkte nicht, daß auch die Sozialdemokratie der anderen deutschen Länder in dem Maße von ihm abrückte, als er Zugeständnisse an die Kommunisten machte. Er verfolgte mit maßlosem Haß die Bourgeoisie, zu der er im Grunde genommen als wohlbezahlter Minister selbst gehörte. Jetzt tobte er gegen die Reichswehr und war vermessen genug, sich im Bewußtsein der hinter ihm stehenden Massen die Kraft zuzutrauen, dies letzte Bollwerk der Staatsordnung in Deutschland zu zerbrechen. Der Vorwärts, das sozialdemokratische Organ, hatte Ende Juli die Treue der Reichswehr gegen die Republik angezweifelt. Er stützte sich dabei auf angebliche Dokumente, welche Beziehungen zwischen Reichswehr und monarchistischen [85] Verbänden und einen Vormarschplan gegen Hamburg betreffen sollten. Das war Wasser auf Zeigners Mühle. Am 7. August hielt er in Leipzig vor einer sozialdemokratischen Versammlung eine Rede, in der er maßlose Verdächtigungen gegen das Heer aussprach. Er behauptete, die rechtsradikalen Kreise wollten durch Morde und ähnliche Taten die Arbeiterschaft zum Aufruhr reizen, damit die Reichswehr Grund zum Eingreifen habe. Diese aber sei monarchistisch, und ihre Hilfstruppen seien die Geheimverbände, welche Waffenlager besäßen. Um das Ruhrgebiet herum seien diese Geheimverbände zusammengezogen, sie würden von der Reichswehr organisiert und aus Ruhrkrediten finanziert. Hier könne nur schärfster Kampf der Sozialdemokratie helfen. Es müsse gehandelt werden. Die Partei handle und rücke in der klarsten und schärfsten Weise von der Regierung Cuno ab. Tue sie es nicht, dann möge sie die Anzeige mit dem schwarzen Rande selbst bestellen!

So sinnlos diese Worte waren, so demagogisch aufreizend wirkten sie. Es war ganz natürlich, daß nach dieser Rede der Kommandeur des Wehrkreises IV, Generalleutnant Müller in Dresden, dem Reichswehrminister Dr. Geßler erklärte, die Reichswehr könne unter diesen Umständen nicht an der sächsischen Verfassungsfeier teilnehmen. Diese Erklärung billigte der Minister, worauf die sächsische Regierung den Rücktritt Geßlers forderte, wie dies die Sächsische Staatszeitung in einem amtlichen Artikel "Sächsische Regierung und Reichswehrminister" am 3. September tat. Den ganzen September über setzte Zeigner seinen Kampf gegen den Reichswehrminister in den ungehobelsten Formen fort. Es handle sich darum, daß das Vertrauen der Arbeiterschaft zu einer republikanischen Regierung wiederhergestellt werde. Die Sozialdemokratische Partei im ganzen Reiche sei im wachsenden Umfange in einer lebhaften Bewegung gegen die Reichswehr begriffen, wenn nicht die Frage Geßler endlich geklärt werde. So rechtfertigte der sächsische Ministerpräsident sein Verhalten, als er den Reichswehrminister herausforderte.

Doch etwas geschah: die Regierung Cuno trat ab. Cuno hatte schon längst den Wunsch gehabt, sich von den [86] Geschäften des Reiches zurückzuziehen. Die Verstärkung der inneren Gegensätze erhöhte dies Verlangen. Nun hatte die sozialdemokratische Reichstagsfraktion beschlossen, dem Reichskanzler wegen seiner Tatenlosigkeit ein Mißtrauensvotum zu erteilen, jedoch jede andere Regierung zu unterstützen, die sich verpflichte, gewisse Forderungen, z. B. Aufgabe des passiven Widerstandes, zu erfüllen.

Am 13. August, es war ein Sonntag, fiel die Entscheidung. Die Stille eines drohenden, schweren politischen Unwetters drückte auf Berlin. Totenstill, menschenleer waren die Straßen. Kein Fuhrwerk, kein Automobil, keine Droschke, keine Straßenbahn war zu sehen. Die Elektrizitätswerke arbeiteten nicht. Die unheimliche Ruhe eines lähmenden Streiks lastete auf der Reichshauptstadt. Es schien, als sammle die Verzweiflung des Todes ihre Kräfte, um im nächsten Augenblick mit verheerender Gewalt loszubrechen.

  Rücktritt Cunos  

Im Reichstag hatte die Regierung Cuno die Fraktionen zu sich gerufen, um mit ihnen einen Ausweg aus der fürchterlichen Situation zu finden. Noch war Cuno unentschlossen, ob er zurücktreten solle. Da zeigte sich aber, daß die Deutsche Volkspartei unter ihrem Vorsitzenden, Dr. Gustav Stresemann, die bisher die Reichsregierung unterstützt hatte, auf die Seite der Opposition überschwenkte. Im Laufe der Verhandlungen machte Cuno die Beobachtung, daß er allein stand, daß die Große Koalition von der Volkspartei bis zur Sozialdemokratie eine geschlossene Front gegen ihn bildete. Jetzt war es an der Zeit für das Kabinett Cuno, seine Entlassung zu nehmen. Der Regierung waren die Zügel aus den Händen geglitten, sie scheiterte an ihrer Rat- und Hilflosigkeit. Frankreich gegenüber hatte Cuno Mut und Stärke bewiesen, aber man warf ihm vor, daß er es an ernstem Verständigungswillen habe fehlen lassen. Im Innern war es ihm nicht gelungen, die Verhältnisse zu meistern. In der achten Abendstunde kamen die Parteien der Großen Koalition überein, die Führung des Reiches Dr. Stresemann, dem Vorsitzenden der Deutschen Volkspartei und Vorkämpfer der Großen Koalition, zu übertragen.

  Dr. Gustav Stresemann  

Dr. Gustav Stresemann war am 10. Mai 1878 als Sohn [87] eines Gastwirtes in Berlin geboren. Nach Beendigung seiner volkswirtschaftlichen, geschichtlichen und philologischen Studien in Berlin und Leipzig wurde er Syndikus des Verbandes Sächsischer Industrieller in Dresden und zog bereits als 28jähriger in den Reichstag ein. Ursprünglich ein Anhänger von Friedrich Naumanns Nationalsozialer Partei schloß er sich bald der Nationalliberalen Partei Bassermanns an, deren Vorsitz er nach Bassermanns Tode 1917 übernahm. Stresemann war während des Weltkrieges stark monarchisch und annexionistisch eingestellt. Nach dem Zusammenbruch im November 1918 suchte er maßgebenden Einfluß bei den Demokraten zu gewinnen, wurde dort aber zurückgewiesen, weil er sich während des Krieges stark kompromittiert habe. Stresemann sammelte jetzt die Reste der Nationalliberalen Partei, soweit sie nicht von den Demokraten aufgesogen waren, und gründete die Deutsche Volkspartei, welche ihre monarchische Einstellung stark betonte. Die neue Partei, die zunächst zahlenmäßig noch recht schwach war, konnte erst bei den Reichstagswahlen ihr richtiges Stärkeverhältnis zu den Demokraten gewinnen.

Unter Fehrenbach erhielt die deutsche Volkspartei zum ersten Male Einfluß auf die Regierung. Stresemann ging also aus der monarchisch orientierten Opposition zur demokratischen Mitarbeit über. Seit dieser Zeit rückten er und seine Partei von ihren monarchischen Forderungen ab, nahmen die Republik als gegebene Tatsache hin und gewannen die Überzeugung, daß ohne Mitwirken der Sozialdemokratie im neuen Reiche nicht regiert werden könne. Als Fehrenbach zurückgetreten war, wollte sich die Volkspartei nicht wieder sang- und klanglos aus der Regierung verdrängen lassen und versuchte, den Gedanken der Großen Koalition zu verwirklichen. Sie strebte nach Englands Unterstützung, dessen rühriger Botschafter Lord d'Abernon sich großen Einfluß auf einen Kreis deutscher Politiker, auch auf Stresemann, verschafft hatte. Dieser Lord d'Abernon hatte hochfliegende Pläne. Er wollte sein englisches Vaterland, das ebenfalls schwer unter den Nachwirkungen des Krieges litt, entlasten, indem er den deutschen Staatsmännern riet, auch unter Opfern zu einer Verständigung [88] mit Frankreich zu gelangen. D'Abernon richtete dabei sein Augenmerk mehr auf Stresemann als auf Rathenau, in dem er lediglich einen Bolschewisten sah.

Die Beziehungen Stresemanns zur Regierung Wirth waren anfänglich gespannt, sie besserten sich erst seit der Ermordung Rathenaus trotz der von der Reichsregierung hervorgerufenen, gegen das nationalgesinnte Bürgertum gerichteten inneren Verwicklungen. Im Herbst 1922 war Wirth soweit, daß er seine Regierung durch Einbeziehung volksparteilicher Mitglieder nach rechts erweitern wollte. Dieser Versuch scheiterte aber, wie wir sahen, am Widerstande der Sozialdemokratie. Es kam das überparteiliche Kabinett Cuno, welches die Unterstützung Stresemanns und seiner Partei erhielt, bis es, Mitte August 1923, reif zum Sturze war. Jetzt erst, nachdem auch die Sozialdemokratie nicht länger mehr der Großen Koalition widerstrebte, war für Stresemann der Zeitpunkt gekommen, seine Pläne durchzuführen.

  Die Große Koalition  

Der Reichspräsident beauftragte also den Vorsitzenden der Deutschen Volkspartei, Dr. Stresemann, mit der Regierungsneubildung. Der neue Reichskanzler brachte zum ersten Male ein Kabinett zustande, das weder nur aus der Revolutionskoalition noch nur aus Mitgliedern bürgerlicher Parteien bestand: er schuf seine Große Koalition, welche neben drei Volksparteilern vier Sozialdemokraten, zwei Demokraten und zwei Zentrumsanhänger umfaßte. Das war eine ganz neue Erscheinung in der Republik, und sie bewies, daß in der allgemeinen Not des Vaterlandes sich auch die Sozialdemokratie allmählich dahin geläutert hatte, ihren intransigenten Standpunkt, mit der Volkspartei nicht zusammen in einer Regierung zu sitzen, aufzugeben. Dies konnte sie um so eher, als Stresemann seinem Kabinett zwei Aufgaben stellte, an denen auch die Sozialdemokratie seit langem mitzuarbeiten bereit war: Aufgabe des passiven Widerstandes und Stabilisierung der deutschen Währung. Erwartungsvoll blickte das Volk auf diese neue Form der Regierung, die von vielen mißtrauisch als Experiment bewertet wurde. Die deutsch-nationale Presse verhielt sich ablehnend und prophezeite der Regierung eine kurze Lebensdauer. Im Reichstag lehnte [89] Hergt im Namen der Deutschnationalen Volkspartei jede Verantwortung für den Regierungswechsel ab. Die Krise sei in der höchsten Not des Vaterlandes, als die auswärtige Politik Erfolge zu zeitigen schien, unter dem Druck der Straße hervorgerufen worden. Die Deutschnationale Volkspartei erblicke in dem Vorgehen der Regierungsparteien ein gefährliches Spiel mit den höchsten Interessen von Volk und Vaterland. Die Rückkehr zum System der Parteiregierung könne nicht zu einer Zusammenfassung der Kräfte führen.

Die neue Regierung fand trostlose Zustande vor: ein sich in politischen Gegensätzen zerfleischendes Volk, eine durch die Inflation zerstörte Währung und Wirtschaft, einen nach Millionen zählenden dem Untergange geweihten Mittelstand, ein vom Hunger zur Verzweiflung getriebenes Proletariat, ein von grausamen Feinden gequältes Rhein- und Ruhrgebiet, drohende Aufstände der Nationalsozialisten, der Kommunisten, der Separatisten. Entschlossenes Handeln war nötig, um den Ausweg aus diesem Labyrinth des Unterganges zu finden.

  Zeigner in Berlin  

Bereits Mitte August hatte Stresemann den sächsischen Minister nach Berlin kommen lassen und ihm das Gefährliche seiner Handlungen vorgehalten. Zeigner wies auf die große Erregung der sächsischen Arbeiterbevölkerung hin, die sich aus der allgemeinen Notlage des besonders hart betroffenen Industrielandes Sachsen ergeben habe und mit polizeilichen Mitteln allein nicht bekämpft werden könnte. Vorbeugende Maßregeln wirtschaftlicher und finanzpolitischer Art seien erforderlich. Ferner betonte Zeigner den festen Willen der sächsischen Regierung, Ruhe und Ordnung aufrechtzuerhalten. Man war einig darin, daß zur schnellen Wiederherstellung normaler Zustände es vermieden werden müsse, die bisherigen bedauerlichen Vorgänge zu politischen Zwecken aufzubauschen, wie es teilweise in der Presse geschehe. Der Reichskanzler stellte Zeigners volle Zustimmung dazu fest, im Zusammenwirken mit der Reichsregierung die Grundlagen der heutigen Staatsordnung mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu schützen.

Zeigner war als Staatsmann viel zu klug, als daß er nicht [90] die Drohung erkannt hätte, die in diesem letzten Satze versteckt war. Bedeutete der Sinn der Worte doch nichts anderes, als daß eines Tages Reichswehr in Sachsen einrücken und der Herrlichkeit Zeigners ein Ende bereiten würde, wenn der sächsische Ministerpräsident nicht selbst allen Ernstes an einer Besserung der Zustände arbeiten würde. Kaum aber war Zeigner nach Dresden in den Kreis seiner Freunde zurückgekehrt, als er auch schon seinen kühnen Mut wiederfand, der ihm vorübergehend in Berlin verlorengegangen war, alle Bedenken in den Wind schlug und nicht nur das, sondern sogar gegen sein Versprechen die bedauerlichen Vorgänge in der Presse politisch auszubeuten, seinen oben beschriebenen, höchst ordinären Feldzug gegen Geßler intensiv fortsetzte.

Der September wurde durch die rapide steigende Teuerung ein kritischer Monat. Es kam zu Kundgebungen in vielen Orten, die teilweise in offenen Aufruhr ausarteten. Im südlichen Baden, in Lörrach, Säckingen und andern Orten des Wiesetales fanden Lohnverhandlungen statt, und im Anschluß daran hielten die kommunistischen Arbeiter Straßenkundgebungen ab, wobei es zu Zusammenstößen mit der Polizei kam (14.–18. September). Auf beiden Seiten fielen Schüsse, und es gab Tote und Verwundete. In Freiburg im Breisgau wurde am 19. September der allgemeine Ausstand ausgerufen, der aber bereits nach einem Tage zusammenbrach. Das badische Staatsministerium beugte weiteren Ausschreitungen vor, indem es den Ausnahmezustand über die Amtsbezirke Lörrach, Schopfheim, Schönau und Säckingen verhängte.

  Unruhen in Sachsen  

In Sachsen dagegen ging es anders zu. In Dresden veranstalteten am 11. September die sogenannten revolutionären Erwerbslosen, eine besonders in Sachsen gezüchtete Kategorie, einen Demonstrationszug, wobei es vor dem Rathaus zu einem Handgemenge mit der grünen Polizei kam. Schüsse krachten hin und her, und acht Demonstranten wurden verletzt. Schon am nächsten Tage wiederholten sich die Vorgänge, und es erwies sich, daß diesen Demonstrationen eine tiefere Absicht zugrunde lag, als nur gegen die Teuerung zu protestieren. Am 24. September wurde die sächsische Hauptstadt aufs neue der Schauplatz von Kundgebungen, radikaler Trupps, die sich die [91] Not der Erwerbslosen zunutze machten und die Schließung der Läden und Banken zu erzwingen suchten. Als die Polizei einen Führer der Demonstranten festnehmen wollte, wurde dieser plötzlich durch einen Schuß aus den Reihen seiner eigenen Leute getötet. All dies spielte sich gleichsam unter den Augen Zeigners ab, ohne daß dieser auch nur Miene machte, die Staatsgewalt gegen derartige Tumulte zu mobilisieren, den Ausnahmezustand zu verhängen. Wehrlos war die Bevölkerung dem Terror und der Brutalität der Putschisten ausgeliefert, und alle anständig Denkenden riefen nach Hilfe. Hatte es nicht den Anschein, als ob der Ministerpräsident mit innerer Freude und äußerem Wohlwollen diese Ereignisse begrüßte? Er wehrte diesen staatszerstörenden Kräften nicht, und ihr Mut wuchs. Am 26. September kam es in Zittau zu schweren Unruhen. Ein gewaltiger Demonstrationszug versuchte das Rathaus zu stürmen. Man fuhr einen Wagen mit Mauersteinen heran und bewarf Polizeiwache und Rathaus mit Steinen. Eine Waffenhandlung wurde gestürmt, dann schoß man auf die Polizei. Ein allgemeiner Sturm auf das Rathaus setzte ein. Mit Gewehrfeuer schlug ihn die Polizei ab. Zwei Aufrührer wurden getötet, vierzehn schwer verwundet. Auch einige Polizeibeamte wurden verletzt. – Es war jetzt in Sachsen der Zustand erreicht, daß jeder Bürger, jeder Besitzende vogelfrei war und ohne Bedenken niedergeschossen werden konnte. –

Stresemanns
  Verständigungswille  

Der Reichskanzler Stresemann war von vornherein entschlossen, mit Frankreich eine Verständigungsmöglichkeit zu finden, welche den passiven Widerstand um den Preis der Ruhrräumung von seiten der Franzosen überflüssig machen würde. Er war zu großem Entgegenkommen bereit. Anfang September erklärte er in Stuttgart, wenn es sich darum handle, daß die am Rhein interessierten Staaten sich vereinigen sollten, um sich die Unversehrtheit des gegenwärtigen Gebietszustandes auf eine zu bestimmende Zeit gegenseitig zu sichern, so sei Deutschland jederzeit bereit, einem solchen Bündnis beizutreten. Jedoch widerstrebe diesem Geiste des Friedens eine Zerstückelung Deutschlands, der Versuch, deutsche Gebiete abzutrennen oder die Grenzgebiete [92] wirtschaftlich und verkehrstechnisch zu beherrschen. Folgte der Reichskanzler in der Sicherheitsfrage dem Vorbild Cunos, so schloß er sich seinem Vorgänger auch bezüglich der Fragen der Ruhrbesetzung, des passiven Widerstandes und der Reparationen an. Dies war das dritte deutsche Sicherheitsangebot innerhalb von neun Monaten. Am 12. September sprach Stresemann vor den Berliner Vertretern der deutschen Presse. Er wies auf die äußerste Spannung nicht nur nach außen, sondern auch im Innern hin. Die Regierung würde es sich als das größte Verdienst anrechnen, wenn sie den Ruhrkonflikt soweit als möglich abkürzen könnte. Aber die Schwierigkeiten lägen bei Frankreich, bei Poincaré, der positive Pfänder statt allgemeiner Garantien haben wolle. Deutschland sei ja bereit, auch den Privatbesitz durch hypothekarische Belastung für Reparationszwecke heranzuziehen. Das war ja der Vorschlag Cunos vom Juni schon gewesen. Dadurch sei die Möglichkeit gegeben, daß Frankreich sofort größere Zahlungen erhalte. Dieser Vorschlag sei also geeignet, die Frage des passiven Widerstandes zu erledigen,

"wenn man uns die Sicherheit dafür gibt, daß auf Grund einer solchen Vereinbarung das Ruhrgebiet geräumt wird und im Rheinland die alten Rechte wiederhergestellt werden. Gibt man uns die Sicherheit, daß jeder, der von Rhein und Ruhr vertrieben ist, frei der Heimat wiedergegeben wird, so besteht kein Grund mehr dagegen, dieses große, einst blühende Wirtschaftsgebiet seiner alten Arbeitsfreudigkeit wiederzugeben. Ich hoffe auf die Möglichkeit einer solchen Regelung."

Es handle sich jetzt nicht mehr um Fragen der Parteipolitik, um Einzelinteressen von Berufsständen, sondern um das Leben und Sterben des deutschen Volkes.

  Poincarés Hartnäckigkeit  

Aber alle Hoffnungen Stresemanns auf eine möglichst schnelle Erledigung der Ruhrfrage erwiesen sich als trügerisch. Der deutsche Verständigungswille scheiterte an der Hartnäckigkeit Poincarés. Dieser französische Staatsmann baute auf die Erhebung der Separatisten, die gerade in jener Zeit im Rheinland einsetzte und von uns in einem späteren Kapitel behandelt wird. Auch hoffte er auf einen Sieg der infolge der Inflation und der Putschversuche radikaler Parteien drohenden [93] Zerrüttung Deutschlands. Mit erregter Freude glaubte sich der französische Ministerpräsident dicht vor der Erfüllung all seiner Ziele und Wünsche. Er sah schon im Geiste das Deutsche Reich aufgelöst, zerfallen, und Rheinland und Ruhrgebiet hatte Frankreich annektiert. "Die unglaubliche Ungeschicklichkeit der deutschen Politik", sagte er einmal in einer Kammersitzung, "die finanzielle Unordnung im Reiche, der Sturz der Mark hätten im Reich den alten Antagonismus zwischen gewissen Gegenden und die Gegensätze zwischen gewissen Lokalinteressen wieder wachgerufen. Die Folge davon seien zentrifugale Bestrebungen in Bayern, Sachsen, Hannover und an mehreren Stellen der besetzten Gebiete gewesen. In diesen letzteren seien gerade die belgische und die französische Zone der Schauplatz verschiedener Unternehmungen. Die Besatzungsmächte seien keineswegs verpflichtet, die Berliner Regierung gegen Bildung neuer Staaten, gegen die Veränderung bestehender Staaten, ja auch nur gegen den Bruch der Reichseinheit zu schützen. Es sei zweifellos noch verfrüht, vorauszusagen, was sich aus den Ereignissen, die sich augenblicklich in den besetzten Gebieten abspielen, entwickeln werde. Aber an gewissen Stellen, so in Trier und in der Pfalz, scheine doch ein mächtiges Streben nach völliger Unabhängigkeit zu bestehen, und in den Städten, die einem völligen Separatismus am wenigsten geneigt seien, bestehe bestimmt ein wachsendes Verlangen nach Autonomie. Man könne also früher oder später auf Änderungen in der politischen Verfassung des ganzen besetzten Gebietes oder eines Teiles desselben rechnen. Es sei eine Entwicklung von ungeheurer Bedeutung für Frankreich." Und Poincaré vertröstete seine Regierung auf die Zeit, wenn der Wein reif sei.

  Gefahren des Reiches  

Eine düstere Hoffnungslosigkeit breitete sich nach wie vor über Deutschlands außenpolitische Lage. Es war gar nicht daran zu denken, daß in absehbarer Zeit der passive Widerstand zu dem erhofften Erfolg der Ruhrbefreiung führen würde. Stresemann unterschätzte nicht die kommunistische Gefahr im Innern, aber er überschätzte sie auch nicht. Er sah diese Gefahr nicht in der unmittelbaren Gegenwart, sondern erst in der Zukunft. Hunderttausende von Arbeitern und [94] Angestellten, die vielleicht heute noch ablehnend den Umtrieben und Hetzereien der Kommunisten gegenüberstanden, würden vielleicht in wenigen Wochen, zur Verzweiflung getrieben durch die weitere katastrophale Zerstörung der Wirtschaft und der Mark, blindlings den staatsfeindlichen Demagogen Folge leisten und Deutschland in ein bolschewistisches Chaos verwandeln. Besonders gefährlich war es, daß die Regierung Sachsens, dieses dichtbevölkerten, reichen und wirtschaftlich blühenden Landes, sich zur Hochburg dieser gefährlichen, staatsumstürzenden Kräfte entwickelte. Abhilfe mußte geschaffen werden, der passive Widerstand, der das Reich und die Wirtschaft mit enormen Summen und Ausgaben belastete und die wirtschaftliche Zerstörung dadurch nur verschlimmern würde, mußte aufgehoben werden, um einer wirtschaftlichen und politischen Gesundung des deutschen Volkes den Weg zu ebnen. Andererseits würde diese Maßnahme eine Gefahr von rechts heraufbeschwören. Die aufgepeitschten, zur Tat drängenden Leidenschaften nationaler Kreise würden ungeheure innere Erschütterungen heraufbeschwören. Auch dagegen galt es, sich zu sichern. So berief der Reichskanzler zum 25. September die Ministerpräsidenten der deutschen Länder nach Berlin und verhandelte mit ihnen die Frage der Stillegung des passiven Widerstandes. Man war sich vollkommen einig darüber, daß der passive Widerstand aus innenpolitischen, vor allem aus finanziellen Gründen abgebrochen werden müsse. Dies müsse geschehen in einer der Ehre und Würde des Reiches entsprechenden Form. Sollten etwa Versuche gemacht werden, die Reichseinheit anzutasten, so seien alle verantwortlichen Leiter der deutschen Länder fest entschlossen, die Reichseinheit als ein unantastbares Gut der Nation zu bewahren und zu verteidigen.

Aufhebung des
  passiven Widerstandes  

Am folgenden Tage proklamierte die Reichsregierung die Einstellung des passiven Widerstandes. Die Unterstützungen des Reiches für Rhein und Ruhr wüchsen ins Ungemessene. In der vergangenen Woche seien allein für diesen Zweck 3 500 Billionen Mark ausgegeben worden, in der laufenden Woche verdoppele sich die Summe. Das Reich sei nicht mehr in der Lage, die feiernden Beamten und Arbeiter [95] an Rhein und Ruhr zu bezahlen. Mit furchtbarem Ernst drohe die Gefahr, daß beim Festhalten an dem bisherigen Verfahren die Schaffung einer geordneten Währung, die Aufrechterhaltung des Wirtschaftslebens und damit die Sicherung der nackten Existenz für das deutsche Volk unmöglich werde. Diese Gefahr müsse im Interesse der Nation abgewendet werden. "Um das Leben von Volk und Staat zu erhalten, stehen wir heute vor der bitteren Notwendigkeit, den Kampf abzubrechen." Um allen Störungen von rechts oder links vorzubeugen, verordnete der Reichspräsident gleichzeitig die Diktatur des Reichswehrministers. Beschränkungen der persönlichen Rechte und Freiheit, des Eigentums, der Presse und Versammlungen, Eingriffe in das Brief-, Fernsprech- und Telegraphengeheimnis über das verfassungsmäßige Maß hinaus seien zulässig und notwendig. Die vollziehende Gewalt wurde dem Reichswehrminister übertragen, und dieser hatte das Recht, ohne die Zustimmung des Parlamentes einzuholen, sofort einzuschreiten, sobald von irgendeiner Seite die Sicherheit des Reiches oder der Staatsform bedroht oder angegriffen wurde. – Über Deutschland aber brauste es wie das Dröhnen einer nahenden Sturmflut.



Geschichte unserer Zeit
Dr. Karl Siegmar Baron von Galéra