X. Die Anschlußfrage als
Wirtschaftsproblem (Forts.)
[361]
Handel, Handwerk und
Gewerbe
Kammerrat Hermann Kandl (Wien)
Wirtschaftliche Annäherungsbestrebungen
während des Weltkrieges Beschluß der Wiener
Handels- und Gewerbekammer vom 8. Oktober 1915
Die Notwendigkeit einer
Zoll- und Wirtschaftsunion zwischen dem Deutschen Reich und
Deutschösterreich Ihre Bedeutung für den
Handel Die österreichische Wirtschaft für einen
österreichisch-deutschen Wirtschaftszusammenschluß
Aufbau der gewerblichen Organisationen Gewerbeordnung
im Reich und in Österreich Handwerk und
Gewerbe.
Am 29. April 1915 stellten die Kammerräte Hermann Kandl,
Krause und Genossen in der Kammer für Handel, Gewerbe und
Industrie in Wien den Antrag, "einen Sonderausschuß zu wählen, der
die Frage einer engeren wirtschaftlichen Annäherung zwischen
Österreich-Ungarn und Deutschland einer eingehenden Beratung
unterziehen und diesbezügliche Anträge zu stellen hat". Im Antrage
selbst heißt es u. a.:
"...läßt eine
zoll- und handelspolitische Annäherung zwischen
Österreich-Ungarn und Deutschland eine Besserung unserer
Produktionsbedingungen, eine Erleichterung der Spezialisierung für die
verarbeitenden Industrien, die Hebung unserer Konsumfähigkeit und die
Förderung der Exportmöglichkeiten erwarten. Der wirtschaftliche
Zusammenschluß mit dem Deutschen Reiche wird gewiß
Übergangsschwierigkeiten hervorrufen, welche jedoch überwunden
werden müssen und welche bei weisem Entgegenkommen gegenüber
den davon betroffenen Zweigen der Volkswirtschaft auch überwunden
werden können. Das Wohl des Staates und der gesamten Volkswirtschaft
muß eben den Interessen einzelner, ja selbst einzelner Produktionszweige
vorausgehen. Die unterzeichneten Kammermitglieder sprechen daher die
Überzeugung aus, daß die Ausgestaltung der handelspolitischen
Beziehungen zum Deutschen Reiche für beide Staaten eine unbedingte
Staats- und Volksnotwendigkeit ist und daß die niederösterreichische
Handels- und Gewerbekammer als erste wirtschaftliche Vertretung
Österreichs sich an die Spitze der darauf abzielenden patriotischen
Bestrebungen stellen muß."
Nach sechsmonatigen Ausschußberatungen sprach sich die
niederösterreichische
Handels- und Gewerbekammer für "ein von allen anderen
Handelsverträgen unabhängiges Wirtschaftsbündnis von
möglichst langer Zeitdauer, für vorher vereinbarte Zolltarife,
einheitliches Tarifschema, möglichst gleiche Zollsätze, gegenseitige
zolltarifarische [362]
Begünstigung der Verbündeten und die
Abbaumöglichkeit der vorerst nötigen Zwischenzölle"
aus.
Eindeutiger sprach sich zu gleicher Zeit der Reichshandwerkerrat aus, eine
Körperschaft, in der das deutsche
alpen- und sudetenländische Handwerk zusammengefaßt war. Nach
einem eingehenden Vortrage des Verfassers dieser Zeilen beschloß am
8. Oktober 1915 der Vorstand des Reichshandwerkerrates folgende
Leitsätze:
"1. Der engste
wirtschaftliche Zusammenschluß der verbündeten Staaten ist eine
wirtschaftliche und politische Notwendigkeit. 2. Aus diesem
Grunde tritt die deutsche Handwerkerschaft, selbst wenn augenblickliche Opfer
nötig wären, für die Zollunion mit dem Deutschen Reich ein.
3. Sollte die Zollunion nicht in ihrer vollen Reinheit
durchführbar sein, so ist eine Lösung anzustreben, die der idealen
möglichst nahekommt und ihr für die Zukunft die Wege ebnet.
Jedenfalls soll festgelegt werden: a) Zwischen
den Zentralmächten ist ein Zollbund zu schließen, der
unabhängig von allen Handelsverträgen mit dritten Staaten auf eine
möglichst lange Zeitdauer geschlossen wird. Für dritte Staaten ist ein
einheitliches Zollschema aufzustellen. Diese
Minimal- und Maximaltarife können nur im gegenseitigen Einvernehmen
abgeändert werden. b) Verträge mit dritten Staaten
sollen nur gemeinsam verhandelt und abgeschlossen werden.
c) Das Zollbündnis ist so festzulegen, daß bei
gegenseitiger Zustimmung dritte Staaten darin Aufnahme finden können.
(Mitteleuropäischer Zollbund.) d) Die Zwischenzölle
sollen – immer nur, falls der mit allen Mitteln zu erstrebende reine
Zollbund sich als nicht gleich schließbar
erweist – möglichst niedriggestellt und in absehbarer Zeit
abgebaut werden. e) Der Abbau soll, bei den Rohstoffen
beginnend, die Halbfabrikate und schließlich die Enderzeugnisse erfassen.
f) Diese Regelung ist durch eine sich diesen Verhältnissen
anpassende
Tarif- und Steuerpolitik, möglichst gleiche Gesetzgebung auf dem Gebiete
der Vergesellschaftung des Kapitals und durch eine vernünftige
Gewerbeschutzpolitik zu unterstützen."
Der Reichshandwerkerrat war demnach die erste Körperschaft, die klar und
deutlich die Forderungen aufstellte, die heute [363] mehr denn je die
Forderungen aller vorausdenkenden Wirtschaftskreise sind. Wie viel Jammer und
Sorge wäre uns Deutschen erspart geblieben, ja welche Wendungen
hätte vielleicht unser Geschick nehmen können, wenn die
Staats- und Wirtschaftslenker von 1915 die Bedeutung dieser Fragen voll erkannt
hätten!
Seitdem sind die im Jahre 1915 in Österreich vielfach als "Hochverrat"
gewerteten Grundsätze Gemeingut aller wirtschaftlich Denkenden
geworden, mit Ausnahme kleiner, zumeist politischen Sonderbestrebungen
dienender Kreise. Fünfzehn Jahre steter Sorge und mühsamen
Erhaltens haben in Österreich die Überzeugung gefestigt, daß
ein Wirtschaftsaufschwung in einem Staat unmöglich ist, dessen
Rohstoffgrundlagen ungemein mangelhaft und dessen industrielle und
gewerbliche Veredlungsanlagen vielfach unvollkommen sind, weil die einst
dazugehörigen und ergänzenden Teile nunmehr im Neuauslande
liegen und zu deren Neuschaffung die geldlichen Mittel fehlen.
Das gleiche gilt vom Handel, der sich an den engen Grenzen eines
Wirtschaftskäfigs wundstößt, den rings die
unübersteigbaren Zollmauern der Nachfolgestaaten umgeben.
So ist es erklärlich, daß sich in Österreich immer mehr die
Überzeugung festigt, daß es ein grober Fehler wäre, mit halben
Mitteln halben Zielen zuzustreben, da halbe Lösungen die Schwierigkeiten
zeitlich und sachlich vervielfachen und die Vorteile auf ein Mindestmaß
herabdrücken würden. Ohne die großen Schwierigkeiten einer
Zoll- und
Wirtschaftsunion – der einzig vernünftigen, weil zielwürdigen
Lösung – zu verkennen, ringt sich endlich doch die
Überzeugung durch, daß die großzügige
Lösung die opfergeringere sein muß und wird; es ringt sich
endlich die Überzeugung durch, daß selbst der reine
Zoll- und Wirtschaftsverein keine wirtschaftliche Gefährdung für
zwei Staaten bedeuten kann, von denen der eine das Rentenmarkwunder erzwang
und der andere es immerhin zuwege brachte, seine Volkswirtschaft unter den
allerschwierigsten Verhältnissen völlig umzustellen.
Deutschösterreich soll nun wieder den Weg in eine großstaatliche
Volkswirtschaft suchen und finden; es ist wohl großwirtschaftlichen
Denkens und Handelns noch nicht so
entwöhnt – war Wien doch der Mittelpunkt der
altösterreichischen
Gesamtwirtschaft –, daß es nicht leichter diesen Weg
zurückfände, als den Weg weiterer Einschränkung ginge.
Diese weitere [364] Einschränkung
wäre jedoch unvermeidlich, da Wien, auch heute der
Wirtschaftsmittelpunkt Kleinösterreichs, noch immer aus dem
volkswirtschaftlichen Beharrungsvermögen heraus, das heißt aus den
alten Verbindungen mit dem Neuauslande, Vorteile und Geschäfte zieht,
die sich noch weiter abschwächen und schließlich aufhören
müssen infolge der Bestrebungen der Nachfolgestaaten, ihren
Hauptstädten die ehemalige Stellung Wiens zu verschaffen.
Wien verfügt heute noch, als vormaliger Mittelpunkt großstaatlichen
Wirtschaftslebens, über große Anlagen großgewerblicher und
gewerblicher Art; seine Kaufmannschaft hält, wo es noch halbwegs
möglich ist, aber nur mühsam und stets gehemmter, ihre
Verbindungen mit den ehemaligen Staatsgenossen aufrecht; seine Banken und
sonstigen Anstalten für den
Geld- und Kreditverkehr
können – bei aller Schrumpfung, die inzwischen
eintrat – dauernd im engen Wirtschaftsgebiete kein Genügen finden
und sind gezwungen, weiter abzubauen oder Verflechtungen einzugehen, die nicht
immer dem österreichischen oder gesamtdeutschen Vorteile dienen.
Wien, die große Sorge Kleinösterreichs, ist für Deutschland
das gegebene Ausfalltor nach Osten; dem gesamtdeutschen Handel können
die jahrhundertealten Verbindungen, die genaue Kenntnis der Volksseelen im
nahen Osten dienstbar gemacht, kostbarstes gesamtdeutsches Wirtschaftsgut auf
diese Art gerettet werden; ansonsten bedeutet Wien für das große
Deutsche Reich eine große Stadt, einen hohen Kulturmittelpunkt mehr,
ohne jede Gefährdung seines wirtschaftlichen Gleichgewichtes,
während Wien derzeit der viel zu große Kopf eines kleinen
Körpers ist.
Hiebei ist aber noch gar nicht die Bedeutung eines Großschiffahrtsweges
Rhein–Main–Donau oder dessen Ersatz durch
Massengüterbahnen in Betracht gezogen. Dieser Verkehrsausbau wird sich
aber um so nötiger erweisen, weil die tschechoslowakische nationale
Verkehrspolitik eine Verbindung der Donau mit der Elbe und Oder, mit
Preßburg als Haupthafen anstrebt. Was die Ausführung dieser
tschechischen Pläne für den österreichischen
Durchfuhrverkehr bedeuten würde, bleibe hier ebenso unerörtert, wie
deren Einfluß auf die gesamtdeutsche Geltung im Osten Europas.
[365] Für den Handel
ist das möglichst große Betätigungsfeld und die
möglichste Freizügigkeit, ist der ungehinderte Warenaustausch
Voraussetzung des Gedeihens; damit ist auch seine Stellung zum
Wirtschaftszusammenschlusse gegeben. Es wäre höchstens die Frage
aufzuwerfen, ob die verantwortlichen Leiter der
Berufs- und freien Verbände des Handels nicht einer anderen
Wirtschaftszusammenfassung als der
Österreich-Deutschland den Vorzug gäben. Mit Ausnahme einzelner
Eigenbrötler hat sich kaum eine ernst zu nehmende Stimme für eine
andere Lösung ausgesprochen. Diese Behauptung ist auch dadurch belegt,
daß es z. B. in Wien und Niederösterreich keinen
protokollierten und keinen nichtprotokollierten Kaufmann gibt, der nicht im Wege
seiner Organisation der Delegation für den
österreichisch-deutschen Wirtschaftszusammenschluß
angehört, einer Gemeinschaft, die nur körperschaftliche Mitglieder
hat.
Am 17. Juni 1927 fand in Klagenfurt der V. ordentliche Verbandstag des
Hauptverbandes der österreichischen Kaufmannschaft statt, dem die
hervorragendsten Vertreter der österreichischen Kaufmannschaft
beiwohnten. Nach einem einleitenden Berichte, der sich für den Abbau der
hohen Zollmauern und der Handelshindernisse im allgemeinen aussprach, wurde
ein Antrag (Hueber) einstimmig angenommen, in dem die unbedingte
Notwendigkeit der Vergrößerung des österreichischen
Wirtschaftsgebietes festgestellt wird. Es heißt dann im Antrage:
"Auf Grund wirtschaftlicher,
kultureller, nationaler und traditioneller Gründe kann in dieser Richtung nur
ein Anschluß an das Deutsche Reich in Frage kommen", ferner wird "das
Hauptpräsidium erneut beauftragt, bei jeder sich bietenden Gelegenheit
für eine wirtschaftliche Annäherung Österreichs an das
Deutsche Reich einzutreten und für eine Angleichung zur Vorbereitung des
Anschlusses Sorge zu tragen".
Für den Handel ist die großzügigste Lösung die beste,
denn sie schaltet die Unsicherheit und die Erschütterungen durch stets neue
Übergangsbestimmungen aus. Die Vereinheitlichung auf allen
Rechtsgebieten des Handels bietet keine unüberwindlichen
Schwierigkeiten, wie die stets fortschreitende Rechtsangleichung beweist. Die
Ungleichheit der
Steuer- und sozialen Gesetzgebung ist praktisch vorerst durch eine Tatsache auf
einen gemeinsamen Nenner [366] gebracht: Die
Belastung ist in beiden Wirtschaftsgebieten nahezu gleich hoch und beiderseits an
der wirtschaftlichen Erträglichkeitsgrenze; die Steuern und Abgaben sind
hüben und drüben nicht einheitlich für das ganze Staatsgebiet,
sondern durch Sonderbesteuerungen der Länder und Gemeinden auch
innerhalb jedes Staatsgebietes ungleich; die Hauptsteuern aber einander
ähnlich. Ein Neuaufbau des gesamten Steuerwesens wird hüben und
drüben von der Gesamtwirtschaft immer dringender gefordert; sie in beiden
Staaten nach gleichen Gesichtspunkten durchzuführen, wäre eine
Hauptaufgabe der Angleichungspolitik.
Die soziale Gesetzgebung ist derzeit in beiden Wirtschaftsgebieten von der
Arbeitslosenfrage beherrscht, die eine Dauererscheinung wurde. Die
Arbeitslosenfürsorge nach gleichen Grundsätzen zu regeln, ist eine
Grundforderung, weil diese Regelung Voraussetzung der Freizügigkeit in
einem gemeinschaftlichen Wirtschaftsgebiet ist, gleichviel in welcher Form diese
Gemeinsamkeit angestrebt wird. Da die Regelung dieses Sozialgebietes weder in
Deutschland noch in Österreich bisher auch nur halbwegs befriedigend
gelungen ist, kann bei einigem Verständigungswillen eine Angleichung der
Hauptgrundsätze nicht schwer fallen.
Die Alters- und Invaliditätsversicherung harrt in Österreich noch der
Durchführung; auch hier ist demnach die Möglichkeit einer
gleichgerichteten grundsätzlichen Lösung gegeben.
Schwieriger liegen die Verhältnisse, soweit Handwerk und Gewerbe in
Betracht kommen. Die Gesetzgebung auf diesem Gebiete ist in den beiden
deutschen Staaten grundsätzlich verschieden. Der § l
der österreichischen Gewerbeordnung besagt: "Die Gewerbe sind:
a) freie Gewerbe; b) handwerksmäßige Gewerbe;
c) konzessionierte Gewerbe."
Alle wirklich handwerksmäßigen und gewerblichen
Tätigkeiten fallen unter dem Begriff "handwerksmäßige
Gewerbe" oder "konzessionierte Gewerbe" und sind demnach nach
österreichischem Gesetze a) an die regelrechte Erlernung des
Gewerbes (Lehrzeit), an die Gesellenprüfung, an eine bestimmte
Gesellenzeit und, soweit die Lehrlingshaltung in Betracht kommt, an die
Meisterprüfung gebunden.
[367] Diese Bestimmungen
haben sich, obwohl sie vielfach als "reaktionär" angegriffen werden, im
großen und ganzen bewährt. Tatsache ist, daß ein großer
Teil der Gewerbe, die als "freie" an keinen Befähigungsnachweis gebunden
sind, die Handwerksmäßigkeit anstrebt.
Eine Umfrage der Delegation für den
österreichisch-deutschen Wirtschaftszusammenschluß, die unter dem
Titel Wünsche der österreichischen Wirtschaft bezüglich
des Wirtschaftszusammenschlusses mit dem Deutschen Reich im Druck
erschien, ergab, daß die weitaus überwiegende Zahl der befragten
Gewerbe unbedingt für die Beibehaltung des Befähigungsnachweises
eintritt und diesbezüglich die Annäherung der deutschen
Gesetzgebung an die österreichische verlangt oder eine Sonderstellung
für Österreich fordert.
Auch der sonstige Aufbau der gewerblichen Organisation, der in Österreich
die Berufsgleichen in Zwangsgenossenschaften, diese in
Zwangslandesverbänden und endlich in einem Bundesverband
zusammenfaßt, ermangelt des deutschen Gegenstückes.
Während in Österreich als Spitzenkörperschaften die
"Kammern für Handel, Gewerbe und Industrie", kurz "Handelskammern"
genannt, gelten, in denen Handel, Gewerbe, Industrie, Banken und Verkehrswesen
vertreten sind, deren Vertreter gemeinsam tagen und gemeinsam
Beschlüsse fassen, sieht die Reichsgewerbeordnung Handwerkskammern
mit weitaus geringerem Einfluß, Befugnissen und geldlichen Mitteln
vor.
Die "Gewerbeordnung für das Deutsche Reich" bestimmt im § 1: "Der
Betrieb eines Gewerbes ist jedermann gestattet...", spricht sich daher
grundsätzlich für die Gewerbefreiheit aus.
Die Reichsgewerbeordnung bestimmt ferner: "Diejenigen, welche ein Gewerbe
selbständig betreiben, können zur Förderung der
gemeinsamen gewerblichen Interessen zu einer Innung zusammentreten."
Diese Innungen, unseren Genossenschaften ähnlich gedacht, können
auch als Zwangsinnungen errichtet werden, wenn die Mehrheit der
Einführung des Innungszwanges zustimmt; die Innung kann auch so
gebildet werden, daß der Beitrittszwang nur für Gewerbetreibende
gilt, "welche der Regel nach Gesellen und Lehrlinge halten".
[368] Mit Recht
werden – auch vielfach im
Reiche – diese Bestimmungen als Halbheiten empfunden. Die Hauptsache
und der Hauptunterschied bleibt, daß im Reiche jedermann jedes Gewerbe
ausüben und somit auch Innungsmitglied werden kann oder muß,
während es der Grundgedanke der österreichischen Gewerbeordnung
ist, durch den Befähigungsnachweis und den Genossenschaftszwang
Personen von der
Gewerbe- und Handwerkstätigkeit fernzuhalten, die kein inneres
Verhältnis zu ihrem Berufszweig haben und nur den jeweilig besten
Verdienstmöglichkeiten nachlaufen, ohne an der sonstigen Erhaltung und
Weiterbildung des Berufszweiges inneren Anteil zu nehmen; denen daher das
Berufsschulwesen, die Lehrlingsausbildung, das dauernde Verhältnis zur
Gesellenschaft und die Wohlfahrtseinrichtungen der Genossenschaft
gleichgültig, ja lästig sind.
Diesen Grundgedanken trägt die österreichische Gewerbeordnung
tatsächlich in hervorragendem Maße, die Reichsgewerbeordnung sehr
mangelhaft Rechnung, und hier klafft ein bisher unüberbrückter
Gegensatz.
Es läßt sich aber nicht leugnen, daß im Deutschen Reiche
immer weitere Kreise des deutschen Handwerks auf eine Verschärfung der
Reichsgewerbeordnung in bezug auf den Schutz handwerksmäßiger
Tätigkeit hindrängen. Zum Teil wurden verschärfte
Bestimmungen bezüglich der Handwerkerrollen, der Lehrlingshaltung
u. a. m. auch bereits durchgeführt; es erscheint kaum
zweifelhaft, daß bei einer innigeren Verbindung beider Wirtschaften die
strengere österreichische Auffassung der Gewerberechte werbender sein
dürfte als die reichsdeutsche Gewerbefreiheit. Jedenfalls wird diese Frage
mit größter Vorsicht behandelt werden müssen, es werden
Sonderbestimmungen für Österreich kaum zu vermeiden sein, um
jede Beunruhigung der österreichischen Gewerbetreibendenkreise
hintanzuhalten; man darf sich darüber nicht täuschen, daß eine
Bedrohung des Befähigungsnachweises die österreichischen
Handwerker als eine Bedrohung ihrer fachlichen und wirtschaftlichen Bedeutung,
ja ihres Bestandes betrachten würden.
Die Gewerbe, namentlich die Kleingewerbe, sind sowohl in Deutschland als in
Österreich vielfach, ja zumeist, vom Bedarf ihrer engeren Umgebung
abhängig und können daher Wirtschaftsverschiebungen mit
größerer Ruhe entgegensehen als die
Groß- [369] betriebe; der
Arbeitsertrag der Kleinbetriebe steigt, wenn der allgemeine Wohlstand steigt und
mit ihm der Warenbedarf, namentlich nach den nicht fabrikmäßig
hergestellten Gütern. Für die größeren Gewerbebetriebe
gilt, was für die Industrie gilt.
Auf Einzelheiten kann hier nicht eingegangen werden, es muß hier, soweit
Österreich in Betracht kommt, auf die früher erwähnte
Umfrage der "Delegation" hingewiesen werden, die die Einzelwünsche,
Hoffnungen und Befürchtungen der österreichischen Gewerbezweige
enthält. Es soll hier nur hervorgehoben werden, daß immerhin eine
gewisse Beängstigung wegen der reichsdeutschen Überlegenheit in
bezug auf maschinelle Einrichtungen und durchdachtere Arbeitsarten zutage tritt.
Diesen Bedenken müßte in Österreich durch eine energische
Gewerbeförderung auf diesen Gebieten Rechnung getragen werden; sonst
zeigt das Bild der Umfrage ein erfreuliches Verständnis und
Selbstbewußtsein; der Grundton besagt, daß es wohl Schwierigkeiten,
aber keine unüberwindlichen geben werde und daß der
Anschluß auch für das österreichische Gewerbe nicht nur
nützlich, sondern unbedingt notwendig ist.
Auf reichsdeutscher Seite fehlt leider eine ähnliche Arbeit, die über
die Stellungnahme des Handwerks und Gewerbes zum Anschluß im
einzelnen Aufschluß gibt. Die großen Kundgebungen und
Entschließungen, soweit solche vorliegen, sprechen sich jedoch unbedingt
für den Zusammenschluß aus und Bedenken bezüglich der
wirtschaftlichen Auswirkungen des Anschlusses scheinen in den
Handwerker- und Gewerbekreisen überhaupt nicht vorzuliegen.
Die gewerblichen Kreise Österreichs verschließen sich nicht der
Erkenntnis, daß jede Vergrößerung oder Vereinheitlichung
eines Wirtschaftsgebietes an und für sich als Wirtschaftsauftrieb wirken
muß; ebenso ist sicher, daß umso günstigere
Handelsverträge mit dem Auslande geschlossen werden können, je
größer das eigene Wirtschaftsgebiet ist. Wer mit offenen Augen den
Rohstoffkrieg der führenden Staaten verfolgt, wird auch der
Vereinheitlichung aller
Rohstoff- und Kraftquellen des gemeindeutschen Gebietes für Industrien
und Gewerbe die gebührende Bedeutung für die
künftige deutsche Wirtschaft beimessen müssen.
[370=Karte] [371] Die
österreichischen Handwerker, namentlich die der Geschmacksgewerbe,
erhoffen wohl mit Recht, daß bei einem zollfreien Verkehre der deutsche
Kaufmann auch die hochwertigen Erzeugnisse der österreichischen
Kunst- und Modegewerbe in den Stromkreis seiner neu aufstrebenden
Weltverbindungen einbeziehen wird, was beiden Teilen Vorteil bringen
muß.
Auch für Handwerk und Gewerbe gilt aber, was für alle anderen
Wirtschaftszweige gilt: Die Zukunft der
Nation – das ist doch nichts anderes als die Zukunft unserer Kinder und
Kindeskinder – wird in nationaler, kultureller und wirtschaftlicher
Hinsicht um so fester begründet sein, je inniger der Zusammenschluß
der Gebiete und Wirtschaften des geschlossenen deutschen Siedlungsgebietes in
Mitteleuropa sein wird.
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