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Mitteldeutschland - Hermann Goern

Die Anhaltischen Lande und Magdeburg

Vom Unterharz über die Elbe hinweg bis zum Fläming reichend, breiten sich um die letzten Talstrecken der Saale und Mulde die Anhaltischen Lande aus als Übergangsgebiet zwischen Obersachsen und Niedersachsen mit der Mark. Laubwälder der Harzberge, Romantik des steilwandigen Saaletales um Bernburg herum, ausgedehnte Auen mit uralten Eichenbeständen im Überschwemmungsgebiet des Elbstromes, Kultursteppe auf dem fetten Boden schwarzerdiger Lößschicht und weite Kiefernheide auf kargem märkischen Sand - so vielfältig auch das Gesicht der einzelnen Landschaften ist, sind sie doch durch die fast 1000jährige Geschichte des Hauses Askanien miteinander verbunden, dessen Glieder bis in die jüngste Vergangenheit hier regiert haben. Ursprünglich rein niederdeutsches Sprachgebiet, wird es seit dem 14. Jahrhundert allmählich von der obersächsisch-thüringischen Mundart erobert und die Sprachgrenze mit dem zurückweichenden niedersächsischen Bauernhaus immer weiter nach Norden hinauf verlegt. Damit wird auch jene bis in die Vorgeschichte zurückreichende Stammesgrenze verwischt, die mit dem Vorkommen der auf schwedischen Granitfindlingen beruhenden Megalithkultur der großen Steingräber zugleich den Südrand der Eiszeitausdehnung bezeichnet. Seit der Jungsteinzeit ist der fruchtbare und schon immer waldfreie Boden besiedelt gewesen und hat durch die reiche Hinterlassenschaft der aufeinanderfolgenden und hier sich oft genug kämpferisch begegnenden Kulturen besonders das Bernburger Gebiet zu einem wichtigen Revier der Vorgeschichte gemacht, dessen bedeutendste Fundorte (Bernburg, Latdorf, Walternienburg) zu Leitnamen geworden sind. Ging es in diesen Zeiten frühester Kulturen der Illyrer, Kelten und Germanen vor allem um die Auseinandersetzung zwischen Norden und Süden, so wendet sich seit der Völkerwanderungszeit die Front nach Osten hin, wo die den fortziehenden Germanen nachdrängenden Slawen sich inzwischen bis zur Elb-Saale-Linie festgesetzt hatten. Nach der karolingischen Gründung der Sorbischen Mark wird die Offensive jenseits der Ströme vorgetragen. Aus den Heervölkern dieser größten Kolonisationskriege deutscher Geschichte ragt drohend und gewaltig die Gestalt des Markgrafen Gero hervor, dessen starker Hand Kaiser Otto I. die gesamte Ostmark unterstellte. Zwischen Saale und Bode begütert, steht er am Beginn der Geschichte des Landes. Seine Nachfolgeschaft tritt das Haus Askanien an, das mit Albrecht dem [527] Bären die Höhe seiner Macht erreichte und im 13. Jahrhundert Anhalt die bis heute bewahrte Ausdehnung gab.

Die von Westen nach Osten vordringende Erweiterung des Landes läßt sich deutlich genug am Alter der Siedlungen und der Art ihrer Gründung ablesen. Drei monumentale Bauwerke als Stiftungen des sächsischen Hochadels sind aus der Kaiserzeit des frühen Mittelalters erhalten. Nah beieinander im Westen sind sie gelegen, und nur eins erreicht die Saalelinie. Am Anfang steht in Gernrode (Geronisroth) am Harzrand im Schutze des Ramberges über einem lieblichen Waldtal die Cyriakuskirche als ehrwürdige Stiftung des Markgrafen Gero. In diesem stolzen Bau, dessen abweisend ernste Außenseite den Formenreichtum im Innern verbirgt und wie kaum ein anderer den machtvollen Geist der Ottonenzeit zum Ausdruck bringt, wurde der große Heerführer 965 nach seinem Willen beigesetzt. Unweit davon hat Ballenstedt den Ruhm, Geburts- und Begräbnisstätte Albrechts des Bären zu sein, der hier nach der Germanisierung der Mark Brandenburg 1170 sein tatenreiches Leben beschloß. Am Zusammenfluß von Saale und Bode steht in Nienburg als Rest der gegen die Jahrtausendwende gegründeten Benediktinerabtei eine weite Hallenkirche aus dem Ende des 13. Jahrhunderts. Das Kloster war als Lieblingsstiftung der Sachsenkaiser mit riesigem Grundbesitz im Wendenlande ausgestattet und hat hervorragenden Anteil an der Christianisierung dieses Gebietes gehabt. Die hohe lichte Kirche, eins der vollendetsten Werke reifer Gotik auf deutschem Boden, bot dem sächsischen Hochadel die letzte Ruhestätte. Im benachbarten Hecklingen aber steht mit die schönste und am besten erhaltene romanische Basilika des ganzen Harzgebietes. An ihren Pfeilern und Säulen entfaltet die Schmuckfreudigkeit des 12. Jahrhunderts ihren ganzen Reichtum, der seine Krönung in dem feierlichen Reigen der flügelumrauschten Engelsfiguren mit den Seligpreisungen an den Mittelschiffwänden erhält.

Als nach der Wiedereroberung die deutsche Macht im Slawenlande endgültig gesichert war, setzte während des 13. Jahrhunderts - hauptsächlich mit flämischen Kolonisten - die planmäßige Gründung von Städten ein, die auch heute noch in Anhalt die bedeutendsten sind. Unter ihnen hat sich Zerbst am treusten sein mittelalterliches Gesicht bewahrt in einer hierzulande seltenen Geschlossenheit von Türmen und Toren, Mauern und Wehrgängen, die den Beinamen des anhaltischen Rothenburg schon rechtfertigen. Imponierend der Marktplatz mit dem Rathaus, dessen überreich geschmückte spätgotische Backsteingiebel daran erinnern, daß wir hier an der Schwelle Brandenburgs, Niederdeutschlands stehen. Davor ein mächtiger Roland und dahinter Türme und steiles Dach der weiträumigen, lichtdurchfluteten Hallenkirche St. Nikolai, die mit der älteren Schwester St. Bartholomäi über ein herrlich buntes Gewürfel altertümlicher Giebelhäuser blickt. Anders wird das Bild, wo die heiteren Rokokofronten der Kavaliershäuser auf die Schloßfreiheit schauen, die zu dem parkumhegten Prunkbau des fürstlichen Residenzschlosses der Anhalt-Zerbster Linie führt. Als nach den Verheerungen des Dreißigjährigen Krieges sich Anhalt mit dem Großen Kurfürsten verband, Georg II. sein General und [528] Statthalter der Mark wurde, führte er auf dessen Wunsch auch eine Oranierin nach Dessau heim. Mit ihr kamen die holländischen Künstler ins Land, die dem Anhalter Barock das Gesicht gaben. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts wurde der Neubau des Schlosses und der protestantischen Trinitatiskirche großzügig mit prunkvoller Ausstattung aufgeführt. Aber das glänzende Hofleben ist erloschen, und das ohnehin abseitig gelegene Städtchen hat in seinem Dornröschenschlaf den Anschluß an die neue Zeit - zu seinem Besten möchte man hier sagen - verpaßt. Nur einmal hat die kleine Residenz die Blicke Europas auf sich gezogen, als eine junge Prinzessin von hier aus ihren Schicksalsweg antrat, um Katharina II., Kaiserin von Rußland zu werden.

Ungleich rühriger und von fernher durch die Reihen seiner Schornsteine, besonders der Solvay-Werke, sich als Industriestadt ankündigend ist Bernburg. Um so angenehmer überrascht die Nähe mit dem ungemein eindrucksvollen Stadtbild, wo von der Saale aus die Straßenzüge einen steilen Berg hinanklimmen, auf dessen felsiger Höhe das herzogliche Schloß thront. Eine ausgedehnte malerische Anlage bedeutender Baulichkeiten aus dem 12. - 18. Jahrhundert um einen weiten Hof mit gewaltigem runden Bergfried gruppiert. Eulenspiegel soll sich hier oben als Türmer manch Schelmenstücklein geleistet haben, und im Zwinger wird nach alter Tradition eine Bärenfamilie gehalten, das anhaltische Wappentier. Vom Altan des Schlosses bietet sich auf den breiten Fluß und die Unterstadt mit den beiden schönen gotischen Kirchen ein Blick, wie man ihn sonst nur im oberen Saaletal anzutreffen gewohnt ist. Mächtig im Aufbruch begriffen aus biedermeierlicher Beschaulichkeit ist auch Köthen inmitten unabsehbarer Zuckerrübenfelder auf fettem Bördeboden. Wäre nicht die im Verhältnis zum bescheidenen Formate der Stadt gewaltige Jakobskirche, eine wundervoll weiträumige spätgotische Hallenanlage, so würde sich dem ersten Blick sonst nichts Beachtliches weiter einprägen. Aber dann steht man unvermutet vor der in ein Gassengewirr gezwängten katholischen Marienkirche und kann nirgends den rechten Abstand gewinnen zu der überaus modern anmutenden Großheit der schlichten und strengen giebelgekrönten Pfeilerstellungen an den Schauseiten. Diese monumentale Wirkung aber wird noch weit überboten vom Innenraum mit seiner mächtigen, mühelos gespannten Tonnendecke auf wuchtigen dorischen Säulen und Pfeilern. Seine unpathetisch feierliche Großartigkeit macht diesen Bau zu einem der reifsten Werke des deutschen Klassizismus überhaupt. Bandhauer, aus Roßlau gebürtig, hat ihn 1826 für den letzten Anhalt-Köthener Herzog errichtet, der - sehr zum Unwillen seiner urprotestantischen Landeskinder - unter dem Einfluß romantischer Ideen zum Katholizismus übergetreten war. Sonst freilich empfanden die drüben im gräbenumzogenen Schloß residierenden Herren kerndeutsch, wofür die vom Fürsten Ludwig im 17. Jahrhundert gegründete "Fruchtbringende Gesellschaft" zur Reinigung der deutschen Sprache von der überwuchernden Fremdtümelei der beste Beweis ist, und für ihren protestantischen Geist wie ihre Kunstfreudigkeit spricht es, daß Johann Sebastian Bach von 1717 - 1723 hier Hofkapellmeister gewesen ist.

[529-544=Fotos] [545] Wenn Köthen über Nacht durch eine kürzlich gegründete große Zweigniederlassung der Junkerswerke wesentlich am Aufbau deutscher Luftfahrt beteiligt worden ist, so hat kaum einer anderen Stadt die Flugzeugindustrie ein so entscheidendes Gepräge gegeben wie Deutschlands jüngster Großstadt Dessau. Wie bedeutend auch die standortgebundene Zuckerindustrie, die Maschinenfabrikation, die Askania-Werke oder die Holzindustrie im Vorort Alten für die Stadt sein mögen - der Name Junkers steht über allem. Seit ihm 1915 die Erfindung des Ganzmetallflugzeuges gelang, ist aus dem kleinen Betriebe von 1892 eine riesige Werks-Stadt mit unübersehbaren Montagehallen um das Hochhaus der Verwaltung entstanden. Nicht eine der vielbewunderten Verbesserungen und Neuschöpfungen, die nicht aus diesen von Grünflächen und Blumenbeeten umgebenen lichten Konstruktionsbüros ihren Ausgang genommen hätte. Der Ruhm des Werkes und seines Gründers kreist mit den gewaltigen Verkehrsmaschinen um den Erdball. Serienweise stehen die eben fertig gewordenen Maschinen auf dem Flugplatz, um dann über der Stadt die schöngeschriebenen Kurven ihrer Probeflüge zu ziehen. Das Singen und Knattern der Motoren ist die Begleitmusik der Gegenwart dieser Stadt, und die stolzen metallenen Vögel sind hier vom Bild des Himmels so wenig wegzudenken wie nächtens die Gestirne.

Aber noch ein anderes Bild steigt bei dem Namen dieser Stadt auf. Das ist die stille Gegenwart alles dessen, was die musenfreundlichen Fürsten einst zur Mehrung deutschen Kulturgutes beigetragen haben, wenn die große Geschichte auch außer dem "Alten Dessauer" sonst keinen aus der langen Reihe der Fürsten verzeichnen mag, die hier seit 1341 residierten. Freilich ist es 1626 unter Wallenstein und 1806 unter Napoleon an der Elbbrücke heiß genug hergegangen, und als Schill hier seinen flammenden Aufruf "An meine in den Ketten eines fremden Volkes schmachtenden Brüder" drucken ließ, war die Erregung groß. Aber einmal nur tritt aus dem Schatten der Geschichte eine überragende Persönlichkeit hervor und macht die unbedeutende Residenz neben Weimar zum künstlerischen und geistigen Mittelpunkt Deutschlands. War es in Weimar Karl August mit Goethe, so hier der Herzog Leopold Friedrich Franz mit Erdmannsdorff, der die künstlerischen Pläne seines Freundes und Bauherrn verwirklichte. Als "Vater Franz" geht noch heute der Name des 1817 gestorbenen Fürsten von Mund zu Mund.

Dessau. Die Marienkirche.
[464]      Dessau. Die Marienkirche.

Aus der mittelalterlichen Epoche der damals - im Gegensatz zu Zerbst - sehr kleinen Stadt hat sich Nennenswertes kaum erhalten, und die spätgotische Hallenkirche von St. Marien stammt erst aus dem 16. Jahrhundert. Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts bestimmen Barock und Rokoko das Stadtbild, besonders in der weiträumigen Anlage des Großen Marktes vor dem Schlosse. Das schöne Dessau mit seinen weitläufigen Parks und den Schlössern darin ist erst die Schöpfung des Fürsten Franz. Aber nicht nur die Stadt allein, sondern auch ihre nähere Umgebung und alles übertreffend - Wörlitz. Wenn Reisende an ihm bewunderten, daß er das ganze Land zu einem Garten umgewandelt habe, so konnte sich der Fürst damit nicht besser verstanden wissen. Wie kein [546] anderer neben ihm hat er, dem Geist der Zeit entsprechend, Rousseaus revolutionäre Forderung "Zurück zur Natur" zu verwirklichen versucht. Nichts konnte daher seinem Wesen mehr zuwider sein als die Tändelei und Verantwortungslosigkeit des Rokoko. Wenn er seine Gärten aus der Landschaft entstehen ließ, sich ihr fügte, so war das keine fürstliche Laune oder Willkür, sondern das Bestreben, den Menschen und sein Haus wieder in unmittelbare Fühlung mit der Natur zu bringen und ihn dadurch auf sich selbst zu stellen, ihn frei und - gut zu machen. Als echtem Fürsten der Aufklärung standen ihm die landesväterlichen Pflichten obenan, in jedem Sinne und vor allem in der Kunst. So durfte im Wörlitzer Garten, von ernst ragenden Pappeln bestanden, eine Rousseau-Insel nicht fehlen. Die Inschrift auf dem Monument ist nicht nur das Programm für die Gartengestaltung, sondern der Leitsatz für den Fürsten selbst: "Dem Andenken J. J. Rousseaus...., der die Witzlinge zum gesunden Verstande, die Wollüstlinge zum wahren Genusse, die irrende Kunst zur Einfalt der Natur.... zurückverwies." Wie modern klingt das! Wenig weiter begegnet der Kahn der "Herder-Insel" als Denkmal für den deutschen Vorkämpfer für freies Menschentum. Die Vorbilder zu seinen Landschaftsgärten hat der

Wörlitz. Partie im Park.
[481]      Wörlitz. Partie im Park.
Fürst in England, dem damals modernsten Land Europas, gesehen, und in Wörlitz ist der erste Englische Garten in Deutschland entstanden, bestimmend auch für Weimar. Nicht weniger entscheidend für den Fürsten war ein längerer Aufenthalt in Italien, wo Winckelmann selbst die tiefe Begeisterung an der Antike in ihm weckte. Nur von hier aus ist es zu verstehen, wenn die Landschaft seiner ausgedehnten Gärten nun überall mit Erinnerungsmälern an das gefeierte klassische Land ausgestattet wird. Das weiße Schloß mit der großen Säulenhalle im Grün des Wörlitzer Parkes ist die meisterlichste Leistung Erdmannsdorffs und 1773 der erste rein klassizistische Bau auf deutschem Boden.

Gleichwertig neben der Verehrung der Antike steht aber die Hinneigung zum deutschen Mittelalter mit der Wiedergeburt der Gotik aus dem Geiste der Romantik. Auch hierfür fand der Fürst die Vorbilder in England. So entstehen gleichzeitig neben klassizistischen Werken in der Umgebung nicht nur neugotische Kirchen, sondern wie in der Oberförsterei Haideburg auch profane Bauten, bei denen sich die Nutzbarkeit in gotische Stilformen hüllt und mit der Ruinenschwärmerei der "empfindsamen Zeit" seltsam verbindet. Das beste Beispiel hierfür bleibt immer das "Gotische Haus" von 1786 mit seinen reichen Kunstschätzen am See vor der Koniferenwiese aus botanischen Seltenheiten. Klassik und Romantik, die stärksten Strömungen der Zeit, die sich in Goethe unversöhnlich befehdeten, hier in Wörlitz in wunderlicher Harmonie vereint zu sehen, gehört mit zu den stärksten Bildungserlebnissen, die Deutschland zu bieten vermag. Wie billig ist demgegenüber alle geistreichelnde Witzelei über das freilich oft gedrängte Vielerlei von künstlichen Felsen, Grotten und Brückchen, von Obelisken, Rotunden, Tempeln und Einsiedeleien, von Urnen, Altären und Grabmälern mit der heute nur schwer nachfühlbaren Symbolik ihrer empfindsamen Sprüche und tiefsinnigen Ermahnungen. Gewiß ist das alles zeitgebunden, aber unvergänglich bleibt mit schilfumflüsterten Seen und Teichen, mit heimlichen [547] Buchten und Kanälen unter tiefhängenden Zweigen, mit blumenüberschütteten Wiesen zwischen heiteren Wäldchen und riesigen vielfarbigen Baumgruppen, mit den beglückenden Durchblicken auf anmutige Tempel und schimmernde Schlößchen das Märchen vom Garten zu Wörlitz.

Wie ernst es der Fürst mit seinen landesväterlichen Pflichten wirklich nahm, beweist u. a. die Aufmerksamkeit, die er besonders dem Erziehungswesen widmete. Der viel umhergehetzte Basedow, der "Rousseau der Teutschen", schien ihm die geeignete Persönlichkeit zur Schulreform in seinem Lande. Unter Leitung dieses revolutionären Pädagogen wurde hier 1774 das berühmte und auch vom Ausland besuchte "Philanthropin" gegründet. Nach Stoffwahl und Art des Unterrichtes, durch das kameradschaftliche Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern, wie überhaupt den frischen Geist, der alles beseelte, glich es unseren Landerziehungsheimen und nahm damit Gedanken vorweg, die erst heute in der Breite verwirklicht werden. Zusammenfassend kann das Lebenswerk dieses großen Fürsten eines kleinen Landes nicht besser gewürdigt werden, als es die Zeit selbst getan hat, die unter seine Büste im "Monument" zu Wörlitz die Inschrift setzte: "Gott erbauete er Kirchen. Der Armut Hütten. Den Künsten und Wissenschaften würdige Tempel. Alles Schönen Freund und Kenner. Alles Guten Förderer. Seines Volkes Vater. Seines Landes zweiter Schöpfer. Dieses Gartens Gründer."

Seine Zeit ist dahin. Aus der Stadt an der Mulde ist durch die Gründung von Wallwitzhafen und Eingemeindung von Roßlau die Stadt an der Elbe mit lebhaftem Schiffahrtsverkehr geworden - und draußen in Wörlitz parken sonntags Hunderte von Berliner Wagen, die eine Welle sprudelnden Lebens auf die gemessenen Pfade der Empfindsamkeit werfen.

Trotz Junkers, Kali und Braunkohle ist das Gebiet aber auch heute noch ein echtes Bauernland geblieben, wo der stämmige Nordthüringer mit starkem niedersächsischen Einschlag den fruchtbaren Bördeboden bestellt. Seitdem von Schlesien her die Zuckerrübe eingeführt ist, hat sich die Provinz Sachsen - mit einem Drittel der deutschen Produktion - zum Hauptzuckerversorger des Reiches emporgearbeitet. Die langen Kolonnen der Rübenwagen, die ihre Ernte zu den Zuckerfabriken fahren, während die Dampfpflüge die endlosen Felderbreiten neu in schwarzglänzende Schollen legen und Fasanenvölker in die spärlichen Gehölze flüchten lassen - sind das gewohnte herbstliche Bild. Dazu gesellen sich überall eingestreute Braunkohlenschächte und Tagebaue, die die Weiterverarbeitung der Rüben au Ort und Stelle begünstigen. Auch Mommsens Wort, daß "das Schaf der Rübe nachzieht", bewahrheitet sich hier wieder. Denn tatsächlich weist Sachsen-Anhalt die stärkste Schafhaltung Deutschlands auf und bringt bei der Rohstoffknappheit das Gebiet auch als Wollversorger an führende Stelle. Schließlich reicht es im Westen in das zwischen Magdeburg und Hannover bis zum Harzrand sich ausbreitende Revier der "Salzlinien" des versunkenen Zechsteingebirges hinein, wo das erst 1856 gegründete Leopoldshall zusammen mit Staßfurt den Mittelpunkt der deutschen Kaliindustrie bildet. Ursprünglich wurden nur die gewaltigen in vielen Hunderten von Metern Mächtigkeit an- [548] stehenden Steinsalzlager ausgebeutet - die Hälfte des deutschen Salzes kommt von hier - und das darüber "hangende" Kali als Abraum auf die Halden gestürzt. Seit 1861 die erste Chlorkaliumfabrik gegründet wurde, entstand damit eine chemische Industrie, deren vielfältige Erzeugnisse heute kein technischer Betrieb mehr entbehren kann. Auch um Aschersleben herum, an den Ausläufern des Harzes, ist es das gleiche Bild: Fördertürme mit surrenden Seilscheiben, Schlote der salzverarbeitenden chemischen Werke und weißleuchtende, salzausblühende Halden, die von jedem Pflanzenwuchs gemieden werden. Die lebhafte Industriestadt mit Maschinen- und Papierfabriken war schon im Mittelalter ein wichtiger Ort als Dingstätte des Schwabengaues, und als Zeugen großer Vergangenheit blicken die Reste einer Burg auf die geräuschvolle Gegenwart - die Stammburg der Askanier.

Das natürliche Zentrum des Harzvorlandes im weitesten Sinne und des Gebietes der mittleren Elbe ist Magdeburg, mit 300 000 Einwohnern die Hauptstadt der Provinz Sachsen und Mitteldeutschlands größter Binnenschiffahrtshafen. Eine königliche Stadt, wenn sie auch nie Residenz eines regierenden Hauses gewesen ist. Königlich durch den sieghaften Aufstieg aus einem rauchenden Trümmerhaufen, in den Tillys und Pappenheims Soldateska die heldenhaft verteidigte Hochburg der Evangelischen verwandelte. Symbolhaft für Deutschlands Aufstieg aus vielen Untergängen steht der Zackenkranz der doppeltürmigen Kirchen, stehen die zahllosen Schornsteine der hämmernden Werke über dem längs des Stromes in der grünen Ebene ausgebreiteten unübersehbaren Häusermeer. So ist der Blick, wenn man von Westen, von den reichen Dörfern der Bördehöhe auf die Stadt zukommt. Hier, wo der gewachsene Felsen unmittelbar in den Strom taucht und der Besiedlung immer eine hochwasserfreie Stätte bot, wo schon seit frühesten Zeiten die Straßen des West-Ost-Verkehrs an der Elbfurt einen günstigen Übergang fanden, sicherte auch eine Burganlage Karls des Großen die östlichste Grenze des fränkischen Reiches.

Damit hebt die 1100jährige Geschichte der Stadt an, deren Wichtigkeit für die Wiederdeutschwerdung des ostelbischen Landes sie zum Lieblingskind Ottos des Großen machte. War es seinem Vater Heinrich I. gelungen, die siegreichen deutschen Waffen weit ins Slawenland hineinzutragen, so setzte nun unter dem ersten deutschen Kaiser jene großzügige und weitschauende Missionspolitik ein, die dem Kolonialgebiet mit dem Christentum die deutsche Kultur brachte. Der Ausgangspunkt hierfür war die Gründung des Moritzklosters, dessen Kirche, zum glänzenden ottonischen Dom verwandelt, 968 zur Kathedrale des Köln und Mainz im Range gleichen neuen Erzstiftes erhoben wird. Wenn auch der heutige Bau, mit 114 Metern Länge der größte Dom Mitteldeutschlands, nach dem Brande von 1207 im wesentlichen ein Werk erst des 13. Jahrhunderts ist, so bleibt er doch auf ewig dem Andenken des großen Kaisers geweiht, der hier mit seiner ersten Gemahlin Edgitha bestattet liegt.

Magdeburg. Der Dom.
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Im feierlichen Rhythmus schreiten die gewaltigen, das turmhohe Mittelschiff tragenden Pfeiler hin zum Chor, der sich mit dem umgürtenden Kapellenkranz und der wuchtigen Empore des Bischofsganges darüber, mit der bis in die Gewölbe hinaufreichenden Zone [549] der vielen Fenster zu einer riesigen Krone für den toten Kaiser aufbaut. Bei allem Reichtum der Formen im einzelnen - des Bilderbuches der Kapitelle und der vielfigurigen Versammlung der heiligen Gestalten -, bei aller Weiträumigkeit steht der Gesamteindruck des Baues unter einem tiefen wuchtenden Ernst, der auszugehen scheint von der langen Reihe der Grabmäler all der geistlichen und weltlichen Herren, die für die Geschicke der Stadt mitbestimmend gewesen sind. Da stehen als älteste die berühmten Erzplatten der heimischen Gießhütte des 12. Jahrhunderts mit den Bildern der Bischöfe Friedrich von Wettin und Wichmann, von denen die glänzendste Epoche des Magdeburger Kirchenstaates eingeleitet wird. Wichmann, der Gegenspieler Heinrichs des Löwen, aber wie er Bezwinger der Wenden mit gefürchtetem Schwert. Da steht Mauritius selbst, der ritterliche Heilige der Stadt, da stehen in der Vorhalle die klugen und törichten Jungfrauen betörenden Wuchses, deren Freude und Verzweiflung nie wieder so hinreißend dem Stein entrungen wurde. So häufen sich aus allen großen Zeiten deutscher Kunst die Beispiele bis hin zu den ruhmredigen Grabmälern des Barock und Rokoko. Dem Ernst des Inneren entspricht die Wucht des Äußeren, dessen burgähnliche Trotzigkeit von der Grenzwacht im Osten redet und ihren zwingendsten Ausdruck in der ehernen Großartigkeit der doppeltürmigen Westfront findet, die durch das Brusttuch ihres Maßwerkschleiers eher erhöht als gemildert wird. Daß man den ganzen Bau mit einem Blick und im rechten Abstand in sich aufnehmen kann, ist dem "Alten Dessauer" zu danken, der den herrlich weiten Domplatz mit den breiten Fronten der darumgelagerten Barockpaläste entstehen ließ.

Still ist es im luftigen Kreuzgang des Domes, stiller noch im Kloster Unserer lieben Frauen, dem ältesten Bauwerk Magdeburgs. Hoch steilt sich mit zwei Rundtürmen das Westwerk seiner Marienkirche über dem andrängenden Gassengewirr auf. Adlig abweisend und doch seltsam anziehend, wenn das Grauwackengestein warm unter der Sonne aufleuchtet. Im kühlgrünen romanischen Kreuzhof mit dem Rundtempel seines Brunnenhauses unter alten Bäumen scheint die Zeit stillezustehen und läßt den Geist des mächtigen ehrgeizig-fanatischen Bischofs Norbert spüren, dessen Prämonstratenser um 1200 mit diesem Kloster an der Spitze ihre missionierende und kirchenbauende Tätigkeit bis nach Riga hinauf ausdehnten.

Magdeburg. Das Reiterdenkmal (1250) auf dem alten Markt.
[483]      Magdeburg.
Das Reiterdenkmal (1250) auf dem alten Markt.
Ein Gewinkel von Gassen, Steigen und Treppen mit traulich-bilderreichen Namen wie Nadelöhr, Katzensprung, Fettehenne, Dreienbretzel, Krummer Ellenbogen, Zeisigbauer, Schilderschlippe usw. führt zum Alten Markt hinüber, wo vor dem Rathaus, im Angesicht reichgeschmückter Barockfassaden, als Rechtssymbol das Reiterstandbild eines Kaisers sich erhebt - dem Bamberger Reiter nach Art und Zeit sehr nahe. Diesen wundervoll geschlossenen Bezirk überragt das stolze Türmepaar der Johanniskirche mit ihrem riesigen steilen Dach. Am eindrucksvollsten und wohl ihrer mittelalterlichen Ansicht am nächsten zeigt sich das Bild der bürgerstolzen Stadt, die in der Hansezeit mit dem Erzbischof erbittert um ihre Rechte kämpfte, von der Stromseite aus, wo über dem Steilufer aus den Häuserzeilen die Türme der vielen Kirchen gegen den Himmel stehen. [550] Als mächtigstes Gemeinwesen im Mittelalter am Eingang zum Kolonialgebiet war sein Stadtrecht für die meisten Neugründungen des Ostens (sogar Krakau und Lemberg) noch bis zum Dreißigjährigen Kriege vorbildlich. Daß sich die Stadt in ihrem Freiheitsdrange und echtem niederdeutschen Selbstbewußtsein als erste der norddeutschen Städte der Reformation angeschlossen hatte und gegen das vom Kaiser erlassene Interim mit einer Vielzahl von Streitschriften anging, hat ihr zwar den Ehrennamen "unseres Herrgotts Kanzlei" eingetragen, sie aber auch schließlich den schwärzesten Tag ihrer Geschichte erleben lassen, jenen 10. Mai 1631, aus dessen Verwüstung tatsächlich nur der Dom unversehrt hervorging. Aber das gleiche Schicksal, das sie der unausdenkbaren Rache der Katholischen auslieferte, schenkte ihr in Otto von Guericke, der als Sohn der Stadt ihre grenzenlose Zerstörung miterlebt hatte, auch den Mann, der das Werk des Wiederaufbaues in seine Hände nehmen konnte. Aber nicht nur als Magdeburgs größter Bürgermeister ist er berühmt geworden, sondern auch als großer Physiker, der die von ihm erfundene Luftpumpe und das Experiment mit den Halbkugeln 1653 auf dem Reichstag zu Regensburg dem Kaiser vorführte. Von entscheidender Bedeutung für das Stadtbild wurde jedoch erst Fürst Leopold von Anhalt-Dessau, der von 1702-1747 Gouverneur der bereits unter dem Großen Kurfürsten gegründeten Festung war. Seiner Anregung sind die Bauten am Domplatz, die Gestaltung des Elbufers und nicht zuletzt des Breiten Weges zu verdanken. Jene repräsentativste Straße, die, dem Stromlauf sich angleichend, dem Stadtplan seine klare Ausrichtung und leichte Überschaubarkeit gibt.

Die eigentliche Hauptstraße Magdeburgs ist aber die Elbe selbst, ihr Lebensstrom seit alters her. Denn hier, wo unmittelbar unter dem Domfelsen am gefürchteten "Binger Loch" die langen Schleppzüge mit Überseegut von Hamburg unter schwarzen Rauchfahnen bergwärts keuchen und den von Böhmen und Sachsen herabkommenden begegnen, zeigt sich mit seinen großen Umschlageplätzen am Hafen Magdeburg am augenfälligsten als die mitteldeutsche Handelsstadt. Allerdings hat trotz ihrer günstigen Lage und der Unterstützung noch durch das fruchtbare, kohlen- und salzreiche Umland die 200jährige Einschließung durch Festungsmauern die Entwicklung ihrer Kräfte stark gehemmt, wozu noch der Nachteil kommt, daß die Hauptstrecke Berlin - Hannover - Köln weit nördlich über Stendal vorbeigeführt wurde. Doch die Gegenwart ist bemüht, diesen Fehler der Wirtschaftsplanung auszugleichen. Der Mittellandkanal, als fehlender Abschnitt der großen Ost-West-Wasserstraße quer durch Deutschland, berührt Magdeburg bei Rothensee. An dieser Stelle, wo der Kanal zur Elbe absteigt, überwindet das Schiffshebewerk - eine ähnliche technische Großleistung wie das von Niederfinow - den Gefälleunterschied von zehn Metern. Durch den "Südflügel" wird mit dem Schlußglied des Elster-Saale-Kanals auch Leipzig noch diesem Wasserstraßennetz angeschlossen. Schon jetzt ist am Schnittpunkt bei Rothensee, in dessen Nähe sich außerdem zwei Strecken der Reichsautobahn kreuzen, Magdeburgs neuestes Industriezentrum im Entstehen, dem im Süden die Werks-Stadt von Krupp-Gruson mit den anderen bedeutenden Firmen der Schwerindustrie entspricht.

[551] Der Raummangel der schnell anwachsenden Bevölkerung erforderte die Anlage ausgedehnter Wohnbauten. Draußen in der Großsiedlung Wilhelmsstadt, wo die vielen lichten Zeilen durchsonnter Häuserreihen, zu klaren geometrischen Figuren vereint, ins frische Grün der Rasenflächen gezeichnet sind, spricht sich der Bauwille der Gegenwart am selbstverständlichsten aus. Im Reichspostgebäude und der Stadthalle im Rotehornpark erhebt er sich zu monumentaler Größe, die neuen Erfordernissen sich fügend, dem Wahrzeichen der Stadt, dem 700jährigen Dom, dennoch zeitlos verwandt ist.

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Das Buch der deutschen Heimat
Hermann Goern, Georg Hoeltje, Eberhard Lutze und Max Wocke