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[Bd. 3 S. 309]
Franz Grillparzer, 1791-1872, von Wilhelm von Scholz

Franz Grillparzer.
Franz Grillparzer.
Gemälde von Anton Hähnisch, 1849.
[Die Großen Deutschen im Bild, S. 296.]
Die Unsicherheit seelischen Beurteilens, mit welcher aller lebensgeschichtliche Stoff behaftet ist, wird an nichts so klar wie an zwei biographischen Aufsätzen über den großen Märchenerzähler Andersen, die beide von dänischen Verfassern herrühren. Der eine betont das viele Schwere, Trübe, recht eigentlich Glücklose in Andersens Leben, spricht zuletzt von dem "einsamen, liebesarmen alten Dichter" und gibt so den wehmütigen Ausklang eines trotz inneren Reichtums und großer äußerer Erfolge nicht glückgekrönten Lebens. "Viele, viele Jahre war es Andersen vergönnt, als der berühmte Dichter zu leben, und wie nur wenige schwelgte er in seinem eigenen Ruhm; er thronte in seinen letzten Jahren als der gute alte Dichter, als der geweihte Dichterpatriarch, dem alle Welt huldigte" – sagt der andere Biograph. Man könnte bei diesen sich widersprechenden Sätzen auch an den einsamen alten Grillparzer denken, obwohl sich bei ihm die Waage zugunsten der trüberen Anschauung neigen muß.

Die Schwierigkeit, sich von augenblicklichen Stimmungen in Briefen, von Gewohnheit gewordener Klage und geflissentlichen Umdeutungen der Ereignisse, von Irrtümern der Mitlebenden, von "der Parteien Haß und Gunst" nicht täuschen zu lassen, ist besonders groß, wenn ein geistiger Schöpfer dargestellt werden soll, der in einem nicht sehr bewegten äußeren Leben stand und nur in einer inneren Biographie zu erfassen ist. Bei Grillparzer tritt hinzu, daß auch die Betrachtung seines Werkes keine einfache, klare, unmittelbar wertende sein kann, daß vielmehr die Verflechtung dieses Werkes in das Schrifttum seines und des unmittelbar vorangegangenen Zeitalters wie in das ihm durch Studium und Wissen reichlich erschlossene früherer Jahrhunderte und anderer Völker die literarischen Einflüsse oft Grillparzers Eigenes überwiegen läßt. Und wenn man auch das harte, ehrfurchtslose Urteil über den österreichischen Dichter, das vorschnelle junge Stürmer und Dränger, denen nur das Wilde Eindruck macht, wie gereifte ältere Männer, die nur Höchstes noch gelten lassen wollen, manchmal gleicherweise fällen: "Lesefrüchte!" ablehnen muß, weil immer wieder der bedeutende echte Dichter sich bekundet, so steht doch im Tagebuche des freilich erst Achtzehnjährigen selbst: "Meine Nachahmungssucht übersteigt allen Glauben. Alle meine Ideen formen sich nach jüngst Gelesenem."

Es erhebt sich bei Grillparzers geschichtlicher Stellung die Frage: Ist dieses Fußen seines Schaffens auf schon in Wort und Schrift festgehaltenem Leben ein [310] Vorwurf? eine Herabminderung? Sind nicht Goethes "Götz", Goethes "Iphigenie", selbst der "Faust" durchaus auf alte Dichtungswerke gegründet? Wie abhängig ist Kleists "Amphitryon" von Molières Urbilde? Wie bauen sich alle geschichtlichen Dramen Schillers auf Schrifttum auf! Wie schimmern durch die große Isabella-Manuel-Cäsar-Szene der "Braut von Messina" die Auftritte hindurch, die Schiller aus den "Phönizierinnen" des Euripides übersetzt hat, wie durch Geßlers Tod der Shakespearesche des "Cäsar"!

Das Fortführen eines Stoffes aus älterer Dichtung in eine erhöhte neuere ist nicht nur in der "klassischen Epoche" unserer Schrifttumsgeschichte festzustellen, sondern auch bei Shakespeare, bei Calderon, bei den mittelalterlichen Epikern und anderen. Aber es scheint uns in unserer großen Dichtungszeit besonders auffallend. Durchaus sinngemäß! Denn unser meisterliches Schrifttumsalter war eine Zeit reiner und höchster Vollendung. In einer solchen wird die Vorarbeit vieler Geschlechter ergriffen und das Ewige aus ihr herausgemeißelt, das in einem Arbeitsgang nicht zu gewinnen ist, das sich erst in Jahrzehnten und Jahrhunderten abklärt, das immer wieder eingeschalteter Genies bedarf, um schließlich in Goethes "Faust" der endgültige "Faust" zu sein. Der unmittelbare Zusammenhang mit dem quellenden Leben ist dennoch da. Es ist es ja, das sich nun, die Vollendung schaffend, in die von den Vorgängern geleistete Erst- oder auch Zwischengestaltung ergießt, sich in ihr vermehrt, vervielfacht, die höchste, letzte Formgebung erreicht.


Grillparzer ist am 15. Januar 1791 in Wien geboren worden – im Jahr der "Zauberflöte" und des sterbenden Mozart. Er ist damit Nachfahr der Altersschaft, die unsere Klassik heraufführte, deren Jüngster, Heinrich von Kleist, 1776 zur Welt kam. Kleist war geistig noch Bruder der Älteren, während Grillparzer schon ihr Sohn, wenn nicht ihr Enkel ist – und erst Hebbel wieder ein neuer Umsturz und Beginn. Nachkomme, Epigone sein ist kein beneidenswertes Los. Grillparzer hat es mit Würde, Stolz, mit einer Art, den Vätern ebenbürtig zu bleiben, getragen und sich damit der hohen Ahnenreihe zugesellt.

Vorweg sei gesagt, was ihm fehlt! Es ist das, was der andere große österreichische Theaterdichter mitbekam und besaß, der um ein halbes Jahr vor Grillparzer geborene Ferdinand Raimund: das derbe, lebendige, blutvolle Volkstum, das alles Geschehen, sei es geschichtlich oder phantastisch-märchenhaft, immer als eine Art sehr verständlicher nicht besonders erhabener Gegenwart sieht, in der tüchtig gegessen und getrunken wird, in der man lacht, Humor hat, singt, tanzt, harmlos fröhlich ist und sehr gefühlvoll und gerührt sein kann. Dem Dichter des "Verschwenders" und des unsterblichen Hobelliedes fehlte dafür nicht nur die Hoheit und der Adel des Medea-Dichters, auch dessen Maß an Form und Gestaltung. Als hätte das österreichische Schrifttum seinen Goethe gespalten in den, der Sybel, Frosch, Brander und ihre Genossen schuf, und den anderen, von dem [311] der "Egmont", der "Tasso", die "Iphigenie" stammen. Das Untergründige also, das Shakespeares höchste Stärke ist, fehlt Grillparzer.

Nun ist ein Maß des Hohen, Edlen in der Kunst denkbar, das alles Untergründige in sich längst überwunden hat und es nur noch als Naturkraft im unsichtbar Inneren trägt: Sophokles als Gipfel der griechischen Tragik und von Neueren Hölderlin in der Überhöhe seines "Empedokles", auch Schiller trotz der gesunden Derbheit von "Wallensteins Lager" und Kleist trotz der niederländischen Dörperlichkeit des "Zerbrochenen Kruges". Aber allen diesen kommt Grillparzer an Hoheit, Adel, Größe nicht gleich, so bewundernswerte, nicht durchaus bekannte Szenen von königlichem Wesen, gereifter Überlegenheit, herrscherlicher Größe er geschrieben hat; im "Ottokar", im "Bruderzwist", der "Libussa" und den anderen Dramen.

Wir werden Grillparzer weder im blutvoll Volkstümlichen noch im Adligen als Gipfel ansehen, aber uns seiner doch immer bald erinnern, sobald wir uns mit der Klassik beschäftigen, und dann auch nach seiner Schönheit und Vielfältigkeit lebhaftes Verlangen tragen. Grillparzer ist einer der Dichter, bei denen man weniger in dem eben aufgenommenen Werk genießend fortschwelgt und sich nicht loszureißen vermag, als vielmehr nach einem Werke gleich Spannung und Begier auf das nächste hat; von denen man, wenn man ihm jung einmal verfallen ist, nicht genug bekommen kann. Ich habe öfter, wenn ich einmal ein Grillparzersches Stück sah oder las, die ganze andere Reihe seiner Schauspiele von neuem mit Genuß wiedergelesen. Denn es ist bei Grillparzers Fleiß und langem Leben wirklich eine Reihe geschaffen worden, die dem Verlangen, mit diesem Dichter in Bindung zu bleiben, noch lange ihn und immer mehr ihn zu lesen, entgegenkommt und Genüge leistet. Was bei Goethe und Shakespeare, bei denen man vom einzelnen Werke festgehalten und zurückgezwungen wird, Erschwerung und Mühe, ja manchmal Abhaltung bedeutet: daß sie so viel geschrieben haben, das ist bei Grillparzer gerade die Ermöglichung langen Vertrautseins mit ihm, das fesselt an ihn, wie es den jugendlichen Leser an Walter Scott fesselt.

Dabei ist unstreitig einer der großen Reize seiner Schauspiele, so der "Sappho", des "Hero-Leander"-Dramas, von "Traum ein Leben" und anderer, die Lyrik der Wechselrede, der Versklang – der starke Band Grillparzerscher Gedichte aber enthält kaum ein wesentlich lyrisches Gedicht; trotz allen Widerspruchs seiner unbedingten Anhänger: die Gedichte sind tote, leblose Lyrik, in der kein Nerv zuckt.

Was Grillparzers Rang endgültig bestimmt, ist seine Stammesbesonderheit, sein Österreichertum. Als größtem Dramatiker der alten Südostmark und ihrer Kultur, wohl auch überhaupt als dem am stärksten hervortretenden österreichischen Dichter, einem geborenen Wiener zudem, der in sich und seinem Werk die hohe Bühne Österreichs darstellt, wächst ihm eine dichtungsgeschichtliche Bedeutung zu, die selbst seine Verkleinerer nicht übersehen können.


[312] Grillparzers Leben beginnt, verläuft und endet in Wien. Die Reisen – in deutschen Gauen, in Italien, Griechenland, Frankreich, England – bereichern es wohl. Aber es ist und bleibt durch Wien bestimmt. Die Stadt der großen deutschen Musik, überlieferungsgehüteten Theaters, herrlicher Baukunst und einer so vielfältigen politischen Geschichte, wie sie umfassender vielleicht nur Rom aufweist: welche Fäden liefen hier zusammen, wie nahe war hier die Berührung mit der Ostwelt, mit Welschland und dank der Bedeutung der Stadt mit ganz Europa! Das Theaterleben Wiens hat Grillparzers Talent zur Betätigung gerufen, die Musik seine Seele durchtränkt und, sicher nicht nur zu den vielen Gedichten auf die Tonkunst, fruchtbar gemacht; in der österreichischen Geschichte aber fand er Stoffe und auch für Stoffe aus anderer Umwelt dramatischen Puls, in der Architektur Stimmung und Hintergründe.

Der Vater Grillparzers muß nach den überkommenen Schilderungen in einigen Zügen dem kaiserlichen Rat Goethe entfernt geglichen haben. Er war Anwalt: klug, pedantisch, hartnäckig, josephinisch-aufklärerisch und wenn nicht Freigeist so doch wohl Zweifler; während der zweimaligen Besetzung Wiens durch die Franzosen leidenschaftlich hassend, so daß man noch besonders an den Rat Goethe denkt. Der Vater starb, als der Sohn achtzehn Jahre alt war. Sein Nachwirken und sein Einfluß sind wohl – ebenso wie es die von Goethes Vater waren – gewichtiger und tiefer, als sie dem oberflächlichen Blick neben den mütterlichen scheinen mögen.

Die Mutter Grillparzers, von der sicherlich auch lebendige seelische Ströme, die Dichtung wurden, und wesentliche Gaben sonst dem Dichter zuflossen, war nun aber alles andere als eine Frohnatur mit der Lust, zu fabulieren. Sie lebte in der Musik, die in ihrem elterlichen Hause Sonnleithner eine echte Heimstatt hatte, trug aber Dunkelheit und Wirrnis in der Seele. In einem Anfall von schwermütigem religiösem Wahnsinn endete sie selbst ihr Leben am 24. Januar 1819. Ihr seelisches Erbe, das bei einem von Grillparzers Brüdern auch der Selbstmord war – noch vor dem Tode der Mutter –, gesundete in dem Dichter halbwegs zu Bitterkeit, Galligkeit, Grübelei, zeitweiliger Verdüsterung und unfrohem, mürrischem Wesen. In dem freilich durch manche lebenswierigen Verärgerungen gesteigerten Mißmut, mit dem der alternde Grillparzer auf einer Bank im Prater sitzend die Frage, ob er nicht wieder ein Lustspiel schreiben werde, abweist: "Ich sitz' hier und denk' mir meine Lustspiele!" ist ein Klang davon.

Jugend und Schulzeit Grillparzers sind ohne rechte Leitung und Führung; sie vollziehen sich nach Vermögensverlusten des Vaters unter ärmlichen Verhältnissen. Die Eindrücke einer ungeordneten, abenteuerlichen Lektüre, zu denen man hier auch das Textbuch der "Zauberflöte" rechnen muß – der kleine Franz bekam es von einem Stubenmädchen seiner Mutter, das als Kind in Mozarts Oper einen Affen gespielt hatte, zu lesen –, die des volkstümlichen Leopoldstädter Theaters mischen sich mit denen aus einem offenbar von kauzigen Lehrern [313] erteilten mangelhaften Unterricht. Sechzehnjährig beginnt Grillparzer juristische Studien um der künftigen Versorgung willen und leitet damit ein eigentlich nur erduldetes, freudeloses Beamtersein ein, dem allerdings zunächst noch Hofmeister- und Hauslehrertum, zum Teil mit dem Studium gleichzeitig, vorangeht. Mit Freunden gründet der Student eine Bildungsgesellschaft, in der er – das mag auf sein künftiges Schaffen hingewirkt haben – eine Rede auf Rudolf von Habsburg hält. Aber auch einfach die Tatsache, daß man sich hier des Worts und der Sprache zu geistigen Zwecken bedient, fördert den angehenden Dichter, der an einer "Bianca von Kastilien" arbeitet.

Nach einer schweren Erkrankung beginnt Grillparzer 1813 seine Beamtenlaufbahn, im Leben durch sie nicht wesentlich unterstützt, im Dichten gehemmt. Unfroheit kommt auch von außen an sein innerlich belastetes Dasein, in das aber doch sein Schaffen wohl Sonnentage gebracht haben muß. Der Fünfundzwanzigjährige wird mit Schreyvogel bekannt, der mancherlei Bearbeitungen für das Burgtheater machte. Dem Einfluß dieses dichterisch empfindenden Mannes ist es zuzuschreiben, daß die "Ahnfrau", Grillparzers erstes beachtenswertes und zugleich mit der wilden Räuberromantik gewiß allervolkstümlichstes Werk, entsteht. Schreyvogel, dessen unter dem Namen West veröffentlichte und, wenn auch heute ganz veraltete, doch für die damalige Zeit dankenswerte Theaterbearbeitung von Calderons "Leben ein Traum" eine nicht ungeschickte dramaturgische Hand zeigt, soll an der schließlichen Bühnengestaltung der "Ahnfrau" mitgeholfen, die etwas plumpe Unterstreichung der Schicksalsdramatik veranlaßt und dem Stück die Aufführung vermittelt haben, die im Theater an der Wien am 31. Januar 1817 stattfand.

Der unbekannte junge Verfasser wohnte der Aufführung im Zuschauerraum bei und mußte hören, wie ein sichtlich nicht ohne Wohlwollen teilnehmender Besucher zu Grillparzers Entsetzen immer wieder vor sich hin sagte: "Grell, grell!" Grillparzer erzählt diesen kleinen Vorfall in seiner stellenweise lebendigen und farbigen Selbstbiographie unter anderen seelischen Bedrückungen, die ihm die erste Aufführung der "Ahnfrau" brachte, nach der er beschloß, nie mehr die Aufführung eines seiner Stücke im Zuschauerraum anzusehen.

Sind die beim Theater ja nie vermeidbaren Unannehmlichkeiten zusammen mit diesem "Grell, grell!" Anlaß gewesen, daß Grillparzer von seiner ursprünglichen Bahn, jedenfalls von der Bahn, die dieses Stück doch ankündigt, schon mit seinem zweiten Schauspiel und endgültig abweicht und vielleicht nicht den Weg gegangen ist, der als gegeben vor ihm zu liegen schien? Er hatte die "Ahnfrau", deren flüssigen vierfüßigen Trochäus er der Lektüre Calderons verdankte, aus der Geschichte eines französischen Räubers Jules Mandrin und aus einem Gespenster-Volksmärchen zusammengeschweißt. Auch hier liegt wieder der in der Schrifttumsgeschichte häufige Fall vor, daß sich im Geiste eines späteren Dichters zwei ältere Stoffe durchdringen und zu etwas Neuem, Eigenem, Starkem werden. [314] Ähnlich wie Schiller bei den "Räubern" gelang hier dem anfangenden Dramatiker sogleich ein kraftvolles, gewiß in manchem "grelles" Werk, das er im Hinblick auf die unmittelbar drastische Wirkung kaum wieder erreicht hat und von dessen Art er sich aus Geschmack, aus Ärger über törichte Kritik und aus ästhetischem Streben vielleicht zu Unrecht bald abwandte. Der Gedanke ist nicht von der Hand zu weisen, daß die hier fruchtbar begonnene – schon mit dem nächsten Schauspiel "Sappho" (1818) abgelenkte – Entwicklung zu einem originaleren Grillparzer hätte führen können, bei dem man sich so leicht keines Mangels bewußt geworden wäre.

Der große Bühnenerfolg der "Ahnfrau" setzte sich mit der "Sappho" fort. Auf diesen Stoff war Grillparzer durch den Vorschlag, aus dem Schicksal der lesbischen Dichterin einen Operntext zu schreiben, gestoßen. Goethes "Iphigenie" hat Pate gestanden – er sagt selbst einmal, daß er hier mit "Goethes Kalb gepflügt hat" –, aber die Hoheit der Gestalt nur so weit in dem jüngeren Dichter nachgewirkt, daß noch ein irdisches, dramatisch-tragisches Schicksal möglich wurde.

Gegenüber der Räuberromantik und kräftig blutrünstigen Jugendtheatralik der "Ahnfrau" ist die klassischere Ausgeglichenheit und die gewisse Verklärung der "Sappho" das am meisten ins Auge fallende Kennzeichen des neuen Stückes. In der "Ahnfrau" war der Ring um Handlung und Welt der Tragödie noch eng geschmiedet; das Draußen war sozusagen undurchsichtige Nacht, aus der Jaromir trat, in die er verschwand, aber der ganze Vorgang ist in die düsteren Hallen des Schlosses gebannt – was den geborenen Dramatiker verrät. Der könnte ein Drama in einem Schiff auf hoher See spielen lassen, wo nichts mehr von außen hineinkommt und die handelnden Personen schon durch ihre Lage, rings vom wegelosen Meer umgeben, zum Drama gezwungen sind.

In wie ausgesprochenem Gegensatz steht damit Grillparzers Jugendstück zu der epischen Erdweite des "Götz", wie nahe trotz allen Szenenwechsels dort den Schillerschen "Räubern"! Auf den Schauplatz der "Sappho" blickt, übrigens bei streng gewahrter Einheit des Ortes, ein lichtes heiteres Griechenland, Olympia, Volk, blickt Meer und Himmel. Der Alpdrucktraum, dem in etwas jedes packende Drama gleichen muß, der die "Ahnfrau" – in guter Zusammenstimmung mit der damaligen düsteren Wohnung des Dichters – war, ist einem erlösten Erwachen gewichen.

Daß Grillparzer damit etwas von seiner eingeborenen Wesenheit, von seiner ursprünglich kraftvoll-düsteren Gespanntheit zugunsten einer abgeklärten Ausgeglichenheit aufgab, die seine Abhängigkeit von den großen Vorgängern enger, sichtbarer macht, wird meines Erachtens durch seine bevorzugte Stoffwahl noch mehrmals erwiesen: sie strebt zu einer der "Ahnfrau" verwandten Gefühlswelt, adelt die Stoffe dann freilich im Geiste der Klassik. Nicht nur im "Traum ein Leben", zu dem der Plan – die Fabel entstammt einem der kleinen Romane Voltaires – zunächst nach der "Sappho" auftaucht, um dann hinter anderes [315] zurückgeschoben zu werden, geschieht es, sondern auch in dem dramatischen Vorwurf, den Grillparzer gegen viele Hemmnisse und Störungen in zwei Jahren als nächsten zur Ausführung brachte, der im März 1821 erstmals gegebenen Trilogie "Das goldene Vlies".

Kostümskizze Grillparzers.
[315]    Kostümskizze Grillparzers zur "Medea".
Federzeichnung.
Der Medea-Stoff hat die ganze düstere Blutigkeit des griechischen Mythos und Sagen, in denen Kinder geschlachtet und verspeist, Gatten und Mütter gemordet und die Helden von den schlangenhaarigen Scheusalen der Eumeniden gehetzt werden. Ja, noch mehr: der Dichter hat in diesem Werk greifbar die Welt, aus der er kommt, die Welt des dramatisch-tragischen Grauens, und die, zu der er, durch die großen Vorbilder der Klassik gelockt, strebt, die des hoheitsvollen, reinen, harmonischen, menschlichen Griechentums in ihrer Unvereinbarkeit – auch in seiner Seele – einander gegenübergestellt und beide in den sinnbildlichen Persönlichkeiten, Medea und Jason, aneinander zugrunde gehen lassen. Der Abstich des Rauhen, Barbarischen, der Gewalt und Kraft, des eigentlich Dramatischen und Ursprünglichen, gegen die Kultur und Kultiviertheit, die Bändigung und die Ausgeglichenheiten, die Feinheit mengt sich fortan in die meisten Stoffe, die Grillparzer behandelt hat. Er ist im "Ottokar", im "Traum ein Leben", in der "Libussa", in "Weh dem, der lügt!", in der "Jüdin von Toledo", nicht in der reinsten Formung der Grillparzerschen Kunst, in "Des Meeres und der Liebe Wellen".

Kennzeichnend ist, daß der letzte Teil der Trilogie, die Medea-Tragödie, in welche sich die Düsterkeit des Stoffes mit allen ihren Flüchen gesammelt hat, zum stärksten, wirkungsvollsten wurde. Das Erzählen in Handlung, die wenn auch leidenschaftlich erregte Epik, ist bei einem so umfassenden Stoff wie dem "Goldenen Vlies" nicht vermeidbar gewesen. Der Mangel, den Grillparzer bei aller Bewunderung dem "Wallenstein" vorwirft, läßt sich auch an seinem eigenen Dreiwerk feststellen. So ist es folgerichtig, daß die "Medea" allein, das Drama, die Tragödie, die nicht mehr zu erzählen hat, sondern in gewaltigem Schritt der Katastrophe zueilt, sich fast allein auf den Bühnen hielt.

Der Zusammenhang des dunklen und erschütternden Werkes mit dem Leben des Dichters ist eng. Nicht nur steter Ärger in seinem Brotberuf, mit unangenehmen Vorgesetzten, Versetzungen, die ihm seine Lage verbessern sollten, was [316] nicht gelang, fallen in die Zeit der Arbeit am "Goldenen Vlies", sondern auch der Selbstmord der Mutter, deren scheinbar aufrechtstehende Leiche Grillparzer selbst finden mußte, erschreckte ihn jäh und verdüsterte sein Gemüt. Der Dichter wird in der Arbeit gewaltsam zurückgeworfen. Der Zufall aber, der ihn zu dem entsetzensvollen, gänzlich lichtlosen Medea-Stoff führte, erscheint fast wie herbeigezogen durch das Grillparzer zunächst drohende Lebensdunkel: bei einem Erholungsaufenthalt der Familie in Baden bei Wien fand Grillparzer in dem ihm bestimmten Zimmer ein mythologisches Lexikon, in dem er den Artikel über Medea aufblätterte; die zündende Anregung fiel in seine Seele.

Während der Arbeit packt ihn das Unglück an. Dann beschloß er, um sich aus Schrecken und Schmerz wiederherzustellen, eine Reise nach Italien. Sie gewinnt ihn dem Dasein und der Anteilnahme zurück. Er sieht und nimmt auf. In Venedig wäre er beinahe Lord Byron persönlich begegnet. Die Nazarener in Rom mit "einer damals unter ihnen herrschenden affektierten Richtung, zufolge welcher sie in mittelalterlicher Tracht herumgingen und auch in ihren Werken einer abgeschmackten Nürnbergerei huldigten", lehnt er widerwillig ab. Friedrich Schlegel lernt er kennen, trifft ihn in frommer Völlerei an. In Kunstgenüssen schwelgt er. Schließlich erkrankt er ernstlich. Seine Krankheit und andere Unannehmlichkeiten, die sich der Reise anschlossen und die Verbitterung des Dichters steigerten, hinderten ihn nicht, die "Vlies"-Tragödie zum Ziele zu führen.

Stammbuchblatt Grillparzers aus seiner Pariser Zeit.
[321]      Stammbuchblatt Grillparzers aus seiner Pariser Zeit.
Berlin, Staatsbibliothek.

Die nächste dramatische Arbeit, die Grillparzer in Angriff nahm, die aber nach der Vollendung von der Zensur auf die lange Bank geschoben und nur durch eine zufällige Nachfrage der Kaiserin und ihr Gefallen an dem Werk freigegeben wurde, "König Ottokars Glück und Ende" (Aufführung 1825), ist eine der Schöpfungen, zu deren Entstehung die Gestalt Napoleons der Anlaß wurde. Grillparzer hatte mit der Feindschaft, die er nicht nur als Deutscher und Österreicher empfand, sondern auch noch von seinem leidenschaftlichen Vater besonders übernommen hatte, dem französischen Kaiser zur Zeit der Besetzung Wiens oftmals bei Musterungen in Schönbrunn zugeschaut und fühlte sich von ihm so widerstrebend bezaubert wie der Vogel durch die Schlange, die ihn fressen will: "Noch sehe ich ihn die Freitreppe des Schönbrunner Schlosses mehr herablaufen als gehen, die beiden Kronprinzen von Bayern und Württemberg als Adjutanten hinter sich, und nun mit auf dem Rücken gefalteten Händen eisern dastehen, seine vorüberziehenden Gewalthaufen mit den unbewegten Blicken des Meisters überschauend. Seine Gestalt ist mir noch jetzt gegenwärtig, seine Züge haben sich leider mit den vielen gesehenen Porträten vermengt."

Diese kleine Bemerkung: daß sich der Eindruck des wirklich gesehenen Napoleon in Grillparzers Erinnerung aufzulösen oder zu verändern begann, möchte ich dahin deuten, daß es unter der Einwirkung von des Dichters Absicht, im Ottokar ein geschichtlich verhülltes Abbild des Mannes und seines Schicksals zu geben, geschehen ist. Alle aus unmittelbaren Eindrücken gegriffenen Stoffe in der [317] Dichterseele – nicht nur Personen, sondern selbst Landschaften und beliebige Örtlichkeiten – verlieren ihre erste Gestalt sehr bald und wandeln sich nach den im Dichter waltenden Ideen auch äußerlich; etwa wie es Wirklichkeitsbilder tun, die in den Traum gelangen.

"Es tat mir leid, daß das weite Auseinanderliegen der entscheidenden Momente (in Napoleons Schicksal) nicht allein für jetzt, sondern wohl auch für die Zukunft eine poetische Behandlung dieser Ereignisse unmöglich macht. Indem ich von diesen Eindrücken voll meine sonstigen historischen Erinnerungen durchmusterte, fiel mir eine, obgleich entfernte, Ähnlichkeit mit dem Böhmenkönige Ottokar II. in die Augen. Beide, wenn auch in ungeheurem Abstande, tatkräftige Männer, Eroberer, ohne eigentliche Bösartigkeit, durch die Umstände zur Härte, wohl gar Tyrannei fortgetrieben, nach vieljährigem Glück dasselbe traurige Ende, zuletzt der Umstand, daß den Wendepunkt von beider Schicksal die Trennung ihrer ersten Ehe und eine zweite Heirat gebildet hatte. Wenn nun zugleich aus dem Untergange Ottokars die Gründung der Habsburgischen Dynastie in Österreich hervorging, so war das für einen österreichischen Dichter eine unbezahlbare Gottesgabe und setzte dem Ganzen die Krone auf. Es war also nicht Napoleons Schicksal, das ich im Ottokar schildern wollte, aber schon eine entfernte Ähnlichkeit begeisterte mich. Zugleich bemerkte ich an meinem Stoff das Eigentümliche, daß ich beinahe alle Ereignisse, die ich brauchte, in der Geschichte oder Sage bereitliegend vorfand."

Illustration zu ‘'Weh dem, der lügt'‘.
[320b]   Illustration zu "Weh dem, der lügt"
von Grillparzer. Zeichnung: M. v. Schwind,
1870. Berlin, Nationalgalerie.
Szenenbild aus Grillparzers ‘'Sappho'‘.
[320b]  Szenenbild aus Grillparzers "Sappho".
Madame Crelinger in der Titelrolle.
Lithographie. Wien, Nationalbibliothek.

Wie vor der Aufführung des "Ottokar" eine nicht einmal böswillig gemeinte langwierige Verschleppung bei der Zensur den Dichter verärgerte und verstimmte, so tat das nach dem lebhaften Erfolge des Stückes am Hofburgtheater heftig laut werdender Unwille der Böhmen, für die Ottokar so etwas wie ein Nationalheiliger ist; sie waren mit Grillparzers Darstellung ihres Helden nicht einverstanden.

Was bei einem Buche selten ist, weil das von jedem für sich und mit sehr viel weniger Leidenschaft aufgenommen wird, geschieht bei einem Theaterstück, das gleichzeitig viele erfaßt, dem die Menge geschlossen gegenübersteht, leicht: daß es zu einer Befehdung des Werkes und des Dichters Anlaß wird. Selbst ein vielgelesenes Buch bleibt noch lange in einer gewissen schützenden Verborgenheit; ein Schauspiel wird mit einem Schlage ans helle Licht der Rampe gerissen. Eine mißfallende oder mißverstandene Stelle in einem Buche wird mit Gleichgültigkeit überschlagen; in einem Stücke mit dem Mute jedes einzelnen, den er hat, wenn er in der Menge ist, bekämpft und beschimpft; was Grillparzer öfter erfahren hat.

In der Zeit nach dem Erfolg des "Ottokar", auf den in Grillparzers Seele eine jener für den schöpferischen Menschen kennzeichnenden Erloschenheitsstimmungen mit tiefer Niedergeschlagenheit folgte, daß er vermeinte, nie mehr etwas schreiben zu können, trat auch noch eine Verwirrung von Herzensangelegenheiten bei ihm ein, über die sich näher auszusprechen er abgelehnt hat. Der Dichter hat seine [318] Stellung zu Ehe und Familie selbst, von dem häuslichen Zusammenleben mit seiner verwitweten Mutter und den Brüdern, so geschildert: "Aus unserem Zusammenleben konnte ich abnehmen, daß ein eheliches Verhältnis meinem Wesen gar nicht entgegengesetzt war, obwohl ein solches Verhältnis sich nicht gefunden hat. Es liegt etwas Rekonziliantes und Nachgiebiges in mir, das sich nur gar zu gern selbst der Leitung anderer überläßt, aber immerwährende Störungen oder Eingriffe in mein Inneres dulde ich nicht, kann ich nicht ertragen, wenn ich auch wollte. Ich hätte müssen allein sein können in einer Ehe, indem ich vergessen hätte, daß meine Frau ein anderes sei, meinen Anteil an dem wechselseitigen Aufgeben des Störenden hätte ich herzlich gern beigetragen. Aber eigentlich zu zweien zu sein, verbot mir das Einsame meines Wesens. Einmal schien ein solches Verhältnis sich gestalten zu wollen, es ward aber gestört, weiß Gott, ohne meine Schuld."

Schon diese wenigen Worte zeigen die ganze problematische Natur Grillparzers dem weiblichen Geschlecht gegenüber, das ihm am wesentlichsten in drei Frauen gegenübertrat: in Charlotte von Paumgarten, Marie von Smolenitz und lebenslang dann, jede endgültige andere Bindung verhindernd, in Katharina Fröhlich. Die Betrachtung der künstlerischen Entwicklung Grillparzers und des Werdens seines Werkes nötigt nicht zu dem Versuch, in diese verhüllten menschlichen Verhältnisse einzudringen. Wir haben uns – vor allem durch Charlotte von Stein und die überhöhte Einzigkeit, zu welcher der größte Dichter diese Frau steigerte, verführt – daran gewöhnt, uns eifrig nach den Frauen im Leben der Künstler und besonders der Poeten umzusehen, fast nach ihnen zu schnüffeln. Ich denke nicht nur an die Andersen-Biographien und lasse mich durch ihr Mißgeschick warnen, wenn ich leugne, daß aus dem, was Grillparzer in Tagebüchern, Briefen und sonstigen Aufzeichnungen über sein lebenslanges Verhältnis zu Katharina Fröhlich oder über andere Frauen ausgesprochen hat, sich irgendwie die sichere Anschauung einer menschlichen Beziehung so gewinnen läßt, wie sie uns jedes wahrhafte Dichtwerk von erträumten Gestalten zu geben vermag. Ich möchte hier einmal betonen, daß das emsige literaturgeschichtliche Nachforschen nach den Frauen im Leben der Dichter bedeutungslos und überflüssig ist. So wenig wie der Biograph eines Dichters das Übermaß seiner wirklichen Gefühle, äußerer und innerer Erlebnisse, der Stimmungen und Natureindrücke, der dem Dichterauge, ‑ohr und ‑herzen flüchtig begegnenden, oft unbekannten, ihn aber, wenn auch nur augenblicklang, im schöpferischen Innen berührenden Menschen, Tiere, kleinen Szenen, Träume und was sonst im gegenständlichen Leben an ihm vorübergezogen ist, mit Erfolg aufzuspüren vermag und aufzuspüren braucht – so wenig soll er die noch dazu häufig sehr durchschnittlichen Frauen, mit denen sich Dichter verlobt oder verheiratet haben, in ein ihnen wenig günstiges Tageslicht zu ziehen versuchen. Die einen Dichter gequält und gehemmt haben, mag der Forscher als Warnung der Künftigen im Vorbeigehen an den Pranger stellen, und die, [319] ohne in künstlicher Aufmachung oder in Problematik hervortreten zu wollen, den Dichter geliebt, ihm geholfen, ihm Wärme und Schaffensmöglichkeit gegeben, denen mag mit zwei Worten ein Ehrenstein errichtet werden. Grillparzer blieb bis zu seinem Tode ehelos. Ist überhaupt eine von den Frauen seines Lebens ganz in diese, eine andere in jene Klasse zu rechnen?

Grillparzer beschloß, dem ihn innerlich und äußerlich bedrückenden Zustande, in den er nach dem "Ottokar" geraten war, "durch eine Reise ein Ende zu machen". Die Reise ging nach Deutschland – Berlin, Dresden wurden unter anderem berührt – gipfelte in dem denkwürdigen Besuche bei Goethe in Weimar, bei welchem dem jüngeren Dichter die Tränen kamen, als ihn Goethe zu Tische führte und Grillparzer an die Weltbedeutung des Mannes denken mußte, der ihn an der Hand hielt. Das mehrmalige Zusammensein mit Goethe hat leider bei Grillparzers scheuer, immer gleich wieder in sein Inneres zurückweichender Art zu keiner näheren Beziehung geführt; doch in ihm nachgewirkt. Er ist von der Reise erfrischt und gekräftigt. Er beschließt, sogleich an eine neue dramatische Arbeit zu gehen, die er "statt eines langweiligen Verkehrs durch Briefe Goethen zueignen wollte"; ja er nahm sich vor, nach seinen aufgezeichneten Stoffen jetzt "jedes Jahr ein neues Stück zu schreiben und dem hypochondrischen Grübeln für immer den Abschied zu geben".

Er wählte den Stoff, der ihm die "wenigsten Zensurschwierigkeiten zu bieten schien", die Sage vom Palatin Bancbanus, dem "Treuen Diener seines Herrn". Vielleicht hat er auch nur geglaubt, diesen Stoff, der ihn nach seinem eigenen Bekenntnis weniger anzog und dessen Ausarbeitung kein inneres Bedürfnis bei ihm befriedigte, wegen seiner gewissen Unverfänglichkeit für die Zensur gewählt zu haben: er erscheint in manchem wie eine Nachschöpfung aus dem noch vom "Ottokar" erfüllten und erregten Geiste. Nach einem lebhaften äußeren Erfolg (Aufführung 1828) machte der Kaiser den Versuch, Grillparzer das Stück aus irgendeinem nie sicher festgestellten Grunde abzukaufen und verschwinden zu lassen. Trotzdem das "Und bist du nicht willig, so brauch' ich Gewalt!" das Leitmotiv dieser Verhandlungen des Hofes mit dem Beamten Grillparzer war, gelang es dem Dichter, mit einem geschickten Schachzug das Stück zu retten. Goethes schien es Grillparzer dann übrigens nicht würdig; er unterließ die Widmung.


Von der Erreichung einer gewissen Stufe der Entwicklung ab büßen die Leben ihr Sichvollziehen wesentlich in der Zeitfolge ein und nehmen statt der reinen Vorwärtsbewegung ein Sichausdehnen in die Breite an, das auch bei Grillparzer eintrat. Die Jahreszahlen verlieren an Nichtigkeit. Neue und alte Entwürfe lösen sich in der Arbeit ab. Der Dichter greift zurück, er schiebt Halbvollendetem anderes vor; er wandelt sich auch stilistisch nicht mehr sehr, so daß jetzt ein Nebeneinander seiner Werke statthat statt des bisherigen ausgesprochenen [320] Nacheinanders. Grillparzer selbst bekundet diesen Vorgang für sich, indem er von der Verwirrung spricht, in die er allmählich über die Zeitfolge der Ereignisse gerate, und glaubt, die Ursache davon sei, daß er sich bestrebt habe, so vieles zu vergessen. In Wirklichkeit verwirrt sich ihm die Zeitfolge, weil sie aufgehört hat, in seinem Leben und Geist wichtig zu sein.

– aus dem Epos des Grammatikers Musäus kommt nicht nur der Titel, sondern auch der Stoff für "Des Meeres und der Liebe Wellen", für das Werk, das wohl Grillparzers vollste Poesie ausströmt. Es ist, trotzdem seine Schwächen durch den Zeitabstand nur fühlbarer erscheinen, wirklich zu einem bleibenden Lied der Liebe geworden. Das Erglühen des Dichters für eine Frau hat sich in dem Werke vergeistigt. Wir erkennen, daß das alte Künstlerschicksal – das ahnend, wenn auch nicht bewältigend, der Dichter in der "Sappho" darzustellen unternahm – gerechterweise auch das seine sein mußte: die großen Werke entstehen aus den Erregungen des Lebens, die sich in die ewigen Masken verkleiden, aus ihnen aber nicht mehr in die Wirklichkeit zurückkehren können, sondern in der Maske leben, lieben, leiden und sterben. Zugleich erscheint die "Sappho" wie eine Vorstufe zu diesem größeren Gelingen. Der klassische Stil, der dort noch Goethes "Iphigenie" nachgebildet war, hat sich, durch Jahre in der Seele des Dichters ruhend, mit ihm und seinem Geiste verschmolzen und ist wirklichkeitsnäher geworden. Je poesievoller ein Werk ist, um so schwerer wird es ihm gemacht, um so dornenreicher wird sein erster Weg. Kommen wie hier nicht überwundene, sehr fühlbare Gestaltungsmängel hinzu, wächst die Gefahr. Die Uraufführung (1831) von "Des Meeres und der Liebe Wellen" ward ein Mißerfolg.

In dem der Niederschrift nach früheren, der ersten Aufführung (1834) nach späteren "Traum ein Leben" findet sich einer der genialsten Griffe, die Grillparzer getan hat, ein Einfall, der nach Laubes Bericht den erst unsicheren Erfolg des Abends entschied. Das ist jene berühmte Stelle, wo der Held Rustan, der sich im Traum dieses Stückes in schwere Schuld verstrickt hat, wie mit einer Ahnung sich bewußt wird, daß er träumt. Kühn hat das Grillparzer auf die Bretter gestellt. Die Szene erstarrt einen Augenblick wie zu einer Gedenkminute. Langsam und deutlich schlägt eine Uhr. In die Stille spricht der plötzlich im Traume – der ihn sonst als wach Handelnden sieht! – in träumerisches Sinnen versinkende Held:

      "Horch, es schlägt - drei Uhr vor Tage!
      Kurze Zeit, so ist's vorüber,
      Und ich dehne mich und schüttle,
      Morgenluft weht um die Stirne.
      Kommt der Tag, ist alles klar,
      Und ich bin dann kein Verbrecher,
      Nein, bin wieder, der ich war."

Szenenbild aus Grillparzers
[320b]      Szenenbild aus Grillparzers "Der Traum ein Leben".
Kolorierter Kupferstich. Wien, Nationalbibliothek.

[321] Dieser Zug ist einzeln und schon ein Anspruch Grillparzers auf dichterischen und dramatischen Ruhm. Jetzt aber ist ein anderes festzustellen wichtig. Nun seine Stücke von ihm bald zu den witzigen und boshaften, seiner verärgerten Seele Luft machenden Epigrammen als einstiger Nachlaß in den Schreibtisch verschlossen werden – nach dem noch erschienenen, nicht sehr starken, doch feinen und wirksamen Lustspiel "Weh dem, der lügt!", das 1838 am Wiener Burgtheater vom Publikum häßlich abgelehnt wurde: "Libussa", "Ein Bruderzwist in Habsburg", "Die Jüdin von Toledo", während die Bruchstücke "Esther" und "Hannibal" in Almanachen erschienen – ist es gegeben, daß wir die Künstlerschaft Grillparzers, dessen Entwicklung zu seiner gleichbleibenden Höhe wir überflogen, uns noch einmal zusammenfassend vergegenwärtigen. Es ist an seinem Werk viel veraltet, wahrscheinlich, ja sicherlich mehr als an Goethe, Schiller, Kleist. Zwischen ihm und uns gewesene realistische und naturalistische Kunst war zwar weit entfernt, in sich einen Gipfel darzustellen und der Welt innere Befriedigung zu geben. Aber diese Richtungen haben mit ihrem Wirklichkeitsanspruch unser künstlerisches Organ empfindlicher gemacht, daß es wenigstens Voraussetzungen und Motive, die zum gewohnten Lauf des Alltags zu sehr in Widerspruch stehen, die noch die Zeit der Klassiker unkritisch hinnahm, oder undeutliche und verwaschene Motive, wie zum Beispiel das Zölibat und Priestertum der Hero, ablehnt, zum mindesten zur Wirkungslosigkeit verdammt. Grillparzers Schöpfungen sind nicht arm an solchen Zügen, in der Führung der Handlung und an Einzelstellen, bei denen er sich zu früh begnügte, die Gerüste, die ihm den Bau ermöglichen sollten, als schlechte Stützen stehen ließ, nicht, wie Shakespeare es in solchem Falle machte, mit blutvollstem Leben des Vordergrundes die verborgene mangelhafte Verursachung völlig abdeckte.

Aber Grillparzer hatte dies Seltene – dessen erschreckende Seltenheit wenig bemerkt und erkannt wird, weil es so sehr einfach scheint: er vermochte Handlung zwischen Menschen in Wechselreden und kurzen Hinweisen über ihr äußeres Verhalten zwischen den Andeutungen von Bildern aus der sichtbaren Welt so niederzuschreiben, daß sie uns heute, nach einem hundertjährigen Abstand, noch zu beschäftigen und trotz unserer Einwände zu fesseln imstande sind, daß es [322] uns lockt, sie auf uns wirken zu lassen, daß sie uns eine Abspiegelung des Lebens zu sein scheinen. Nicht mehr bedarf es – wenn wir das auch vielleicht mit einer gewissen Scham aussprechen müssen – um das zu sein, was er war: ein großer Dramatiker; ein Mann, in dessen Geist sich Gestalten, Handlung, Worte und Bilder bruchlos zusammenfügen. Allein in diesem Können und seiner möglichen Steigerung liegen die Rangunterschiede der Dramatiker. Neben diesem einen ist bei Grillparzer alles andere unwichtig, auch die eindringliche Novelle Der arme Spielmann, seine scharfen Epigramme, seine klugen ästhetischen Betrachtungen, seine rhetorischen Gedichte.

Franz Grillparzer.
[320a]      Franz Grillparzer.
Photographie von Viktor Angerer, 1861.
Grillparzer ist noch einmal in seiner Gegenwart unmittelbar hervorgetreten, im Revolutionssturm 1848, mit seinem berühmten und befehdeten Ruf an den Feldmarschall Radetzky. Aber eigentlich scheidet der Dichter etwa mit dem Jahre 1840 – in welchem seine letzten drei nicht zurückgehaltenen Schauspiele in einem Bande erschienen, lange vor welchem er seine Reise nach Paris und London gemacht hatte, dem an äußerer Bewegung nur noch die Donaufahrt zum Besuch von Konstantinopel und Griechenland folgt – aus dem öffentlichen Leben und aus seiner Biographie aus, die hier ihren tiefsten Einschnitt hat, vor dem leidenschaftliches Leben und Ringen lag, nach dem alles Entsagung wird. Selbst die erfolgreiche Wiederaufnahme seiner Stücke durch Heinrich Laube in den fünfziger Jahren, Ehren und Auszeichnungen, festliches Begehen seiner Geburtstage vermochten kaum mehr in seine zunehmende Altersverdrießlichkeit einzudringen – wenn nicht vielleicht, wie bei Andersen, ein anderer Lebenserzähler auch hier stille Zufriedenheit und behagliches Sichbescheiden entdecken sollte.

Grillparzer starb am 21. Januar 1872, angekleidet im Lehnstuhl sitzend, ohne vorangegangene Krankheit, still, fast unbemerkt, hierin sicher ein Glücklicher.

Dann kam in seiner Leichenfeier, die der Bestattung eines Kaisers glich, plötzlich durch den einen Anlaß, seinen Tod, gleichzeitig hervorgerufen, die Bewunderung und Verbundenheit, die während seines einundachtzigjährigen Lebens in vielen einzelnen entstanden und nicht voll sichtbar geworden war, als Gefühl aller und des Volkes überwältigend ans Licht.




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