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Gelenkte Justiz 1942-1945

Den Ausdruck "Gelenkte Justiz" habe ich zum ersten Male im späteren Verlauf des zweiten Weltkrieges gehört. Man sprach ganz offen davon, auch bei den Gerichten. "Gelenkte Justiz" oder "Gesteuerte Justiz" war die politische Justiz des letzten Reichsjustizministers Thierack, der seit seiner am 24. August 1942 erfolgten Ernennung zentral von Berlin aus die Strafjustiz im Kriege "lenkte" oder "steuerte". Im Justizministerium in Berlin wurde jetzt bei allen wichtigen Prozessen, die mit dem Kriege und der Kriegswirtschaft zusammenhingen, die Weisung gegeben, wer angeklagt werden sollte, und wie die Anklage zu erfolgen habe. Der Justizminister in Berlin war damit in vielen Fällen nicht nur oberste Weisungsbehörde der Staatsanwaltschaften im Reich, sondern selbst ein Zentralstaatsanwalt größten Ausmaßes geworden, der die Befugnisse des öffentlichen Anklägers bis in alle Teile des Reiches unmittelbar ausübte.

Damit erreichte die Politisierung der Justiz in Deutschland einen weiteren Höhepunkt. Bis dahin war die Unabhängigkeit der Richter nicht nur dem Buchstaben nach, sondern auch de facto im wesentlichen gewahrt geblieben. In der Weimarer Zeit waren die Richter trotz aller Politisierungsgefahr, die bei der Anstrengung und Durchführung der Prozesse auch da schon hervortrat, unabhängig geblieben. Das gleiche ist von den politischen Prozessen der Jahre 1933 bis 1935 zu sagen. Im Verlaufe des zweiten Krieges wurde es dann anders. Die Lenkung der Justiz, die in den Jahren 1925 bis 1930 und 1933 bis 1935 nur bei den Anklagebehörden in Erscheinung getreten war, wurde, nachdem Thierack Reichsjustizminister geworden war, auch auf die Richter ausgedehnt. Das geschah auf dem Wege über die Justizverwaltung. Die Richter wurden von ihren Landgerichtspräsidenten zu Besprechungen eingeladen, bei denen nicht nur Angelegenheiten der Justizverwaltung erörtert, sondern auch Richtlinien für die Rechtsprechung gegeben wurden. Es gab "Richterbriefe", die Instruktionen für die Rechtsprechung enthielten. Das hatte es weder in der Weimarer Zeit, noch in den ersten Jahren des Hitlerregimes gegeben. Gewiß waren auch damals schon die Richter einem gewissen Druck ausgesetzt gewesen. Aber das war nur ein indirekter Druck gewesen, hauptsächlich durch die Presse. Dazukam die Belastung, die sich daraus ergab, daß die Richter in ihren Beförderungsverhältnissen von der Justizverwaltung abhingen, und es sich ungünstig auswirken konnte, wenn ein Richter zu stark gegen eine Tendenz verstieß, die als von der Justizverwaltung gewünscht erkennbar wurde. Es hatte in der Weimarer Zeit einen republikanischen Richterbund gegeben, den man einen "Beförderungsverein auf Gegenseitigkeit" nannte. Aber trotz allem, ein direkter Druck wurde bis 1942 auf die Richter nicht ausgeübt, und das Prinzip der Unabhängigkeit blieb gewahrt; auch bei den Richtern selbst, deren Haltung über allen Vorwurf erhaben war.

Unter Thierack wurde das anders. Das vollzog sich allerdings erst allmählich und auch wohl nicht in allen Gegenden des Reiches und auf allen Gebieten gleichmäßig. Aber die Verteidiger merkten es, besonders in den Prozessen, die politisch waren oder mit der Kriegswirtschaft zusammenhingen. Es haben mir allerdings Richter, denen ich Vertrauen schenkte, gesagt, daß es mit den Richterbriefen und den Besprechungen bei den Landgerichtspräsidenten nicht so schlimm gewesen sei, wie man das hinterher dargestellt hätte. Aber man hätte das doch vermeiden sollen. Denn diese Dinge wurden bekannt, und die Anwälte sahen die Folgen in der Praxis und teilten sich ihre immer mehr zunehmenden Besorgnisse mit, ohne irgend etwas Ernstes dagegen unternehmen zu können. Vor aller Welt sichtbar wurde der Angriff auf die Richter durch die Antijuristenrede Hitlers vom 26. April 1942, wo er ankündigte: "Ich werde von jetzt ab in allen diesen Fällen eingreifen und Richter, die ersichtlich das Gebot der Stunde nicht erkennen, ihres Amtes entheben." Das war das Ende des unabhängigen Richtertums, das die Grundlage des Rechtsstaates ist.

Auch die Rechtsanwälte waren jetzt nicht mehr frei. Die Stellung des Verteidigers in den Prozessen vor dem Volksgerichtshof war entwürdigend. In die Verhandlungen vor den Strafkammern aber wurden Vertrauensleute entsandt, die über die Verteidigungsreden berichteten. Gegen die Rechtsanwälte, die sich dem Geist der Gelenkten Justiz widersetzten, wurden Disziplinarverfahren eingeleitet, und da die Rechtsanwaltskammern diese Form der Gleichschaltung der Rechtsanwälte nicht mitmachten, nahm Thierack ihnen durch Notverordnung die Disziplinargerichtsbarkeit ab und übertrug sie den ihm unterstehenden Generalstaatsanwälten.

Diese schlimmste Entwicklung in unserer Rechtspflege ging Hand in Hand mit der Ausbreitung des Zentralismus, wie er sich aus dem autoritären Staat im Kriege ergab und nun im totalen Kriege, in dem alle Kräfte der Nation zusammengefaßt werden mußten, eine Notwendigkeit zu sein schien. Trotzdem kam uns die erneute Politisierung unserer Justiz überraschend. Denn die Entwicklung von 1935 bis 1939 war eigentlich eine günstige gewesen. Die politischen Prozesse hatten nachgelassen und schließlich ganz aufgehört.

Dann aber kam der Krieg und mit ihm die "Härte". Es gab viele, die meinten, daß die deutsche Strafrechtspflege im ersten Weltkrieg zu milde gewesen sei. Man erinnerte sich daran, daß im letzten Teil des ersten Weltkrieges Deserteure zu Tausenden hinter den Fronten herumliefen, marodierten und plünderten, ohne gefaßt zu werden. Auch die Verfolgung der Kriegswirtschaftsdelikte war, wie man glaubte, im ersten Kriege zu schwächlich gewesen. Diesmal mußte das anders werden. Diesmal würde man "durchhalten". Kapitulation gab es nicht. Das wäre nur durch Härte zu erreichen, unerbittliche Härte. Es durfte keinen Pardon geben. Das alles war an sich richtig. Härte im Kriege war notwendig. Aber die Gerechtigkeit durfte darunter nicht leiden. Es durfte nicht Willkür und Gewalt an die Stelle von Recht treten. Die Härte durfte nicht in Terror ausarten. Ein Volk kann, wenn es alle Energie im außenpolitischen Daseinskampf zusammenfassen will, vorübergehend die Freiheit entbehren, aber nie die Gerechtigkeit. Das war ein entscheidender Fehler des Hitlerregimes, der zum Zusammenbruch des Vertrauens und damit zum Zusammenbruch schlechthin wesentlich beigetragen hat.

Das alles steigerte sich, je mehr der Krieg ein totaler wurde. Es kam wie ein Wirbel über uns, eine allgemeine Verwirrung. Sie wurde beschleunigt durch den Druck, der von der politischen Polizei ausging. Es kam zu einem Kampf zwischen Justiz und Exekutive, Justiz und Polizei, bei dem die Justiz immer mehr zurückgedrängt wurde. Es wurde immer deutlicher, daß Himmler die Strafjustiz ganz dem Justizministerium entwinden und zu einer Unterabteilung der Gestapo machen wollte. Man begann damit, Justitiare bei der Polizei einzusetzen, die die wenigen Rechtsfragen regeln sollten, die noch auftauchen könnten. Alles Wesentliche sollte die Polizei machen. Gürtner hatte diesen Kampf um die Justiz mit aller Kraft, die ihm noch zur Verfügung stand, geführt. Thierack gab Himmler nach, ja er verbündete sich direkt mit ihm.33 Gürtner starb am 29. Januar 1941. Dann wurde bis August 1942 das Justizministerium durch den Staatssekretär Schlegelberger durchaus noch im Geiste Gürtners geleitet. Aber Schlegelberger allein konnte sich natürlich noch weniger durchsetzen als Gürtner. Beide hatten sich auch noch im Kriege bemüht, die Rechtspflege zu schützen. Man hatte erkannt, daß gerade im Kriege die Gefahr bestand, daß unrichtige Urteile ergehen könnten und daß das Wiederaufnahmeverfahren nicht genüge, um solche Rechtsirrtümer wiedergutzumachen. Unter Gürtner hatte man deshalb zwei neue Rechtsmittel zur Berichtigung von Fehlurteilen eingeführt: den außerordentlichen Einspruch nach dem Gesetz vom 16. Sep[t]ember 1939 (RGBl. I S. 1841), durch den der Oberreichsanwalt das Recht erhielt, wenn er schwerwiegende Bedenken gegen die Richtigkeit des Urteils hatte, eine neue Verhandlung und Entscheidung durch einen besonderen Strafsenat des Reichsgerichts zu beantragen; sodann die Nichtigkeitsbeschwerde des Gesetzes vom 21. Februar 1940 (RGBl. I S. 405), die eine Zurückverweisung an die Vorinstanz durch das Reichsgericht vorsah. Ich hatte diese neuen Rechtsmittel als ein Zeichen gewertet, daß man auch im Kriege gewillt sei, das Recht hochzuhalten, hatte aber im späteren Verlauf des Krieges den Eindruck, daß auch diese Rechtsmittel mehr der Verschärfung der Strafen, als der Berichtigung von Fehlurteilen zugunsten der Angeklagten dienten.

Man wird also das Jahr 1942 als das Jahr ansehen müssen, in dem eine allgemeine Verschärfung der Lage eintrat und damit auch eine Zunahme der Politisierung der Justiz. Es wäre aber sicherlich übertrieben, die Verantwortung hierfür allein der Person Thieracks aufzubürden. Der Hauptgrund lag in der Entwicklung des Krieges, der immer mehr ein totaler wurde. Aber es läßt sich nun einmal nicht leugnen, daß diese Phase der Entwicklung des Rechtes in Deutschland mit dem Namen Thierack verknüpft ist. Man sprach von einem "System Thierack", und dieses System war die "Gelenkte Justiz".

Thierack sah das einzige Mittel, die Strafrechtspflege, wenigstens noch zum Teil, für die Justiz zu erhalten, darin, daß er Hitler bewies, daß die von ihm so wenig geachteten "Juristen" genau so hart sein könnten wie Himmlers Polizei. Ein Wettlauf um Härte begann. In der Zeit der "Gefesselten Justiz", Ende der zwanziger Jahre, hatten mir Staatsanwälte bei gelegentlichen persönlichen Aussprachen ihre Besorgnisse über die Politisierung der Justiz anvertraut. Nun konnte ich solche Besorgnisse aus Richtermund hören, wenn überhaupt einmal Gelegenheit zu freimütiger Aussprache gegeben war.

Es war kurz vor Stalingrad. Die ersten Alarmnachrichten kamen aus dem Osten. Da sprach mich in einem der damals schwebenden politischen Prozesse ein Richter an, den ich in einer Verhandlungspause zufällig allein auf dem Gerichtsflur antraf. "Wissen Sie, was Gelenkte Justiz ist?" so sagte er mir voll Bekümmernis, bevor er einen Beschluß verkünden mußte, den er selbst offenbar mißbilligte. Ich habe durch Zufall gegen Ende des Krieges einmal einen geheimen Erfolgsbericht gesehen, der an Hitler gerichtet war. Darin stellten die obersten Stellen des Reiches die Erfolge zusammen, die ihre Ressorts für das Schlußziel des Krieges von 1939 an erzielt hatten, der Munitionsminister für die Rüstung und Munition, der Verkehrsminister für das Transportwesen, der Landwirtschaftsminister für die Ernährung der Bevölkerung usw. Am Schluß kam auch ein Bericht des Reichsjustizministers. Er stellte die Zahlen der im Bereich der Justizverwaltung gefällten und vollstreckten Todesurteile zusammen. Erschreckende Zahlen! Zuerst Hunderte, dann Tausende von Todesurteilen! Als ob diese Zahlenprogression einen Erfolg für die Justiz bedeutet hätte! Tausende von Todesurteilen allein bei der ordentlichen Justiz! Wo sollte das hinführen! So gab es neben der Gestapo auch noch eine politische Kriegs- oder Sonderjustiz, die mit rechtsstaatlichem Denken nicht mehr vereinbar war. Aber diese Entartung der Justiz wurde nur von denen bemerkt, die unmittelbar davon betroffen wurden. Im Zeichen des erbarmungslosen Bombenkrieges und all der schrecklichen Dinge, die damals auf das deutsche Volk einstürmten, sahen die meisten Deutschen nicht, was in der Justiz vor sich ging.

Die Härte, die man erstrebte, wurde auf die verschiedenste Weise erzielt. Es wurden Sonderstrafkammern eingerichtet, die schnell und scharf urteilten. Dazukamen die Prozesse wegen aller möglichen Sonderdelikte, Heimtücke, Wehrkraftzersetzung, Feindbegünstigung usw. Besonders unangenehm wirkte sich die Volksschädlingsverordnung aus. Jede Straftat, auch eine solche, bei der im Gesetz nur geringe Freiheitsstrafen vorgesehen waren, konnte dadurch zu einem Verbrechen mit Todesstrafe umgewandelt werden, daß man den erschwerenden Umstand feststellte, daß der Täter als Volksschädling gehandelt habe. Das war der Geist, aus dem heraus die Lex van der Lubbe entstanden war. Dazukam der Einfluß von seiten der Polizei, die immer mehr Möglichkeiten bekam, Urteile der Gerichte, die ihr ungenügend erschienen, durch Sondereingriff zu revidieren. Wie oft habe ich damals gehört, daß ein Gericht ein unbegreiflich hohes Urteil auf Freiheitsstrafe ververhängt [sic] habe, um den Angeklagten, der nicht oder wenig schuldig war, vor der Gefahr zu schützen, daß er durch Eingriff von anderer Seite zum Tode verurteilt würde.

Diese Verschärfung der Justiz galt besonders auch für das Wirtschaftsstrafrecht. Je länger der Krieg dauerte, je ernster die Materialknappheit in Deutschland wurde, desto größer wurde die Gefahr, daß die Bestimmungen der Kriegswirtschaft umgangen wurden. Es gab Fälle, in denen Industrielle, Angestellte und Arbeiter, wenn sie ihre kriegswichtige Aufgabe erfüllen wollten, geradezu gezwungen waren, gegen die Bestimmungen zu handeln. Das Paragraphengestrüpp der Kriegswirtschaft wurde so, daß alle Räder stillgestanden hätten, wenn man sämtliche Paragraphen wörtlich erfüllt hätte. Die Kriegssonderjustiz lief sich von selbst tot. In diesem Wirrwarr mußten sich immer mehr Willkür, Denunziantentum und Eigennutz breitmachen. Es kam zu Machtkämpfen zwischen Parteiorganisationen und sonstigen Interessenten, die sich im Hintergrund von Wirtschaftsprozessen abspielten, die durch die Einflüsse, die da ausgeübt wurden, zu politischen Prozessen wurden. In solchen Prozessen mußte man sich als Verteidiger immer zuerst fragen: "Wer schießt hier gegen wen?" Diese Prozesse wurden zum Teil auch als "Geheime Reichssache" geführt. Der übelste dieser Prozesse war ein von einer Sonderstrafkammer in Berlin mitten im Kriege monatelang als Geheime Reichssache geführter Prozeß, für den allein zwei Staatsanwälte während des ganzen Krieges uk. gestellt wurden und Dutzende von Zeugen aus ganz Deutschland und von der Front herangeholt wurden. Es war ein reiner Machtkampf zwischen höchsten Parteistellen. Alle diese Prozesse machten den Juristen in Deutschland größte Sorge. Aber war nicht vieles durch die Not des Krieges zu erklären?

Die neue Politisierung der Justiz habe ich zum ersten Male in einem Korruptionsprozeß bemerkt, der im Jahre 1940 vor der Strafkammer des Landgerichts Oels in Schlesien schwebte. Damals fing es erst an. Eine Gelenkte Justiz gab es noch nicht. Es handelte sich um den Geschäftsführer einer landwirtschaftlichen Genossenschaft, Barth, der Deutschnationaler war und den Weg zur Partei nicht gefunden hatte. Er war dem Kreisleiter von Oels, dem Landrat und dortigen Bauernführer nicht genehm, die ihn beseitigen und zugleich das Unternehmen in ihre Hände bekommen wollten. Barth hatte durch Tüchtigkeit und Fleiß den Betrieb zu einer großen Blüte gebracht und genoß das allgemeine Vertrauen der Genossen, ob sie nun Bauern und Parteimitglieder oder Großgrundbesitzer waren. Sie waren der Meinung, daß es nicht länger zweckmäßig sei, das Unternehmen in Form einer Genossenschaft zu betreiben. Sie beschlossen, die Genossenschaft in eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung umzuwandeln, deren Geschäftsführer wieder Barth werden sollte. Diesen Vorgang benutzten der Kreisleiter und die hinter ihm stehenden Parteikreise, um gegen Barth Strafanzeige wegen Untreue zu erstatten. Das war eine auch sonst gebräuchliche Form, Korruptionsprozesse mit politischem Hintergrund aufzuziehen. Sie wurde 1933 bis 1935 und nach 1940 häufig angewandt.

Die Staatsanwaltschaft Oels lehnte ein Einschreiten ab, weil alle Beteiligten erklärten, daß sie von Barth nicht betrogen worden seien, und dieser ihr volles Vertrauen besitze. Der Kreisleiter erreichte aber über die Gauleitung und den Generalstaatsanwalt beim Oberlandesgericht in Breslau, daß die Anklage erhoben wurde. Barth wurde verhaftet. Das Landgericht lehnte die Eröffnung des Hauptverfahrens ab. Diese wurde auf Beschwerde der Staatsanwaltschaft unter dem Druck der Gauleitung vom Oberlandesgericht Breslau angeordnet. Ich verhandelte mit dem Kreisleiter, Landrat und zuletzt mit dem Gauleiter Wagner in Breslau persönlich. Der Gauleiter versprach mir, nicht in das Verfahren einzugreifen, wenn wir uns nicht hinter Formaljurisprudenz verstecken, sondern das wirkliche Recht suchen würden. Ich las dem Gauleiter einige Aussagen der Genossen, insbesondere von Parteimitgliedern vor, die ihn stark beeindruckten. Die Hauptverhandlung brachte eine volle Klärung. Der Kreisleiter, der Landrat und der Bauernführer traten vor Gericht scharf gegen den Angeklagten auf, vermochten sich aber nicht durchzusetzen. Das Gericht sprach den Angeklagten frei. Dieser nahm sich aber den aufregenden Prozeß so zu Herzen, daß er seelisch und körperlich zusammenbrach und bald verstarb. In diesem Prozeß hatte sich das Recht noch einmal durchgesetzt und hatten Gericht und Staatsanwaltschaft zuletzt doch noch eine starke Widerstandskraft gegenüber den politischen Stellen bewiesen. Das war 1940!

Einen ähnlichen Prozeß hatte ich zwei Jahre darauf, im November 1942, vor der Strafkammer in Ratibor durchzuführen, durch den ein Ortsgruppenleiter einen Industrieführer, der selbst alter Parteigenosse war, erledigen und den Besitz einem Freunde zuschieben wollte. Auch dort ging es um eine Genossenschaft, die entsprechend dem Wunsche aller Beteiligten reprivatisiert werden sollte. Auch dort wurde die Umwandlung in Privatbesitz entgegen der Aussage der angeblich Geschädigten als Untreue ausgelegt. In diesem Prozeß aber war der politische Druck schon so stark, daß Staatsanwaltschaft und Gericht sich davor beugten. Das war Gelenkte Justiz in reinster Form.

Das Bedenklichste bei all diesen Prozessen war wohl, daß die wichtigsten Entscheidungen im Reichsjustizministerium ohne genügende Vorbereitung oft auf Grund nur telefonischer Unterrichtung der betreffenden Dezernenten erfolgten. Jeden Morgen erstatteten die Generalstaatsanwälte der einzelnen Oberlandesgerichte dem für sie zuständigen Dezernenten im Reichsjustizministerium Bericht über die bedeutenderen Prozesse, die in ihrem Bezirk behandelt wurden. Die Dezernenten, die ausgesuchte Juristen waren, gaben nach bestem Wissen telefonische Weisungen. Aber es ging doch über ihre Kraft, alle diese Prozesse zentral zu steuern. Auch die Entscheidung, ob ein Prozeß als "Volksschädlingssache" oder sonstwie als "schwerer Fall" durchgeführt werden sollte, wurde zumeist zentral im Ministerium gefällt. Sie war gewöhnlich, im Interesse der zentralen Steuerung, in die Hände eines einzigen Bearbeiters gelegt, der bei allem guten Willen unmöglich die Verantwortung für so schwerwiegende Entscheidungen tragen konnte.

Ähnlich wie die Volksschädlingsverordnung wirkte sich die Unterscheidung aus, wonach Verstöße gegen die Lebensmittelrationierung je nach der Schwere des Falles als Verbrechen gegen die Wirtschaftsverordnung oder als bloße Verstöße gegen die Rationierungsbestimmungen (leichte Fälle) zu behandeln waren. Auch diese Unterscheidung wurde von oben gelenkt. Es kam in den letzten Jahren des Krieges vielfach vor, daß in den neuen aus dem Boden gestampften Rüstungsbetrieben, die Tausende von deutschen und ausländischen Arbeitern beschäftigten, in den Kantinen Verstöße gegen die Rationierungsvorschriften begangen wurden, die trotz bester Aufsicht von den Leitern dieser Rüstungsbetriebe nicht verhindert werden konnten, weil es in den Betrieben an geeignetem Aufsichtspersonal fehlte. Wenn dann irgend jemand den Betriebschef stürzen oder sich seiner Stelle bemächtigen wollte, wandte er sich an die Polizei. Ich erlebte in Berlin einen Fall, in dem ein solcher Betriebschef wegen Unregelmäßigkeiten, die in der Kantine vorgekommen sein sollten, von heute auf morgen angeklagt und aus dem Betrieb herausgeworfen wurde. Unter dem Eindruck der einseitigen Denunziation eines Mannes, der die leitende Stelle für sich erstrebte, schickte die Polizei einen scharfen Bericht an die Staatsanwaltschaft, die ihn an das Justizministerium weitergab, das sofort eine Verhandlung vor der Sonderstrafkammer als "schweren Fall" der Wirtschaftsstrafverordnung verfügte.

Der Betriebschef war Techniker. Er hatte ein wertvolles Maschinengewehr entwickelt und den Riesenbetrieb unter den größten Schwierigkeiten aufgebaut. Er konnte sich nur um die technischen Dinge kümmern und mußte die Verwaltungsaufgaben anderen überlassen. In der Hauptverhandlung brach die Anklage zusammen. Der zuständige Polizeibeamte und sein Sachverständiger gaben das zu. Sie erklärten, daß ihr Bericht ja nur eine erste Darstellung hätte sein sollen, die noch hätte nachgeprüft werden müssen. Das Gericht unterbrach die Verhandlung und gab den Polizeibeamten und Sachverständigen Gelegenheit, neues Material für die Anklage zu sammeln. Nach Ablauf der Frist erschienen die Polizeibeamten und der Sachverständige erneut und erklärten, sie hätten nichts Neues gegen den Angeklagten gefunden. Die Sitzung wurde unterbrochen. Der Staatsanwalt telefonierte an das Justizministerium. Er kehrte zurück und beantragte nicht etwa Freisprechung, sondern hielt die schweren Strafanträge der ursprünglichen Anklage aufrecht.

Härte? Prestige? Gelenkte Justiz! Das Gericht war in einer peinlichen Lage. Es war in dieser Zeit des beginnenden Zusammenbruchs ein offenes Geheimnis, daß die Gerichte nicht unter das von der Anklage, d. h. dem Justizministerium, beantragte Strafmaß herabgehen durften. So geschah es auch hier. Der Angeklagte wurde antragsgemäß verurteilt. Das war eine falsch angewendete Staatsräson, ein mißverstandenes Prestige. Der Betrieb wurde in einem kritischen Augenblick des Krieges seines Chefs beraubt, der die Seele der Rüstungserzeugung des Werkes war. Fiat justitia, pereat mundus - Man spreche Recht, und wenn die Welt zugrunde geht!

So habe ich das System der Gelenkten Justiz des Herrn Thierack, das die ordentliche Strafjustiz der letzten Kriegsjahre beherrschte, kennengelernt. Vor dem Volksgerichtshof, dessen Präsident erst Thierack, später Freisler war, hatte ich weniger zu tun. Ich gehörte nicht zu den Rechtsanwälten, die bei diesem Gericht als ständige Verteidiger zugelassen waren. Nur einmal habe ich dort einen ehemaligen Kreisleiter wegen Defätismus verteidigt. Es war kurz vor dem Zusammenbruch. Das Hauptgebäude des Volksgerichtshofes war schon ein Opfer der Fliegerangriffe geworden. Die Sitzung fand im Kellergeschoß des Eingangshauses, sozusagen beim Pförtner, statt. Freisler führte den Vorsitz.

Diese Verhandlung ist mir in schrecklicher Erinnerung geblieben. Mein Klient hatte Glück. Er war von einem anderen Kreisleiter denunziert worden. Hinter diesem stand die Gestapo, die meinen Klienten erledigen wollte. Der örtliche Anwalt aber hatte sich große Mühe gegeben, erhebliches Entlastungsmaterial zusammenzutragen, auch solches, das den Denunzianten in schlechtem Lichte erscheinen ließ. Freisler kannte die Akten sehr genau. Es war eine erstaunliche Leistung, da er sehr überlastet war. Durch das Studium der Akten war er zugunsten des Angeklagten gegen den Denunzianten eingenommen. Freisler führte die Verhandlung ganz allein. Es kam niemand zu Wort. Als erster Zeuge wurde der Denunziant vernommen und von Freisler fertiggemacht. Er war plötzlich der Angeklagte. Ich kam mir als Verteidiger völlig überflüssig vor. Mein Mandant wurde mit großem Pathos wegen erwiesener Unschuld freigesprochen und auch vor der Gestapo geschützt. Ich aber fragte mich besorgt, wie wohl die Verhandlung verlaufen wäre, wenn Freisler aus den Akten ein ungünstiges Bild von dem Angeklagten gewonnen hätte.

Es war ein Unglück für die Rechtspflege im Dritten Reich, daß Hitler in seiner näheren Umgebung keinen Juristen hatte, der in der Lage gewesen wäre, das Rechtswesen in die richtigen Bahnen zu lenken. Gürtner war kein Mann der Partei. Er war deutschnational und ist dies immer geblieben. Er war vom besten Willen beseelt, vermochte sich aber nicht durchzusetzen. So war er in der tragischen Lage des Mannes, der immer nur bemüht war, das Schlimmste zu verhüten. Frank war zu weich. Man kann sich keine größeren Gegensätze denken als Frank und Freisler. Frank war freundlich und liebenswürdig. Er mochte niemand wehe tun. Er war kein Kämpfer, aber auch nicht einmal ein Arbeiter. Er liebte Gesellschaften, die er glänzend zu gestalten verstand. Als ich einen seiner nächsten Mitarbeiter zu verteidigen hatte, von dessen Unschuld ich überzeugt war, sagte er mir, daß er ihn auch für unschuldig hielte. Aber er war nicht zu bewegen, daß er sich vor seinen Mitarbeiter stellte. Er wollte nicht kämpfen, obwohl er einsehen mußte, daß der Kampf gegen seinen Mitarbeiter ihm selbst und seiner Stellung galt.

Freisler dagegen war ein Fanatiker, ein gefährlicher Fanatiker. Er hätte Rechtsanwalt oder Staatsanwalt bleiben müssen. Er durfte nicht Richter sein. Sein Fanatismus war so, daß er auch auf seine nächsten Angehörigen keine Rücksicht nahm. Er war vor 1933 Rechtsanwalt in Kassel gewesen, wo er die Praxis mit seinem Bruder ausübte. Nach 1933 trat sein Bruder in großen Prozessen als Verteidiger auf. Als ihm das übel ausgelegt wurde, verschwand der Bruder eines Tages. Man sagte, daß Freisler selbst ihm den Revolver in die Hand gedrückt hätte. Wie dem auch sei, Freisler hat jedenfalls seinen Bruder, der sich nicht richtig verhalten hatte, nicht geschützt.

Besser als bei der ordentlichen Justiz war es bei den Kriegsgerichten. Das war jedenfalls mein Eindruck in den besetzten Gebieten und im Landesinnern, und so schließt mein persönliches Erlebnis jener Zeit der großen Krise des Hitlerreiches mit einer tröstlichen Erinnerung, einem Kriegswirtschaftsprozeß, der ganz ähnlich den Prozessen war, wie sie damals vor den Sonderstrafkammern der Ziviljustiz geführt wurden, und der dennoch so ganz anders verlief. Ein Industrieführer hatte von Reichs wegen einen neuen Rüstungsbetrieb bei Hamburg übertragen erhalten, den er unter Kontrolle militärischer Stellen zu leiten hatte. Er hatte einen Mitarbeiter, der sich gerne an seine Stelle setzen wollte und Material gegen seinen Chef sammelte, das er dem Reichskriegsanwalt zuleitete. Diesmal dienten nicht die Rationierungsvorschriften als Vorwand für die Denunziation, sondern, wie es bei den Korruptionsprozessen des Jahres 1933 gewesen war, die Spesenrechnungen und sonstigen persönlichen Aufwendungen und ähnliche Dinge.

Der Reichskriegsanwalt nahm die Sache mit Eifer auf. Er machte den ungetreuen Angestellten zu seinem Hilfsarbeiter. Alle Akten des Betriebes wurden beschlagnahmt, Sachverständige eingesetzt und mitten im Krieg ein riesiger Apparat aufgezogen. Über eine Woche dauerte die Hauptverhandlung in Potsdam unter dem Vorsitz des Senatspräsidenten Barwinski vom Reichskriegsgericht, der die Verhandlung mit hervorragender Sachlichkeit leitete. Das Gebäude des Reichskriegsgerichts in Berlin war schon zerstört. Es stand kein anderes unbeschädigtes Dienstgebäude in Berlin und Umgebung mehr zur Verfügung wie das Regierungsgebäude in Potsdam. So wurde in Potsdam verhandelt. Es war in der Zeit der großen Fliegerangriffe auf Berlin, die dann auch auf Potsdam ausgedehnt wurden. Die Nacht brachten wir im Luftschutzkeller unserer Häuser in Berlin zu. Dort mußte ich unter den schwierigsten Verhältnissen die Akten studieren, Schriftsätze diktieren und die Verteidigungsrede vorbereiten. Man schleppte sich morgens übermüdet und hungrig mit der Stadtbahn nach Potsdam. Bis dahin hatten die Fliegerangriffe nur nachts stattgefunden. In Potsdam erlebten wir die ersten Tagesangriffe und mußten mehrere Male die Sitzung unterbrechen und den Keller im Regierungsgebäude aufsuchen.

An einem Sonntag im März 1944 fanden die Plädoyers statt. Der Staatsanwalt hielt seine Anträge aufrecht. Das Gericht jedoch folgte dem Staatsanwalt nicht. Mit gespannter Aufmerksamkeit hörte das Gericht den Verteidigervortrag an. Es herrschte eine feierliche Stimmung. Es war wie ein Abschiednehmen von einer Zeit, einem Ort und einer Tradition, die uns ein heiliges Vermächtnis gewesen waren. Wir appellierten an den preußischen Richter, den Geist von Sanssouci! Es gibt noch Richter in Berlin! Dieses stolze Wort des Müllers von Sanssouci wurde da noch einmal lebendig im Regierungsgebäude von Potsdam. Da gab es keine Rücksicht auf Politik, Staatsräson und Prestige. Da galt noch einmal nur das Recht. Der Angeklagte wurde in allen wesentlichen Punkten freigesprochen.


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Anmerkungen

33Abkommen Himmler-Thierack vom 12. September 1942. ...zurück...


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Politische Justiz: die Krankheit unserer Zeit