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Nr. 30:

Erklärung des Britischen Premierministers Chamberlain im Unterhaus, 21. Juni 1938
(Auszug)

Der Premierminister: Das Ehrenwerte Mitglied für Derby (Mr. Noel-Baker) begann seine Ausführungen mit einigen allgemeinen Bemerkungen über die Schrecken des modernen Krieges, wie sie sich aus dem Bombenabwurf aus der Luft ergeben. Ich glaube nicht, daß irgendein Mitglied des Hauses gegen diese allgemeinen Ausführungen etwas einzuwenden haben wird... Wir stehen vor der Tatsache, daß die Erfindungen von Wissenschaftlern, die zu der praktischen Entwicklung der Möglichkeiten führten, in der Luft zu fliegen, neue Methoden, neue Gesichtspunkte und neue Schrecken in die Kriegführung gebracht haben, die ihren Charakter wesentlich veränderten und nebenbei eine ganze Reihe neuer Probleme aufwarfen, mit denen sich unsere Vorfahren niemals beschäftigten.
      Der Redner sprach über Völkerrecht und sagte ganz richtig, es sei völlig falsch, zu behaupten, daß neue Waffen neues Recht schaffen. Ich pflichte ihm bei, aber ich muß zur näheren Bestimmung sagen, daß neue Waffen neue Bedingungen schaffen können, die, wenn nicht eine Umformung, so doch auf jeden Fall eine Erweiterung des bestehenden Rechts notwendig machen, weil das alte Recht Fälle einbeziehen muß, die unter den alten Bedingungen nicht einzubeziehen waren. Tatsache ist, daß es im Augenblick keine Völkerrechtsvorschriften über den Luftkrieg gibt, die allgemein anerkannt sind. Es gibt gewisse Vorschriften des internationalen Rechts, die für See- und Landkriegführung aufgestellt wurden. Die Prinzipien, die diesen Vorschriften zugrunde liegen, sind auch auf den Luftkrieg anwendbar, und unsere Regierung läßt sie nicht nur gelten, sondern sie besteht sogar darauf. Sie treffen aber den Fall nicht ganz, mit dem wir es heute zu tun haben.
      Der Redner ging sehr rasch über Schwierigkeiten hinweg, die an sich sehr schwerwiegend sind und deren Lösung bis jetzt noch nicht gelungen ist. Ich wurde vor kurzer Zeit gefragt, ob die Regierung Schritte unternehme, um mit anderen Staaten eine internationale Vereinbarung über die Vorschriften des Luftkrieges zu erzielen. Auf den Bänken der Opposition zeigte man einige Ungeduld, weil wir noch keinen derartigen Schritt unternommen hatten, aber ich führte damals aus und ich wiederhole heute, daß es keinen Sinn hat, eine allgemeine Einladung zu einer Zusammenkunft und Besprechung an andere Staaten ergehen zu lassen, solange wir ihnen nicht einen konkreten und praktischen Vorschlag machen können, der das Thema einer Erörterung bilden kann.

Mr. A. Bevan: Warum machen wir ihnen keinen solchen Vorschlag?

Der Premierminister: Darüber will ich gerade sprechen. Die Britische Regierung ist dabei, die Lage sorgfältig zu prüfen, um einen praktisch durchführbaren Entwurf auszuarbeiten, den wir den anderen Ländern zur Annahme oder Abänderung, je nachdem, vorlegen können.

Mr. A. Bevan: Kann dies nicht beschleunigt werden?

[60] Der Premierminister: Der Fragesteller ist ein sehr kluger Mann, und ich zweifle nicht daran, daß er sich diese Fragen viel rascher überlegen kann als wir. Die Oppositionspartei hat bis jetzt noch keine praktisch durchführbaren Vorschläge gebracht.

Mr. Noel-Baker: Ich glaube nicht, daß der sehr ehrenwerte Vorredner dahingehend verstanden sein möchte, daß wir die Vorschriften umwerfen wollen, die 1923 in der Konferenz, von der ich gesprochen habe, ausgearbeitet worden sind.

Der Premierminister: Ich schlage nicht vor, überhaupt irgend etwas umzuwerfen. Was ich sagen möchte, ist, daß wir bis jetzt keinen Vorschlag haben, der konkret genug wäre und der die verschiedenen Schwierigkeiten, von denen ich einige erklären wollte, praktisch genug behandelt.
      Ich glaube, wir können sagen, daß es drei völkerrechtliche Bestimmungen oder drei völkerrechtliche Grundsätze gibt, die auf den Luftkrieg ebenso anwendbar sind wie auf den Krieg zur See oder zu Lande. Erstens verstößt es gegen das Völkerrecht, auf Zivilisten als solche Bomben zu werfen und absichtliche Angriffe auf die Zivilbevölkerung zu machen. Das ist zweifellos ein Verstoß gegen das Völkerrecht. Zweitens müssen Ziele, auf die von der Luft aus gezielt wird, rechtmäßige militärische Ziele und als solche identifizierbar sein. Drittens muß bei Angriffen auf solche militärischen Ziele angemessene Sorgfalt geübt werden, damit nicht durch Fahrlässigkeit Bomben auf eine Zivilbevölkerung in der Nachbarschaft geworfen werden.
      Das sind drei allgemeine Bestimmungen, die wir sämtlich annehmen können und auch tatsächlich annehmen, aber es liegt auf der Hand, daß sich beträchtliche Schwierigkeiten ergeben, wenn man sie in die Praxis umsetzen will. Ich will hier gleich aussprechen, daß wir jede Erklärung von irgend jemand - ganz gleich, wo sie abgegeben würde und auf welcher Seite sie abgegeben würde -, wonach es zu einer absichtlichen Politik gehörte, durch Demoralisierung der Zivilbevölkerung mit Bombenangriffen aus der Luft einen Krieg gewinnen zu wollen, gar nicht scharf genug verurteilen können. Das läuft dem Völkerrecht völlig zuwider, und ich möchte hinzufügen, daß, wenn eine derartige Politik getrieben wird, es meiner Ansicht nach auch vom Standpunkt derer, die sie treiben, eine falsche Politik ist; denn ich glaube nicht, daß man durch absichtliche Angriffe auf die Zivilbevölkerung jemals einen Krieg gewinnen kann. Schwierig wird es, wenn eine der am Luftkrieg beteiligten Armeen der absichtlichen Bombardierung von Zivilpersonen beschuldigt wird und dann ableugnet, daß sie Zivilpersonen bombardiert habe oder daß dies absichtlich geschehen sei, und behauptet, sie habe militärische Ziele angegriffen. Weiterhin, was ist ein militärisches Ziel? Sicher sind das keine Fragen, über die man hinweggehen kann, als ob sie ohne Bedeutung wären...

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Dokumente über die Alleinschuld Englands
am Bombenkrieg gegen die Zivilbevölkerung

Hg. vom Auswärtigen Amt