III. Europa und die Anschlußfrage
(Forts.)
Die Schweiz und die
Anschlußfrage
Dr. Hans Oehler (Zürich)
Die Schweiz und die europäische Staatenordnung
seit 1919 Die öffentliche Meinung der Schweiz und die
Anschlußfrage Militärpolitische
Gesichtspunkte Frankreich
Italien Deutschösterreich Das Deutsche
Reich
Staatlich-politische Gesichtspunkte Entwicklung des
schweizerischen Liberalismus Innerpolitische Kräfte
der Beharrung und Erstarrung
Wirtschafts- und verkehrspolitische Gesichtspunkte Die
Schweiz und die deutsche politische Ideologie.
Um jedem Mißverständnis vorzubeugen: Die Fragestellung "Schweiz
und Anschlußfrage" kann nicht den Sinn haben, die Meinung der
offiziellen Schweiz über einen künftigen
Zusammenschluß Österreichs und Deutschlands ergründen und
darstellen zu wollen. Das schweizerische Staatswesen hat seit Jahrhunderten eine
Politik der Nichtteilnahme an den europäischen Auseinandersetzungen
beobachtet, um nicht deren unmittelbare Rückwirkungen auf die eigene
innere Zusammensetzung erleiden zu müssen. Nun ist heute die Schweiz
zwar Mitglied des Völkerbundes. Aber auch als solches geht ihr Bestreben
durchaus dahin, bei vorkommenden politischen Fragen eine ausgesprochene
Stellungnahme nach Möglichkeit zu vermeiden. Zur Anschlußfrage
einmal offiziell Stellung nehmen zu müssen, wird ihr schon deswegen
erspart bleiben, weil sie nicht Mit- [184] glied des
Völkerbundrates ist, dem allein die Entscheidung über die Frage
zusteht.
Wenn somit die Schweiz als Staat zu den Fragen des europäischen
Geschehens keine Stellung bezieht, so ist damit keineswegs gesagt, daß
nicht von ihrer Öffentlichkeit und ihren Politikern die
Geschehnisse in der Nachbarschaft jeweils mit Aufmerksamkeit verfolgt und nach
ihren Rückwirkungen auf die eigene politische Lage und Existenz beurteilt
worden sind. Mit wieviel Leidenschaft ist beispielsweise der Übergang
Savoyens aus der Hand des südlichen in diejenige des westlichen Nachbarn
im Jahre 1860 verfolgt worden, in der richtigen Erkenntnis, daß mit der
erneuten, in den Jahren 1795 bis 1814 bereits einmal verwirklichten
Umklammerung Genfs durch französisches Gebiet die ungestörte
Zugehörigkeit dieses westlichen Bollwerks zur Schweiz für die
Zukunft in Frage gestellt sein könnte. Aber auch die nationalen
Einigungsbewegungen in Italien und Deutschland und deren Ergebnisse: das
Entstehen geschlossener Nationalstaaten im Süden und Norden, sind von
den Zeitgenossen lebhaft miterlebt und viel umstritten worden. Schon aus dem
Grunde, weil die Schweiz, wie das 19. und 20. Jahrhundert sie kennt,
einem gleichen Streben nach "nationaler Einigung" ihr Dasein verdankt, wie es
dem Entstehen des neuen Italien und Deutschland zugrunde lag. Bloß
bedeutete für sie "national" nur staatliche und nicht zugleich auch
sprachlich-kulturelle Einheit. Auffallend wenig sind dagegen Bedeutung und
Tragweite der
Gebiets- und Machtverschiebungen von 1919 in der näheren und ferneren
Nachbarschaft der Schweiz ins Bewußtsein der Öffentlichkeit
gedrungen. Das dürfte damit zusammenhängen, daß man in der
Schweiz – zum mindesten im deutschen
Landesteil – vom Weltkrieg und seinem Ausgang überrascht wurde
und entsprechend nicht zu ermessen vermochte, um was es dabei im wesentlichen
ging. Auch heute, elf Jahre nach Errichtung der neuen
Macht- und Gebietsordnung, hat man in weiten Kreisen noch nicht klar erkannt,
was Frankreichs erneute Festsetzung am Oberrhein vor den Toren Basels
(Elsaß-Lothringen) und das Wiedererscheinen "Roms" auf der
Wasserscheide der Alpen (Südtirol) für den Staat bedeutet, der als
Übergang und Vorwerk einer nördlich der Alpen und östlich
von Maas und Saone gelegenen Staatlichkeit ins
Po- und Rhone-Seine-Stromgebiet entstanden ist. Man fühlt höchstens,
daß sich in der Lage der Schweiz seit 1919 etwas grundlegend
geändert hat. Und aus diesem unbestimmten Gefühl von
Unsicherheit und [185] künftiger
Bedrohung heraus lehnt man jede Änderung am heutigen
europäischen Zustand ab, durch die man allfällig selbst in
Mitleidenschaft gezogen werden könnte.
Dazu kommt, daß der Angehörige des neutralen Kleinstaates mangels
außenpolitischer Aufgaben seines Staates und weil er an den Geschehnissen
der europäischen Politik nur als Beobachter teilnimmt, die Fähigkeit
verliert, deren Rückwirkungen auf die eigene politische Lage zu beurteilen.
Nimmt er dann Stellung zu Fragen der europäischen Politik, dann geschieht
das weniger auf Grund nüchterner politischer Erwägung und unter
dem Gesichtspunkte des Interesses des eigenen Staates, als vielmehr auf Grund
von Sympathien oder Antipathien oder von Vorstellungen, die er vom Ausland
her übernimmt. Wenn wir im folgenden einige Betrachtungen über
die Bedeutung beziehungsweise Rückwirkungen eines Zusammenschlusses
Österreichs und Deutschlands auf die Schweiz anstellen, so können
für uns dabei natürlich nur politische Erwägungen wegleitend
sein.
Was bedeutet der "Anschluß" für die Schweiz in
militärpolitischer Hinsicht? Um das zu ermessen, muß man
die Lage der Schweiz von heute mit derjenigen von 1914 vergleichen. Wenn unser
Land nicht in den Weltkrieg hineingerissen wurde, so das in erster Linie, weil
beide Kampfgruppen das gleiche Interesse an der Achtung seiner
Neutralität hatten. Daß bei einer künftigen europäischen
Auseinandersetzung dieses Interesse bei den verschiedenen
Nachbarmächten wieder ein gleiches sein wird, kann nicht mit
Bestimmtheit angenommen werden. Es ist bekannt, welch "großer Wert in
gewissen militärischen Kreisen in Paris (im Frühjahr 1919 bei
Abfassung des Völkerbundvertrages) auf die Möglichkeit des
Durchzuges von Truppen des Völkerbundes gelegt wurde und daß
auch das Gebiet der Schweiz in dieser Hinsicht in Betracht kam" (zitiert aus der
Botschaft des schweizerischen Bundesrates vom 4. August 1919
über den Beitritt der Schweiz zum Völkerbund). Einige Monate,
nachdem die Schweiz dem Völkerbund unter Differenzierung ihrer
Neutralität beigetreten war, machte die französische Regierung denn
auch den Versuch, die neue Neutralität der Schweiz auf ihre
"Durchlässigkeit" zu prüfen. Sie stellte in Bern das Gesuch um
Durchlaß von
"Völkerbunds"-Truppen für Wilna, was die Schweiz allerdings
ablehnte. Gerade aus dem Umstand, daß keinerlei [186] Notwendigkeit vorlag,
diese Truppen durch die Schweiz fahren zu lassen, muß aber geschlossen
werden, daß es Frankreich daran lag, einen Präzedenzfall zu schaffen
für solche Fälle, in denen die Schweiz das einzige in Betracht
kommende Durchmarschgebiet darstellen würde. Frankreichs heutige
Machtstellung beruht zur Hauptsache auf seinem militärischen
Bündnissystem mit Polen und den Staaten der Kleinen Entente. Mit
Ausnahme des Seeweges nach Polen fehlt ihm aber eine unmittelbare Verbindung
mit seinen Verbündeten. Die Schweiz und Österreich wären
der gegebene Verbindungsweg. Darum der große Wert, den man in Paris
1919 auf die Möglichkeit des Durchzuges von Truppen durch die Schweiz
legte. Heute hat sich allerdings diese Gefahr für die Schweiz, in einem
künftigen europäischen Konflikt zum
Auf- und Durchmarschgebiet französischer Armeen nach dem
Südosten und Osten Europas zu werden, bedeutend vermindert. Die
Versuchung, ihr Gebiet dazu zu mißbrauchen, kann aber doch erst dann
endgültig als ausgeschaltet angesehen werden, wenn an ihre Grenzen
wieder ringsum voll
wehr- und verteidigungsfähige Staaten stoßen. Der heutige,
weitgehend wehrlose österreichische Kleinstaat
ist – neben der Entwaffnung
Deutschlands – mit ein Grund für die militärpolitische
Unsicherheit, in der sich die Schweiz seit 1919 befindet.
Das allerdings noch in einer anderen Hinsicht. Die Schweiz könnte dank
der natürlichen Verteidigungsmöglichkeit der Alpen einem von
Süden erfolgenden Angriff aus eigener Kraft möglicherweise so
lange widerstehen, bis eine allgemeine europäische Aktion ihr Luft schaffen
würde. Aussichtslos aber wäre eine Verteidigung angesichts einer
über unverteidigtes oder wenig verteidigtes österreichisches Gebiet
erfolgenden Umfassung und Aufrollung ihrer Alpenstellung von Osten her. Eine
wehrfähige und abwehrbereite Großmacht nordwärts von
Brenner und Reschenscheidegg würde für die Schweiz also eine
außerordentliche Stärkung ihrer Verteidigungsfähigkeit nach
Süden bedeuten.
So läßt sich zusammenfassend sagen, daß
militärpolitisch der Anschluß Österreichs an Deutschland
für die Schweiz von wesentlichem Vorteil wäre. Wenn einer solchen
Auffassung allfällig entgegengehalten wird, es stehe dem Vorteil auch ein
Nachteil gegenüber, indem dann die Schweiz von Martinsbruck bis Basel
an ein einziges Großdeutschland stoße, so ist zu sagen, daß
auch ein solches Großdeutschland immer noch lange nicht über die
militärischen [187] Machtmittel
verfügen würde, über die das eng verbündete
Deutschland und
Österreich-Ungarn vor 1914 während Jahrzehnten und im Weltkrieg
verfügten und wodurch die Schweiz doch militärisch nie bedroht
war. Die Schweiz muß eben gerade dann als am gesichertsten angesehen
werden, wenn an allen ihren Grenzen ein gleichmäßiger
militär- und machtpolitischer Druck besteht. Das hat auch der Weltkrieg
wieder gelehrt, aus dem die Schweiz zum guten Teil dank einem solchen
"Gleichgewicht" ihrer Nachbarmächte unversehrt hervorgegangen ist.
Was hat die Schweiz in staatlich-politischer Hinsicht von einer
Vereinigung Österreichs mit Deutschland zu erwarten? Dieser Punkt ist in
der schweizerischen Öffentlichkeit umstritten. Auf einen Grund
dafür haben wir oben schon verwiesen. Man hat sich vor zwölf
Jahren, als die Katastrophe der Waffenstillstandsbedingungen und
Friedensverträge über Europa hereinbrach, einfach geduckt, froh,
daß man selbst verhältnismäßig gnädig dabei
wegkam. Nachdem die Dinge dann aber einmal so waren, schloß man
möglichst schnell seinen Frieden mit der neuen Machtordnung. Über
deren Beschaffenheit machte man sich dabei wenig Gedanken. Man ersorgte nur
das eine, daß bei jeder Erschütterung oder Änderung derselben
vielleicht das eigene staatliche Dasein einmal in Mitleidenschaft gezogen werden
könnte. Der Anschluß Österreichs wäre aber zweifellos
eine grundlegende Änderung der Ordnung von 1919. Also zieht man den
Frieden um jeden Preis, die Erhaltung des Bestehenden, jeder an sich noch so
berechtigten Änderung vor.
Dazu kommt ein Beweggrund innerpolitischer Natur. Als der schweizerische
Liberalismus vor 80 Jahren gegenüber dem Widerstand der
Mächte der Legitimität und starren Erhaltung des Bestehenden im
In- und Ausland die "nationale Einigung" vollzog und aus dem losen Staatenbund
den starken Bundesstaat schuf, sympathisierte er weitgehend mit den
gleichlaufenden Einigungsbewegungen in Italien und Deutschland. Die Sorge vor
allfällig ungünstigen Rückwirkungen der nationalen Einigung
beim südlichen und nördlichen Nachbarn trat zurück vor dem
Vertrauen auf die eigene Kraft und die Zukunft des eigenen Staates. Heute steht
der schweizerische Liberalismus in ausgesprochener Verteidigung gegen den
Ansturm von Mächten und Kräften, die ihn aus der
beherrschen- [188] den Stellung im Staat
von 1848 zu verdrängen suchen, ja diesen Staat selbst in seinen Grundlagen
bedrohen. Das treibt ihn naturnotwendig ins Lager der Mächte der
Beharrung und Erstarrung. Da jede äußere Erschütterung den
labilen Zustand im Innern gefährden müßte,
überträgt sich diese Einstellung natürlich auch auf das
Außenpolitische. Darum finden wir führende Kreise und Organe des
schweizerischen Liberalismus, in schroffem Gegensatz zur freiheitlichen
Überlieferung der liberalen Schweiz der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts, heute der europäischen Hegemoniemacht
Vorschub leisten bei ihrem Bestreben, jede freiheitliche, auf dem
Selbstbestimmungsrecht beruhende Entwicklung Europas gewaltsam
hintanzuhalten.
Für die Beurteilung der Anschlußfrage spielt auch das geschichtlich
bedingte Mißtrauen gegen ein starkes "Reich" eine Rolle. Könnte
nicht Großdeutschland einmal Anspruch auch auf Angliederung des
ehemaligen "Gliedes deutscher Nation" in "oberdeutschen Landen", der Schweiz,
erheben? Bei solcher Überlegung wird nur eines
übersehen – und das geschieht recht häufig, teils geflissentlich,
teils mangels besserer
Kenntnis –, daß es in erster Linie Österreich ist, das
zum Reich will und daß nicht das Reich sich Österreich gegen seinen
Willen anzugliedern versucht. Wenn jemals das heutige Deutschland oder ein
künftiges Großdeutschland, sei es um der Idee eines starren
Einheits- und Nationalstaates nach französischem
(Elsaß-Lothringen) oder italienischem Muster (Südtirol) zu
verwirklichen, oder aus einem sonstigen übertriebenen Machtbestreben
heraus,
gleich- oder anderssprachige Volksteile mit Gewalt seiner Staatshoheit
unterwerfen wollte, dann würde es sich damit seiner
gesamteuropäischen Verantwortung entschlagen und der
europäischen Friedensordnung diejenige Festigkeit und Ausgeglichenheit
rauben, ohne die Mitteleuropa nie wieder zu politischer und geistiger Geltung
gelangen wird. Darum, weil es das ureigenste Lebensinteresse Deutschlands und
eines künftigen Großdeutschland
ist – man denke auch an die
zahlreichen deutschen Minderheiten in
außerdeutschen Staaten, deren Angliederung schon aus
gebietlichen Gründen nicht in Frage
kommt –, im zwischenstaatlichen Leben das Selbstbestimmungsrecht und
die Achtung vor dem Eigenwillen jedes Volkes oder Volksteiles hochzuhalten,
kann für die Beurteilung der Anschlußfrage vom schweizerischen
Standpunkte aus der obgenannte Beweggrund nicht ins Gewicht fallen. Dagegen
würde eine [189] Schweiz, die nicht
für das Recht jedes Volkes auf Freiheit und Selbstbestimmungsrecht
eintreten, sondern der gewaltsamen Behinderung dieses Rechtes ihre
Unterstützung leihen wollte, sich zu ihrem eigenen Lebensgesetz in
Widerspruch stellen und damit sich selbst die Daseinsberechtigung absprechen.
Denn die Schweiz kann ihr Dasein nicht allein auf den Nutzen gründen, den
sie der französischen Hegemoniemacht als Vorspann ihrer Machtziele zu
leisten vermag.
Die allfälligen Rückwirkungen des Anschlusses auf das
Wirtschafts- und Verkehrsleben der Schweiz wären ein Kapitel
für sich. Es dürfte aber ziemlich schwer sein, darüber zum
voraus Bestimmtes und Zuverlässiges auszusagen. Immerhin sind in der
Schweiz schon Befürchtungen laut geworden, daß von einer
Stärkung der deutschen Wirtschaft, wie sie der Anschluß zur Folge
hätte, eine noch schärfere Konkurrenzierung der schweizerischen
Industrie im
In- und Ausland zu erwarten wäre, oder daß verkehrspolitisch eine
allfällige Hintansetzung des Arlbergs im
West-Ost- (Paris–Wien) Verkehr oder gar des Gotthard (zugunsten
des Brenners) im Nordsüdverkehr u. a. m. ersorgt werden
müßte. Vielleicht ist es aber für die Gesamtrechnung doch
falsch, so zu argumentieren. Das schweizerische Wirtschaftsleben hat von einer
Blüte des deutschen
Wirtschafts- und Verkehrsleben noch immer mehr Vorteil als Schaden gehabt.
Und bei der zunehmenden Absatzerschwerung auf den
außereuropäischen Märkten werden die europäischen
Volkswirtschaften sowieso immer mehr auf Gedeih und Verderb aufeinander
angewiesen sein. Dieses Aufeinanderangewiesensein wird ihnen aber nur dann
nicht zum Verderb ausschlagen, wenn die innereuropäischen Zollgrenzen
dort, wo die Möglichkeit dazu besteht, ganz aufgehoben
werden – wie das z. B. zwischen Deutschland und Österreich
durch den Anschluß möglich
ist – oder wenigstens einen starken Abbau erfahren. Auch in
wirtschaftlicher Hinsicht dürfen wir daher an die Anschlußfrage nicht
enge, der Vergangenheit angehörige Maßstäbe anlegen, wenn
unser Urteil über sie zutreffend sein soll.
Bleibt noch die Wertung des ideellen Grundes des Anschlusses.
Vielleicht wird man es im übrigen deutschen
Sprach- [190] gebiet wenig
verständlich finden, daß dieser ideelle Grund in der doch
mehrheitlich deutschsprachigen Schweiz durchschnittlich nicht höher
gewertet wird. Nun, die Schweiz hat ihre "Einigung" im 19. Jahrhundert
eben nicht auf
sprachlich-kultureller, sondern auf staatlicher Grundlage vollzogen. Sie setzt sich
aus vier Sprachteilen zusammen. Und gerade der deutsche Sprachteil mit seiner
fast Dreiviertelmehrheit trägt diesem
Umstand – daß das Staatliche dem
Sprachlich-Kulturellen bei uns
vorangeht – vollauf Rechnung. Allerdings wird dann in der Unterwertung
von Sprach- und Kulturzugehörigkeit auch zu weit gegangen. Wie oben
erwähnt, ist der schweizerischen Öffentlichkeit vielfach das
Bewußtsein der geschichtlichen Kontinuität verloren gegangen. Tritt
dazu noch der Verlust des Bewußtseins, in größeren
geistig-kulturellen Zusammenhängen zu stehen, dann kommt es, mangels
einer zuverlässigen Urteilsbasis, zu dieser Unsicherheit des politischen
Urteils, die heute für unser öffentliches Leben in der deutschen
Schweiz so kennzeichnend ist. Wäre dem anders, dann wäre das
Wissen allgemeiner, daß nicht nur unsere Sprache und Kultur, sondern auch
unser Einfluß im eigenen Staat in engster Wechselwirkung stehen mit dem
Ansehen und der Geltung, die deutsche Kultur und Staatlichkeit im allgemeinen
besitzen. Nicht nur unbeschadet unserer Eigenstaatlichkeit, sondern gerade um
dieser willen haben wir daher ein Interesse an jeder Stärkung und
Förderung, die deutsche Geistigkeit und Staatlichkeit erfährt, und
daher auch an einem künftigen Zusammenschluß Österreichs
und Deutschlands.
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