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Mädel im Kampf. Erlebnisse und Erzählungen.
[53]
Hanne
Von Inge Klamroth

Eines Tages stand sie in unserer winzigen Stube, die wir stolz und anmaßend "Dienststelle" nannten, und wollte "bei uns eintreten". Sie war klein und zierlich, hatte ein paar kurze blonde Zöpfe und ganz große Augen. Mit diesen Augen sah sie mich so flehend an, daß ich gleich wußte, "die muß einfach Jungmädel werden"!

Aber es war eine schlimme Zeit, Verbot überall, Verfolgung, Verhetzung, - wir durften nicht einfach sagen, Also Mittwoch kommst du zum Heimabend. Das ging damals nicht. Darum setzte ich Hanne auch erst mal auf unsern einzigen Stuhl, kletterte selber auf den Tisch und fing an zu fragen.

Sie hieß Hanne Hellwig, war zehn Jahre alt, hatte noch fünf Geschwister, - alle jünger als sie selber, der Vater war seit zwei Jahren tot, die Mutter - "geht mit Zeitungen, und Waschen."

"Und warum willst du zu den Jungmädeln kommen, Hanne?"

Sie erzählte, - sie hätte uns schon oft gesehen und hatte immer dabei sein wollen. "Und dann hattet ihr die Feier zur Sonnwende. Da bin ich heimlich mitgelaufen."

[54] Das wußte ich, - als wir wenigen uns draußen ums Feuer versammelt hatten, waren hinter uns, im Dunklen, ein paar Kinder stehengeblieben. Sie waren mitgelaufen mit unserem Zug, wie sie hinter allem herliefen. Hinter den Zirkuswagen und Tanzbären, hinter den Leiermännern, - und diesmal eben hinter uns. Nun waren sie stehengeblieben und sahen mit erstaunten Augen von ferne zu. Sie trauten sich nicht näher und konnten auch nicht fort. Sie vergaßen, mit Steinen zu schmeißen und zu schreien. Mitten zwischen ihnen hatte also Hanne gestanden.

"Du hast da doch gesprochen. Von Not - die kenn' ich. Und daß wir alle helfen müssen, - das will ich nun auch! Und du hast doch gesagt, - euer Führer braucht alle, - auch die Schwachen und Kleinen - mich auch?"

Sie stand wieder vor mir, aufgeregt, glühend vor Erregung. "Und ich darf kommen, ja? Sa ja, du!"

"Du sollst kommen und darfst kommen, Hanne, -" da strahlte sie auf und griff ganz schnell nach meiner Hand; "du, das ist fein!"

"Und deine Mutter, weiß sie darum und erlaubt sie es?"

Hanne ließ meine Hand los. Auf einmal war alle jubelnde Freude wie weggewischt, Tränen standen ihr in den Augen, - "Mutter erlaubt das - nie."

[55] Später begriff ich, warum Hanne das sagte. Die Mutter war durch viel, sehr viel Elend gegangen. Sie hatte ein unsagbar schweres Leben zu tragen. Das hatte sie hart und hoffnungslos gemacht. Nur zweierlei lebte noch in dieser Frau: Die Liebe zu ihren Kindern und ein starkes Bekenntnis zum Kommunismus. Wir waren Nazis, Bluthunde, Arbeiterverräter. Uns gab sie ihre Tochter nicht.

Aber Hanne bettelte und flehte: "Nimm mich trotzdem auf, bitte!"

"Ich kann nicht, Hanne, wir dürfen deine Mutter nicht belügen und betrügen. Was soll denn werden, wenn sie es später erfährt?"

"Sie braucht's doch nicht zu wissen."

Ich sah in Hannes klare, ehrliche Augen. "Hast du deine Mutter schon einmal betrogen?"

Langsam wurde sie rot und schüttelte den Kopf.

"Und glaubst du, daß du sie jetzt immerzu belügen kannst?"

Sie war ratlos und ganz verwirrt in ihrem Kummer.

"Ich - will - es versuchen."

"Nein, Hanne, das sollst du und das darfst du nicht versuchen. Wir wollen uns lieber etwas anderes überlegen. Meinst du, du wirst deine Mutter nie dazu bringen können, dir den Eintritt doch zu erlauben?"

[56] Hanne schüttelte den Kopf. "Das erlaubt sie nicht."

"Und wenn du es versuchst?"

"Das hat doch keinen Zweck."

"Hanne - wäre dies Versuchen schwerer als das Lügen?"

Unsicher fragend sah sie mich an - aber ich redete schon weiter: "Wir nehmen dich nicht gleich auf, Hanne, aber du kommst jetzt ein paarmal zum Heimabend. Singst mit uns, wir erzählen dir von unserer Arbeit, und du lernst die andern Mädels kennen. Und du versuchst in dieser ganzen Zeit deine Mutter zu überzeugen. Ich will dann später auch zu ihr kommen, und wir wollen uns beide ganz fest vornehmen, daß wir die Erlaubnis für dich bekommen!"

Hanne kam jetzt zum Dienst. Wir waren so wenige in diesem Sommer 1932. Fünf Jungmädel, doppelt so viele waren bei den großen Mädeln. Hanne machte unser halbes Dutzend voll. Ich hatte den anderen das Notwendigste von ihr erzählt, und alle verdoppelten in dieser Zeit ihren Eifer und ihre Mühe. Die Jungmädelschaft hatte ein ganz starker und froher Wille gepackt. Sie wollten Hanne zeigen: Sieh mal, so sind wir! So fröhlich, so vergnügt. Aber auch so ernst und treu, wenn es unsere Pflicht gilt. Und wir alle wollten Hanne aus unserem Jungmädelleben eine starke Kraft geben, damit sie ihre Aufgabe zwang.

[57] Im Juli erwarteten wir den Besuch des Führers. Alle Hände wurden gebraucht, jeder wollte mithelfen, um diesen Tag so schön und festlich wie möglich zu gestalten. Die Jungmädel wurden überall eingesetzt. Tannen sollten sie schneiden, der SA. zu trinken bringen, Briefe befördern, laufen und holen, sie waren abends todmüde und heiß, aber unendlich glücklich.

Hanne wurde zu Haus gebraucht, mußte Zeitungen austragen, auf die kleinen Geschwister achten. Aber in jeder freien Minute war sie bei uns: "Was kann ich tun?" Und in stillschweigender Übereinkunft hatten wir alle immer Arbeit für sie.

"Hanne - reich mir die Zweige", - "Hanne, kannst du mal schnell Bindfaden holen?" - "Hier fehlt eine Fahne!" Und Hanne wußte: Sie gehörte zu uns.

Am Vorabend des großen Tages saßen wir müde und in sehr glücklicher Erwartung zusammen. Alles war fertig und bereit. Tannengirlanden wanden sich um die Masten und das Geländer des Rednerpultes, unzählige Fahnen und Fähnchen wehten, Blumen lagen bereit, - es sollte sehr schön werden. Und eine von uns durfte dem Führer einen Blumenstrauß geben.

Wir sahen uns an - wie gerne wollte jede die Glückliche sein, - wir sahen aber auch Hanne an, - und dann sagte eine entschlossen:

"Du, ich denke, Hanne ist die richtige!"

[58] Die fuhr erschrocken hoch. "Ich - o nein, nicht ich!"

"Willst du das denn nicht gerne tun?" fragten wir sie alle auf einmal.

"Gerne, - so gerne - aber ich darf doch nicht. Ich bin doch nur zur Probe bei euch."

Wieder nahm mir eins von den Mädeln die Antwort ab: "Wenn wir aber alle wollen, daß du dem Führer unsere Blumen gibst? Wir wissen doch alle, daß du es viel schwerer hast als wir."

So stand unsere Hanne an diesem strahlenden Julimorgen vor dem Führer und streckte ihm unseren bunten Gruß entgegen. Und als der Führer ihr über die Haare strich und ihr dann die Hand drückte, da strahlte ihn nicht nur Hanne an, sondern wir alle saßen unermeßlich glücklich und froh vor ihm, - jeder von uns galt dieser Gruß. Kein Wort sagte Hanne an diesem Tag mehr. Krampfhaft umklammerte sie nur immer meine Hand und ließ kein Auge vom Führer.

Doch beim nächsten Heimabend fehlte sie. Wir warteten eine ganze Weile, - als sie nicht kam, schickten wir Hilde zu ihr. Sie sollte schnell einmal nachsehen, ob Hanne etwa krank sei. Hilde war bald zurück. Sie machte aber ein so unglückliches Gesicht, daß wir gleich wußten, da hatte etwas nicht gestimmt.

"Hanne, - Hanne hat vor mir die Tür zugeschlagen."

Wir saßen eine ganze Weile verständnislos da, dann [59] versuchte ich, den Heimabend weiterzuführen, aber keine war mit ihren Gedanken dabei.

Was war mit Hanne los? Erst als ich den Mädeln sagte, ich wollte selbst einmal nach ihr sehen, beruhigten sie sich ein bißchen. Aber mein Besuch in dem dunklen Hinterhaus war ohne Erfolg. Mir wurde nicht geöffnet. Zwar glaubte ich, hinter der Tür Schritte zu hören, aber obgleich ich eine ganze Weile wartete, mußte ich wieder unverrichtetersache abziehen.

Ich versuchte es noch ein paarmal, - immer ohne Erfolg.

Zum Heimabend kam Hanne nicht mehr. Die Mädel sahen sie manchmal mit ihrem Zeitungspaket auf der Straße, erzählten aber alle, daß sie Hanne nie sprechen konnten. Sie lief immer schnell in einen Hausflur oder in eine Nebenstraße und blieb dann verschwunden.

Endlich hatte ich einmal Glück, unversehens stand ich vor ihr. Noch ehe sie fortlaufen konnte, hatte ich sie bei der Hand: "Hanne, was ist denn nur mit dir los?"

Ein blasses, trauriges Gesicht hatte das Mädel inzwischen bekommen, und alles frohe Leuchten fehlte in den Augen. Zuerst wollte sie trotzig werden, dann aber weinte sie auf.

"Ich darf doch nicht mehr!"

"Deine Mutter?"

Sie nickte nur. Und dann erzählte sie mir alles.

[60] Ihre Mutter hatte gehört, daß Hanne mit uns gesehen worden war, und als sie danach fragte, hatte Hanne sie um die Erlaubnis zum Eintreten gebeten. Aber die Mutter war sehr böse geworden, und sehr traurig, - und hatte Hanne jedes weitere Wort mit uns verboten.

"Und sie hat es so schwer, und nun war sie so böse, daß ich zu euch kam, und sagte, sie hatte sich doch immer auf mich verlassen wollen, - und ob ich sie gar nicht mehr lieb hätte - und ich habe ihr versprechen müssen, nicht mehr zu euch zu kommen. Und nun muß ich doch mein Wort halten, - aber dem Führer hab' ich doch auch Treue versprochen, - und ich schäme mich jetzt doch so - und was soll ich bloß tun?"

Wohl zwei Stunden bin ich mit Hanne durch die Straßen gelaufen, und wir haben miteinander geredet. Und am Ende hat sie gewußt, was sie nun tun sollte. Jeder von uns sollte seine Treue zum Führer nicht bloß durch Worte zeigen, sondern auch seinen Kampf dafür bestehen und sie durch Schwere und Not beweisen.

Hanne wollte ihren Kampf aufnehmen. Sie wollte nicht mehr weinen und unglücklich sein, sondern sie wollte nun einmal versuchen, die Mutter ganz zu überzeugen. Ihr die Erlaubnis nicht abzutrotzen, sondern durch ihr ganzes Sein, ihre Art und ihre Liebe den [61] Widerstand zu zwingen. Sie wußte, daß sie es schwer haben würde - stand sie doch ganz allein. Hatte nicht unsere Gemeinschaft als Rückhalt und war selber ein ganz kleines Mädchen.

Aber sie wollte, - und zum Schluß sagte sie: "Ich hab' doch damals vorm Führer gestanden - das wird helfen."

Beim nächsten Heimabend erzählte ich den anderen davon. Nun verstanden wir Hannes seltsames Benehmen, - sie hatte sich einfach geschämt, uns ihre Niederlage zu gestehen, und es war ihr zu schwer geworden, mit uns zu reden. Und wir alle bekamen eine große Hochachtung vor der Kameradin, die jetzt ganz allein ihre kommunistische Mutter überzeugen wollte.

Wir sahen sie nun manchmal auf der Straße, sie wich uns nicht mehr aus, sagte aber auch kein Wort, aus dem wir sehen konnten, wie ihre Sache stand. Stillschweigend halfen wir ihr, wenn wir sie trafen. Liefen mit einem Teil ihrer Zeitungen treppauf und treppab, faßten an ihren schweren Korb an oder machten schnell eine Besorgung für sie. Viel geredet wurde dabei nicht. Wir erzählten nur wenig von unserem Dienst, sangen ihr ein neues Lied vor oder sagten ihr einen Spruch. Hanne hörte zu, nickte und drückte uns beim Abschied ganz fest die Hand. Im Herbst hatte sie Geburtstag. Wir sparten und sammelten dazu, und ich [62] wartete am Nachmittag an der Straßenecke, an der wir sie meistens trafen.

"Wir alle wünschen dir viel Kraft, Hanne, und wenn du zu uns kommen darfst, dann liegt die Kluft für dich bereit. Dies sollst du aber jetzt schon haben."

Und ich schob ihr ein schmales Päckchen in die Hand - ein Bild des Führers.

Vierzehn Tage vor der Machtergreifung, Mitte Januar 1933, stand Hanne vor mir in der Dienststelle:

"Du - nun darf ich kommen!"

Am Nachmittag war Heimabend. Noch nie war er so froh gewesen. Hanne saß in der neuen Kluft zwischen uns, hatte ein ganz glückliches Gesicht, und wir alle konnten kaum stillsitzen vor Freude. Hanne sollte erzählen - es war wenig und sagte nichts von der Schwere der Zeit, die hinter ihr lag. Aber sie hatte es mit ihrer Beharrlichkeit und ihrem Nie-Aufgeben erreicht, daß die Mutter jetzt vor kurzer Zeit zur einer Versammlung gekommen war.

"Ich hab' ihr immer gesagt, sie soll doch bloß einmal hingehen und hören, was Hitler eigentlich will - und da hat sie ja dann gemerkt, wie richtig alles ist - und nun darf ich!"

Zum Schluß wünschte sie sich, wir sollen nun doch mit ihr zusammen singen: "Wenn alle untreu werden, so bleiben wir doch treu."

[63] Wenige Tage später saß ich bei Frau Hellwig in der kleinen engen Küche. Ein müdes, versorgtes Gesicht sah mich an, aber die Augen darin kannte ich.

"Ich habe Ihnen nicht geglaubt und getraut", sagte sie, "und ich wollte nicht, daß meine Kinder zu Ihnen kommen. Aber Hanne hing so sehr an der Bewegung und hat die ganze Zeit nie lockergelassen. Sie hat mir immer gesagt, daß das von den Kommunisten alles nicht wahr sei. Aber hier im Haus haben sie es doch behauptet, und mein Mann war doch auch dabei. Ich habe viel versucht, um das Mädchen von den Nazis abzubringen, aber es war immer umsonst. Und schließlich habe ich gedacht, wenn die Hanne so daran hängt, so fest und treu, dann muß doch mehr daran sein, als sie alle sagen. Und da bin ich zur Versammlung gegangen.

Es war alles so ordentlich bei ihnen, und es wurde gar nicht so geschimpft und gehetzt, wie ich es aus unseren Versammlungen kenne. Und dann", - und nun faltete die Frau vor mir die Hände und sah still vor sich hin - "ich habe nicht mehr glauben und hoffen können. Und Deutschland - das hatte ich lange vergessen. Meine Not und das Elend meiner Kinder waren mir wichtiger. Aber jetzt muß ich immer daran denken. Und Hanne soll nur bei Ihnen mitmachen. Es ist schon wahr - es kann vielleicht noch einmal besser werden mit uns, wenn alle daran arbeiten. Sehen Sie, - an [64] die Arbeit und an deren Kraft glaube ich. Das andere - das braucht Zeit und ist noch zu neu für mich. Aber die Hanne gebe ich Ihnen."

Als wir wenige Tage später den Sieg des Führers erlebten, als überall unsere Fahnen wehten und die singenden Züge durch die Nacht marschierten, warteten wir an der Straße. Fackeln schwelten in den dunklen Himmel, und wir fanden keine Worte für die Bewegung dieser Stunden.

Hanne stand neben mir. Ernst und gläubig sah sie nach den vorbeiziehenden Fahnen. Dann suchte ihr Blick die Mutter, die drüben auf der anderen Straßenseite stand und über deren Gesicht die hellen Tränen liefen.


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