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Der ekle Wurm
der deutschen Zwietracht

Politische Probleme rund um den 20. Juli 1944


Friedrich Lenz


10. Englands As - Hitlers Fehlkalkulation

Kehren wir nun zurück zu Hitler!

Am 22. August 1939 hatte das Staatsoberhaupt seine Generale in Berchtesgaden versammelt und ihnen auseinandergesetzt, daß er nunmehr fest entschlossen sei, die Korridorfrage so oder so zu bereinigen, und zwar auch angesichts des englischen Hilfsversprechens für Polen. Er begründete ausführlich, daß es nicht mehr mit der Ehre Großdeutschlands und seiner Zukunft vereinbar sei, daß sich Polen und die Westmächte einer von ihm angebotenen großzügigen und gütlichen Lösung der Korridorfrage widersetzten.

1. Er glaubte, daß Deutschland stark genug sei, Polen niederzuwerfen und auch einen Eventualkampf gegen die Westmächte zu bestehen;

2. er war der Überzeugung, daß es die Westmächte im Hinblick auf die Stärke Deutschlands gar nicht wagen würden, Krieg zu führen, sondern wie bis dahin nur wieder drohen wollten;

3. er wies auf den Vorteil hin, der sich aus der Tatsache des bevorstehenden Abschlusses des deutsch-russischen Paktes ergebe.

Es muß jedem Einsichtigen klar sein, daß Hitler vor diesem weittragenden Entschluß alle Für und Wider sorgfältig geprüft und vor allem die gegenseitigen Kräfteverhältnisse genau abgewogen hatte. Worin lag der große Irrtum, dem er bezüglich des Eingreifens der Westmächte zum Opfer fiel und damit bezüglich des Kriegsausganges selbst?

1. Er hatte die größte Armee übersehen, die dem Feinde zur Verfügung stand. - Das waren die verbindlichen Zusagen der Verschwörer, der Freunde Englands, der Feinde Hitlers. England wartete auf die zugesagten Staatsstreiche und rührte für Polen keinen Finger.

2. Seine größte Hilfsarmee, mit der er im diplomatischen Kampf der Mächte bis dahin erfolgreich zu operieren verstand, existierte nicht mehr, ohne daß er dies wußte. - Das war das durch kluge Propaganda vorgetäuschte Rüstungs-Mehrpotential, das den Engländern von den deutschen Freunden prompt gemeldet worden war, das sie nun also nicht mehr zu fürchten brauchten.

Für einen vernünftigen Deutschen kann es gar keinem Zweifel unterliegen, daß England den Kampf nicht gewagt hätte, wenn es diese Sicherheit auf die Hilfe so mächtiger Gegner seines größten Feindes innerhalb dessen eigenster Stellung nicht gehabt hätte. Der Konflikt Deutschland-Polen wäre im Sinne Hitlers ohne Krieg bereinigt worden und es hätte nun wirklich keine ungeklärten Fragen mehr für Deutschland gegeben. Großdeutschland wäre unangreifbar gewesen und selbst der Bolschewismus hätte seine Expansionstätigkeit einstellen oder einen von vornherein aussichtslosen Krieg führen müssen.

Hitler hatte nur dank dieser durch die Verschwörer dem Feinde gewährten Hilfe das Wettrennen um die Macht in Europa verloren. Welch ungeheuren Wert England der Kenntnis von dem Bestehen einer Verschwörung gegen Hitler und deren Staatsstreichabsichten beimaß, ergibt sich aus folgender Überlegung. Die englische Regierung hatte 1939 monatelang "versucht", mit Rußland zu einem Beistandsvertrag zu kommen. Das englische Unterhaus war ganz aufgeregt, daß die Verhandlungen sich so in die Länge zogen und zu keinem Ergebnis führten, und versuchte mehrmals zur Eile zu drängen und Auskunft zu erhalten. Die englische Regierung antwortete immer wieder ausweichend. Auch den Russen dauerte das Verhandeln zu lange, sodaß der russische Politiker Schdanov am 29. Juni in einem längeren Artikel zur richtigen Schlußfolgerung kam, daß die Engländer ernstlich gar nicht wollten. Der Artikel schloß: "Dies alles spricht dafür, daß die Engländer und Franzosen keinen Vertrag mit der UdSSR wünschen, der auf dem Prinzip der Gleichheit und Gegenseitigkeit beruht, wenngleich sie auch täglich hochheilig versichern, daß auch sie für 'Gleichheit' sind, sondern einen Vertrag, in dem die UdSSR die Rolle eines Knechtes spielen würde, der die ganze Last der Verpflichtungen auf seinen Schultern zu tragen hätte. Aber kein Land, das sich selbst achtet, geht auf einen solchen Vertrag ein, denn sonst wäre es ein Spielzeug in den Händen von Leuten, die sich gern von anderen die Kastanien aus dem Feuer holen lassen. Umso weniger kann die UdSSR, deren Kraft, Macht und Wert der ganzen Welt bekannt sind, auf einen solchen Vertrag eingehen."

An Hitler und seinem Außenminister v. Ribbentrop wurde gerade deswegen die "vernichtende" Kritik geübt, weil sie - wie sich aus der Rede an die Generäle vom 22. August 1939 ergibt - nicht mit einem Eingreifen Englands gerechnet, also die weltpolitische Lage völlig falsch beurteilt hätten. Nun - die Wirklichkeit liegt aber anders. Herr v. Ribbentrop berichtete schon am 2. Januar 1938 aus London an Hitler: "Steht England mit seinen Bündnissen Deutschland und seinen Freunden gegenüber stärker da, wird es meines Erachtens früher oder später immer schlagen. Ribbentrop Gelingt es dagegen Deutschland, seine Bündnispolitik so zu gestalten, daß eine deutsche Konstellation einer englischen stärker oder vielleicht ebenbürtig gegenüber steht, wäre es möglich, daß England lieber doch noch einen Ausgleich versucht... Jeder Tag in der Zukunft, ganz gleich, welche Taktik und Zwischenspiele der Verständigung mit uns versucht werden sollten, an dem unsere politischen Erwägungen nicht grundsätzlich von dem Gedanken an England als unserem gefährlichsten Gegner bestimmt würde, wäre ein Gewinn für unsere Feinde. Ich habe seit Jahren für eine Freundschaft mit England gearbeitet und wäre über nichts froher als wenn sie herzustellen wäre. Als ich den Führer bat, mich nach London zu schicken, war ich skeptisch, ob es gehen würde, aber im Hinblick auf Eduard VIII. schien ein letzter Versuch geboten. Heute glaube ich nicht mehr an eine Verständigung. England will kein übermächtiges Deutschland in seiner Nähe, das eine ständige Bedrohung seiner Insel wäre. Dafür wird es kämpfen!"

Ich überlasse es dem Leser, darüber zu urteilen, ob diese Bewertung der Lage zu einer Zeit, zu der von Ribbentrop noch nicht einmal Außenminister war und das alles noch nicht wissen konnte, was sich bis zum 22. August 1939 noch "verschärfend" ereignet hatte, von Bismarck besser hätte vorgenommen werden können. Trotzdem konnte die Wahrheit sein Leben nicht retten.

Hitler und sein Außenminister hatten am 22. August bei der Beurteilung der gegenseitigen Kräftekonstellation alles richtig beurteilt - bis auf die Tatsache, daß sie den neuen Verbündeten Englands nicht einkalkulierten, weil er unter der Tarnkappe des Verrats verborgen war.

Lloyd George Daß sie die Lage richtig beurteilten und ein Recht hatten zu glauben, daß England nicht eingreifen würde, ergibt sich aus dem Verhalten einer der bedeutendsten englischen Politiker, nämlich Lloyd George. Dieser hatte bekanntlich vorausgesagt, daß wegen des Korridors der nächste Weltkrieg ausbrechen würde, und zu seiner Tochter gesagt: "Jawohl, heil Hitler, das sage ich auch, denn er ist wirklich ein großer Mann." Es war also begreiflich, daß man ihn in die internsten englischen Geheimnisse nicht mehr einweihte. Er sagte schon am 19. Mai 1939 im Unterhaus: "Ohne Rußland sind unsere Garantien an Polen, Rumänien und Griechenland sinnlos."

Als Polen geschlagen war, kam er Ende September zu dem Politiker Robert Boothby (Englands jetziger Vertreter in Straßburg), der "ihn nie zuvor so voller Unruhe und Angst sah", und sagte tiefseufzend: "Ich wünschte, mir wäre der wirkliche Stand der Dinge bekannt. Aber ich werde nicht eingeweiht." Tags zuvor hatte er zu einem größeren Kreis gesagt: "Wir hätten Polen niemals ohne Rußland eine Garantie geben dürfen. Da wir es taten, hätten wir uns unmittelbar hinterher, koste es, was es wolle, Rußlands versichern müssen... in diesem Falle hätten wir eben den Krieg nicht erklären dürfen." Voller Angst um das Schicksal Englands schlug er sogar Verhandlungen mit Hitler vor: "Aber unter gewissen Umständen sei es nicht allein vom politischen, sondern vom strategischen Standpunkt aus weise, Verhandlungen anzuknüpfen, wenn es auch nur zum Zwecke des Zeitgewinns geschehe."

Wenn er anschließend seinen Gesprächspartner damit tröstet, daß letzten Endes der Friede von Amiens (1802) Napoleons Sturz auch nicht verhindert habe, so beweist dies dramatisch die Tatsache, daß er - jeder Zoll ein Engländer - nur die Interessen seines Vaterlandes, in diesem Falle den Zeitgewinn im Auge hatte und keine moralischen Skrupel, immer getreu dem bekannten englischen Grundsatz: "All my country - right or wrong." Daran können sich unsere Außenpolitiker der Opposition ein Beispiel nehmen, welche - angeblich im Interesse des Weltfriedens und der Menschlichkeit - gegen die Interessen ihres Vaterlandes handelten.

Hitler hatte also schon recht, als er am 22. August annahm, daß die Engländer nicht eingreifen würden, zumal selbst in England vielfach Stimmen laut geworden waren, welche im Falle des Scheiterns der Verhandlungen den Rücktritt der Regierung als notwendige Folge bezeichneten. Darauf ist es auch zurückzuführen, daß Hitler am Tage nach dem Abschluß seines Vertrages mit Rußland auf die Meldungen vom Rücktritt der englischen und französischen Kabinette wartete. Aber vergeblich. Denn die englische Regierung kam gar nicht aus der äußerlichen Ruhe. "Eiskalt" schloß sie am 25. August 1939 trotz des Wegfalls Rußlands ihren Beistandsvertrag mit Polen26 und erklärte den Krieg an Deutschland.

Die russische Hilfe wäre ihr nämlich seinerzeit zu kostspielig gewesen; die Hilfe der deutschen "Freunde" war billiger. Schon im Juni hatten die Herren Brüder Kordt Herrn Vansittart in London verraten, daß Hitler einen Vertragsabschluß mit Stalin plane und sich geäußert habe, er werde es mit Polen zu keinem Krieg kommen lassen, wenn vorher die Engländer den Vertrag mit den Russen abschlössen.


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Anmerkung

26Die Engländer ließen sich von diesem Beistandspakt auch nicht dadaurch abhalten, daß sie über die Polen sehr verärgert waren, weil diese bei der Auflösung der Tschechei das Olsagebiet an sich gerissen hatten und bei den englisch-russischen Verhandlungen den Engländern das Durchmarschrecht für die Russen verweigerten. Ferner hatten sie Englands politisches Spiel durch ihren lauten Chauvinismus sehr gestört. ...zurück...


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