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V. Die volkspolitischen Auswirkungen im Sudetendeutschtum

1. Allgemeine Übersicht   (Forts.)

a) Verarmung

Ein schöner Erfolg des Fleißes und der Sparsamkeit der sudetendeutschen Bevölkerung, aber auch ein Beweis ihrer Genügsamkeit ist die Tatsache, daß die Einlagen in den deutschen Volksgeldanstalten 1931 über 9 Milliarden Kronen erreichten, womit sie in Gold- und Vorkriegsnoten umgerechnet 88 bis 90% der Friedenseinlagen erreichten. Krieg, Kriegsanleihe und Kronenentwertung waren überwunden und der durch die geschilderte Wirtschaftspolitik bedingte Verdienstentfall durch eine gesteigerte Sparsamkeit wettgemacht. Wenn es 1931 dennoch zum Zusammenbruch einiger deutscher Geldanstalten kam, so der Leitmeritzer Volksbank, der deutschen Bank in Reichenberg, und zum Moratorium der Kaadner Sparkasse, dann zeigten sich darin die ersten Rückwirkungen der hereinbrechenden Krise, auch wenn man der Leitung dieser Institute eine gewisse Schuld an dem Zusammenbruch zuspricht.

1932 begann der Rückschlag. Er kam, wie der Prager Börsenkurier feststellt, von der Währungsseite. Nervosität gegenüber der Währung verursachte vor allem eine starke Bautätigkeit, die Geldabfluß kostete. Die Unruhe steigerte sich aber von seiten der im Jahre 1931 von der Bankenseite her zugewachsenen [293] Einlagen. Diese Einlagen waren keine Spareinlagen, es war spekulatives, unsicheres Wanderkapital, das sich sofort, als sich die erste Besorgnis aus der Bankensanierung legte, wieder neuen lukrativeren Anlagen zuwandte. Das dritte und nachhaltigste Moment, das wirkte und noch heute wirkt, ist die fürchterliche Krise, die über Großindustrie, Großbanken, über mittlere und kleine Industrie, Handel und Gewerbe kam. So darf es nicht wundernehmen, daß Einlagen abwanderten. Obwohl 1932 vereinzelt recht hohe Ansprüche an Anstalten gestellt waren, haben 1932 die Sparkassen ganz und die Kreditgenossenschaften zum weitaus überwiegenden Teil diese erste Probe ihrer Liquidität gut bestanden. Zu Beginn des Jahres 1933 zeigen sich bei manchen Kreditgenossenschaften (Reichenberg - Gablonzer Gebiet) besondere Anspannungen, die zum Teil durch die unerledigte Angelegenheit Deutsche Volksbank Leitmeritz, in weiterer Folge durch den Schalterschluß zweier privater Geldanstalten (Bankhaus Massopust und der Friedländer Bankgesellschaft) ausgelöst wurden, und im Februar-März zum Schalterschluß der Haus- und Grundbesitzerkasse in Reichenberg und der gegenseitigen Spar- und Vorschußkasse in Gablonz führten. Als dann noch der Schalterschluß der Centralbank der deutschen Sparkassen dazukam, wurde die Krise der Volksgeldanstalten akut.

Wesentlich kritischer verlief (aus den gleichen Gründen) das Jahr 1933 für die Kreditgenossenschaften, die Vorschußkassen, obwohl auch diese Kassen geradezu Erstaunliches geleistet haben.

Und haben auch manche Vorschußkassen ihre Schalter geschlossen, so muß festgestellt werden, daß, von einigen Ausnahmen abgesehen, der Großteil es tat, nachdem er 25 bis 30 und 40 Prozent seiner Einlagen zurückgezahlt hatte.

Die Endbilanz 1933 spiegelt die Krise deutlich wider. Für die Sparkassen ergab sich ein reiner Kapitalrückgang um zirka 12,5 Prozent, unter Hinzurechnung der kapitalisierten Zinsen um 9,3 Prozent. Drei Sparkassen, Eger, Karlsbad und Fischern, waren gezwungen, zur Beschränkung der Auszahlungen zu greifen. Alle anderen Kassen hatten standgehalten und ihre innere Kraft bewährt.

Bei den Kreditgenossenschaften dürften sich die Rückgänge der Einlagen ungefähr in gleicher Höhe bewegen. Eine Reihe von Vorschußkassen blieb in der Form von Stillhalteabkommen, Auszahlungsbeschränkungen und offiziellen Moratorien auf der Strecke.

1934 und 1935 hat sich die Lage nicht geändert, nur holt man nicht mehr aus Angst und Nervosität seine Einlagen, sondern weil man sie wirklich braucht.112

[294] Die tiefgehende Verarmung der breiten sudetendeutschen Bevölkerungsschicht spiegelt die Bewegung der Spareinlagen.

Im Jahre 1934 verteilte sich das Sparkapital
bis 3000 Kč pro Kopf eines Erwerbstätigen
auf 62 deutsche Bezirke,
40 tschechische Bezirke,

102 Bezirke,

das Sparkapital von
mehr als 8000 Kč pro Kopf eines Erwerbstätigen
auf 28 deutsche Bezirke,
90 tschechische Bezirke,
118 Bezirke.

Allein in Böhmen, dem reichsten und wirtschaftlichsten Lande, ergibt sich folgende Übersicht:

Gesamter Kapitalstand             36,8 Milliarden.

Davon entfallen auf die

2,5 Millionen Deutschen d. s. 36,3 %  . . . . .  9.420 Millionen d. s. 25,6 %
4,5 " Tschechen d. s. 63,7 %  . . . . .  27.380 " d. s. 74,4 %
pro Kopf der deutschen Bevölkerung demnach  . . . . .  3.310 Kronen
pro Kopf der tschechischen Bevölkerung  . . . . .  6.140 "

In der Vorkriegszeit war es annähernd umgekehrt.

Obzwar in den deutschen Bezirken Böhmens nur ein Viertel des gesamten Sparkapitals des Landes angesammelt ist, entfallen auf sie von dem Rückgang 1009 Millionen, auf die tschechischen Bezirke hingegen nur 762 Millionen. In Prozenten betrug der Spareinlagenrückgang der beiden letzten Jahre in den deutschen Bezirken 10,4, in den tschechischen hingegen nur 2,6. Verhältnismäßig am größten war der Spareinlagenrückgang in dem durch die Verlegung der Rothauer Eisenwerke noch ärmer gewordenen politischen Bezirk Neudek, wo die Spareinlagen um 25 v. H. bezw. um 21,8 Mill. auf 662 Mill. zurückgingen. Große Rückgänge ergaben sich auch in den Bezirken Schluckenau mit 20 v. H., Trautenau 16, Karlsbad 18, Rumburg 15, Leitmeritz, B.-Leipa, St. Joachimsthal, Friedland mit je 15, Gablonz 18 usw. In Gablonz betrug der Einlagenrückgang der letzten zwei Jahre 125,5 Mill Kc bei einem Stande von 675,6 Millionen im Jahre 1931, d. i. mehr als in Prag, wo bei einem fast zwanzigfachen Einlagenstande von 10.812,2 Millionen der Rückgang nur 114 Millionen, also ungefähr 1 v. H., betrug. Ebenso wie in Prag waren auch in den meisten anderen tschechischen Bezirken die Einlagenrückstände verhältnismäßig gering und jedenfalls erreichen sie nirgends so hohe Ziffern wie in den deutschen Gegenden, wo in fünf politischen Bezirken die Spareinlagen im Jahre 1933 unter den Stand von 1927 zurückgefallen waren, und zwar Podersam, Saaz, [295] Kaaden, Leitmeritz und Schluckenau. So wies z. B. der politische Bezirk Schluckenau 1928 449,1 Millionen Spareinlagen aus, 1933 aber nur noch 151,9. Einige Bezirke Böhmens konnten trotz der Krise das Sparkapital vermehren. Es gilt dies von den politischen Bezirken B.-Brod, Humpolee, Eule bei Prag, Melnik, Rican und Asch, letzterer ein weißer Rabe unter den deutschen Bezirken des Landes. In den tschechischen Gegenden verfügen auch die nicht durch besonderen Industriefleiß oder durch außerordentlich günstige Bodenbeschaffung ausgezeichneten Bezirke über reichliche Sparkapitalien. So sind z. B. selbst die Bezirke Milevsko, Sedlcan, Tabor, Strakonitz usw. verhältnismäßig reicher an Spareinlagen als Teplitz-Schönau oder Aussig und die meisten deutschen Bezirke überhaupt. Die an Spareinlagen reichsten Bezirke Böhmens mit einer Quote von über 13.000 Kc pro Erwerbstätigen waren im Jahre 1930: Prag mit 20.026 Kc, Königgrätz, Kolin, Nachod und Tabor mit 14.000 bis 15.000 Kc und Pisek, Nimburg, Podebrad, Sobieslau, Eger, Gablonz, Marienbad und Reichenberg mit 13.000 bis 14.000 Kc.

Eine andere Übersicht über den Rückgang der Spareinlagen und damit des Volksvermögens zeigt folgendes Bild von 102 Bezirken.

Einlagen-
stand
Ende 1931
in Mill.

 Ende 1933 
 Rück- 
gang
%
Arbeits-
losigkeit
in %
29 deutsche Bezirke (tschech. Minderheit unter 20%) 6.900,3 6.093,3 11,7   24,7
11 gemischtsprachige Bezirke mit deutscher Mehrheit 3.418,6 3.140,9 8,1 18,2
10 gemischtsprachige Bezirke mit tschech. Mehrheit 2.306,2 2.192,1 4,9 12,4
52 tschechische Bezirke (deutsche Minderheit unt. 20%) 15.095,1  14.557,6  3,6   9,9

Die Verteilung des Sparkapitals in der Tschechoslowakei war folgende:

    Böhmen 36,8 Milliarden; für Erwerbstätigen Kopfquote 10.332 Kč
    Mähren-Schlesien 10,9       "  "             "                   " 6.914 Kč
    Slowakei 33,8       "  "             "                   " 3.766 Kč
    Karpathenrußland       0,2965 "  "             "                   " 1.678 Kč

    81,8 Milliarden.

Dabei ist die Zahl der Erwerbstätigen mit 6,537.303 und die durchschnittliche Spareinlage mit 8.043 als Grundlage der Berechnung angenommen.113

Gegenüber 1932 beträgt der Rückgang 3,2 Milliarden.

Seit dem Jahre 1929 ist das Nationaleinkommen in der Tschechoslowakei von 90 Milliarden auf 47 Milliarden herabgesunken. Da nun die Spareinlagen bei den Sudetendeutschen bedeutend stärker zurückgegangen sind, so beweist das abermals, daß von dem Rückgang des Nationaleinkommens in der Tschechoslowakei [296] um 43 Milliarden in erster Linie das Sudetendeutschtum betroffen ist, das bereits die Spareinlagen zur Existenzerhaltung überhaupt heranziehen muß.114



b) Wohnungselend und Volksgesundheit

Die seit Jahren ruhende Bautätigkeit hat zu einer geradezu katastrophalen Verelendung der Wohnverhältnisse geführt. Minister Necas hat in einer Sitzung des spezialpolitischen Ausschusses im November 1935 ein Bild von den Wohnungsverhältnissen entworfen, wie es drastischer nicht mehr gezeichnet werden kann.

[297=Fotos] [298] "Infolge der Krise", so sagt der Minister, "schränken immer weitere Kreise ihre Wohnungsbedürfnisse ein, so daß an größeren Wohnungen ein Überangebot besteht, während die Nachfrage nach Kleinstwohnungen, d. h. nach billigsten Wohnungen, sich ständig erhöht. Gegenüber dem Jahre 1932 sind in der zweiten Hälfte 1934 die Baukosten um etwa 30 Prozent gesunken. Trotzdem beträgt die Miete eines Wohnraumes in einem Neubau noch 1.500 bis 1.700 Kc (150 bis 170 RM) jährlich.

Fast die Hälfte unserer Bevölkerung hat aber ein Einkommen unter dem Existenzminimum von 6.000 Kc (600 RM). Das bedeutet,
Hier wohnen Menschen!

[297]
      Hier wohnen Menschen! Riesengroß müßten diese Worte über dem Eingang dieser "Wohnung" stehen, um das ungeheure Verbrechen der tschechischen Bürokratie aufzuzeigen. Der Staat, der mit Überlegung auf die Vernichtung hunderttausender Menschen hinarbeitet, nur weil diese einem anderen Volke angehören, hat das Recht verwirkt Kulturstaat genannt zu werden.

Unerschwingliche Notbehausung...

[297]
      Selbst aus dieser Notbehausung muß der Arbeitslose mit seiner Familie weichen, da er 5 Kronen Mietzins nicht aufbringen kann.
daß für diese Hälfte der Bevölkerung der Mietzins in einem Neubau unerschwinglich ist, denn er würde bei einer Wohnküche mehr als 30 und bei zwei Räumen bis zu 60 Prozent des Durchschnittseinkommens ausmachen! Darin liegt die Hauptursache des Rückganges der privaten Bautätigkeit. Eine durchgreifende Besserung ist nicht zu erwarten, solange nicht in den Gehalts- und Lohnverhältnissen eine Besserung eintritt.

Die Unterstützung von Wohnungsbauten mit einem Wohnraum bedeute zwar in der Wohnungskultur einen Schritt zurück, aber es ist doch besser, die arme Bevölkerung in solchen Wohnungen unterzubringen als zuzulassen, daß die Ärmsten gezwungen sind, Notwohnungen in Felshöhlen oder Ziegeleien zu suchen, oder sie weiter in ungesunden Kellerwohnungen zu belassen.

Die Zahlen, die das Fürsorgeministerium aus einigen größeren Städten gesammelt hat, geben ein Bild direkt erschütternder Not und legen Zeugnis ab für die ständig fortschreitende Verarmung ganzer Bevölkerungsklassen. Zur Illustration mögen einige Ziffern dienen:

In Notwohnungen (Waggons, Magazinen, Baracken usw.) wohnen derzeit nach den Berichten aus 57 größeren Orten 5.298 Familien mit 21.080 Familienmitgliedern.

Aus dem deutschen Gebiet führt der Minister an, ohne natürlich anzugeben, daß auch von den nicht genannten 53 Orten die meisten im sudetendeutschen Gebiet liegen:

    Komotau: 61 Familien mit 254 Köpfen,
    Brüx: 82 Familien mit 307 Köpfen,
    Aussig: 102 Familien mit 365 Köpfen,
    Saaz: 270 Familien mit 1300 Köpfen,
    Iglau: 124 Familien mit 466 Köpfen,
    Znaim: 104 Familien mit 445 Köpfen.



An die Spitze der Betrachtungen über die Auswirkung der tschechischen Wirtschaftspolitik auf die Volksgesundheit sei ein Bericht eines sozialdemokratischen [299] Arztes gestellt, der in seiner Art eine furchtbare Anklage der Prager Regierung darstellt und dem man schwerlich eine "nationalistische" Tendenz bei seinen Ausführungen wird unterschieben können. Der Arzt schreibt u. a:

      "Im Gegensatz zu anderen Ländern werden der breiten Öffentlichkeit Erfahrungen über die Auswirkungen der Krise auf die Volksgesundheit von Ärzten der Sozialversicherungsanstalten nur selten berichtet. Es hängt dies vielleicht zum großen Teil damit zusammen, daß bis heute eine geregelte ärztliche Versorgung der Arbeitslosen nicht vorhanden ist. Die in der amtsärztlichen Praxis in den Krankenkassen faßbaren Folgen der Krise auf die Volksgesundheit können sich daher nur auf die arbeitenden Menschen und ihre mitversicherten Familienangehörigen beziehen. Daß aber auch hier schon Folgen festzustellen sind, soll an zwei Beispielen aus einem nordwestböhmischen Gebiete gezeigt werden.
      In der Weihnachts- und Neujahrswoche wurden in diesem Bezirk einige Betriebe während der Feiertage stillgelegt. In diesen Tagen meldeten sich in der zuständigen Bezirkskrankenkasse eine größere Anzahl von Erwerbstätigen zur Untersuchung. Es waren zumeist langjährig arbeitende Menschen, die sich schon lange Zeit mit einem Leiden trugen und aus Angst, ihren Arbeitsplatz zu verlieren, die arbeitsfreien Tage benutzten, um etwas für ihren Körper zu tun.
      Unter diesen waren schwer Lungenkranke, Magenkrebskranke und Leute mit schwerem Magengeschwür. Der Befund bei diesen Kranken war so schwerwiegend, daß man sich als Arzt wundern mußte, daß solche Menschen ihrer Arbeit noch nachgehen konnten. Auf Befragen, weshalb sich die Kranken nicht eher zur Untersuchung gemeldet haben, teilten diese dem Arzt mit, daß man als einziger Verdiener einer großen Familie nicht wagen könne, längere Zeit im Krankenstand zu bleiben, weil man einerseits vom Krankengeld eine Familie mit einigen erwerbslosen Erwachsenen nicht ernähren könne und es andererseits bei den heutigen Arbeitsverhältnissen leicht möglich sei, daß bei längerem Fernbleiben von der Arbeit ein anderer für den Kranken eingestellt wird.
      Bemerkenswert ist, daß es sich in diesen Fällen meist um Arbeiter von großen Betrieben handelt. Ganz im Gegensatz zu früher vergeht fast keine Woche, in der man nicht einige Fälle von schwerer Lungentuberkulose bei kleinen Kindern und Säuglingen bei der Röntgenuntersuchung zu sehen bekommt, und dies zwar bei Kindern erwerbstätiger Arbeiter. Sicherlich sind es zum größten Teil Nachzustände von Infektionskrankheiten, wie Masern, Keuchhusten, doch auch diese Kinder sind Opfer der Krise. Wenn man sich über die Wohnungsverhältnisse, über die Zahl der vom Erwerb eines Menschen lebenden Familienmitglieder erkundigt, erfährt man die trostlose Lage der arbeitenden Menschen. Und dabei sind diese Menschen immer noch besser daran als jene, die arbeitslos sind und von keiner ärztlichen Untersuchung erfaßt werden. Bei dieser Betrachtung [300] ist es aber auch notwendig, darauf hinzuweisen, daß wir nur zwei Anstalten für lungentuberkulose Kinder besitzen und daß die Aufnahme in diese Anstalten erst nach Monaten und da zumeist schon zu spät gelingt. Einige allgemein-öffentliche Krankenhäuser besitzen zwar Kinderabteilungen, doch stehen diese Kinderabteilungen zumeist ohne lungen- und kinderfachärztliche Beratung."115

Am Ende des Schuljahres 1933/34 - also anfangs Juli - wurde von den amtlichen Berufsberatungsstellen der Deutschen Jugendfürsorge eine ärztliche Untersuchung der schulentlassenen und stellungsuchenden sudetendeutschen Jugend angestellt, die nachstehendes erschütterndes Ergebnis hatte:

    Tuberkuloseerkrankungen 25 %
    Herzerkrankungen 13 %
    Augenkrankheiten 21 %
    Schwermütigkeit und Selbstmordabsichten   10 %

    69 %

Vier Fünftel der grenzdeutschen Jugend sind körperlich und seelisch krank.

Diese Tatsache wird durch einen Bericht des Abgeordneten und Vizepräsidenten des tschechoslowakischen Abgeordnetenhauses Siegfried Taub im sozialpolitischen Ausschusse Ende November 1934 nachdrücklichst unterstrichen.

Der Abgeordnete führte aus:

      "Die Erhebungen, die ich nach dieser Richtung hin angestellt habe, haben ein Bild zutage gefördert, das geradezu als erschreckend bezeichnet werden muß. Vor allem muß es daher unsere Pflicht sein, dafür zu sorgen, daß unsere Kinder gespeist und bekleidet werden. Ich möchte Ihnen aus der Fülle des Materials, das mir zur Verfügung steht, nur einiges anführen:
      So wird mir aus dem Dux-Biliner Bezirk gemeldet:
      Die Wirtschaftskrise macht sich besonders bei dem Gesundheitszustande der proletarischen Bevölkerung in ganz erschreckender Weise bemerkbar. Die Unterernährung der arbeitenden und arbeitslosen Proletarier ist jedem Laien in die Augen springend, der aus anderen Bezirken in den Dux-Biliner kommt. Die Zahl der Arbeitslosen ist höher als die der Versicherten der Krankenkassen, die zusammen 7.500 Versicherte haben, von denen die größte Zahl Kurzarbeiter sind.
      Die Folgen dieser Unterernährung sind das gehäufte Auftreten der Tuberkulose und der Rachitis. Wenn sich auch die Jugendfürsorge, die Masarykliga, die Krankenkassen und verschiedene andere Organisationen bemühen, hier helfend einzugreifen, so sind deren Erfolge infolge der großen Zahl der Hilfsbedürftigen und der geringen zur Verfügung stehenden Mittel nur gering.
[301]      Während früher Erkältungskrankheiten, Influenzen oder sonstige geringfügige Erkrankungen in wenigen Tagen geheilt waren, so haben diese Krankheiten infolge der geschwächten Widerstandskraft der Befallenen eine viel längere Dauer und sind häufig verbunden mit dem Aufflackern von bereits zum Stillstand gekommenen Tuberkulosen.
      Die Folgen der Krise sind besonders bei den Schulkindern auffällig, wo ein noch viel größerer Schaden entsteht als bei den Erwachsenen. Die Infektionskrankheiten (Diphtherie, Scharlach) sind in unserem Bezirke schon durch fünf Jahre epidemisch geworden. Infolge Mangel an Kleidung sind Erkältungserkrankungen an der Tagesordnung und führen infolge der Unterernährung zu oft schwierigen Komplikationen und dauernden Schädigungen.
      Mehr als 70 Prozent der Schulkinder sind blutarm und unterernährt; ihr Körper ist den an sie gestellten Anforderungen nicht gewachsen. Die Kinder kommen ohne Frühstück in die Schule und Ohnmachtsanfälle kommen fast täglich in den Schulklassen vor.
Kindermord im Herzen Europas!

[301]
      Kindermord im Herzen Europas!
Rachitisch mit aufgedunsenem Bauch, so werden die Kinder in die Spitäler eingeliefert. Jede Hilfe kommt zu spät.
      Was die kleinen Kinder betrifft, so sind vor allem diejenigen bedroht, welche infolge Unterernährung von den Müttern nur kurze Zeit gestillt werden können und wo dann die Mittel fehlen, um künstliche Nährmittel zu beschaffen. Deshalb sehen wir die Zahl der Todesfälle an Fraisen und Darmkatarrh in den letzten Jahren bei Kleinkindern besonders steigen. Durch die Unterernährung wird die Knochenbildung verzögert, die Zuführung von kalkhaltigen Nährmitteln fehlt, und die Folge sind dann rachitische Veränderungen des Skeletts, die man [302] seit der Hungersnot des Weltkrieges schon ausgerottet glaubte, die jetzt aber wieder viel häufiger zu sehen sind. Diese Schwächung des kindlichen Organismus durch ungenügende Ernährung ermöglicht auch der Tuberkulose eine vermehrte Ausbreitung, deren Folgen sich erst im späteren Alter der Kinder zeigen werden.
      Wie schwer der Gesundheitszustand der arbeitslosen Bevölkerung durch Krise und Unterernährung geschädigt ist, beweisen die Ausgaben der Arbeitslosen-Heilfürsorge, welche monatlich nur für Medikamente über 5000 Kc betragen. Infolge dieser hohen Ausgaben war dieses Hilfswerk schon mehrmals in seiner Existenz bedroht. Es muß getrachtet werden, daß dieser so segensreichen Hilfsaktion die notwendigen Mittel zu ihrer Fortführung zur Verfügung gestellt werden. Ebenso muß für die Kinder genügend Milch zur Verfügung sein, da die Arbeitslosen nicht imstande sind, die Kosten hiefür aufzubringen. Dasselbe gilt in der Frage der Bekleidung; auch hier sind weitgehende Hilfsmaßnahmen angezeigt.
      Aus einem schulärztlichen Bericht, der mir aus Schönlinde zugegangen ist, entnehme ich folgende Daten:
      In den ersten Klassen wurden 34 Knaben und 41 Mädchen untersucht. Bei diesen wurden festgestellt: Blutarmut in 20 Fällen, Reste von Rachitis in 13 Fällen, Drüsen in 43 Fällen, Zahnfäule in 38 Fällen. In den fünften Klassen wurde bei 64 Knaben und 50 Mädchen festgestellt: Blutarmut in 36 Fällen, Rachitis in 39 Fällen, Drüsen in 83 Fällen, Zahnfäule in 61 Fällen, Blähhals in 76 Fällen.
      Aus Eger wird mir mitgeteilt:
      Nach einem Bericht des Sanitätsrats Dr. Wilhelm Thieben sind in der Mutterberatungsstelle 70 Prozent der Säuglinge unterernährt. Nach dem schulärztlichen Bericht sind von 2643 untersuchten Kindern 85 Prozent unter dem Normalgewicht!
      Ein ganz besonders erschütternder Bericht geht mir von der Tagesheimstätte für erwerbslose Jugend in Karlsbad zu:
      In der Tagesheimstätte für erwerbslose Jugendliche sind 50 junge Burschen im Alter von 15 bis 20 Jahren untergebracht. Von den 50 Jugendlichen haben 26 einen Beruf erlernt, 21 davon mußten die Lehrzeit wegen Arbeitsmangels unterbrechen. Fünf Jugendliche haben ausgelernt und sind mit dem Tage der Freisprechung arbeitslos. In 20 Fällen ist der Vater verstorben, in acht Fällen die Mutter. In acht Fällen steht der Vater als Kurzarbeiter in Beschäftigung, in allen übrigen Fällen ist der Vater gänzlich erwerbslos. Die Mutter ist in 13 Fällen als Kurzarbeiterin beschäftigt.
      Die Wohnverhältnisse sind sehr schlecht. 20 Familien bewohnen zwei Räume, 30 Familien einen Raum. Von den 50 Jugendlichen haben elf das eigene Bett, die übrigen müssen das Nachtlager mit Familienangehörigen teilen.
[303]      Der ärztliche Befund lautet bei 13 Jugendlichen auf »ohne Besonderheiten«, bei allen übrigen sind besondere Mängel festzustellen. Drei Jugendliche benötigen dringend den Aufenthalt in der Lungenheilanstalt. Ein Jugendlicher ist im Vergleich zu Größe und Alter um 15 Kilogramm zu leicht. Die jungen Burschen kommen aus starken Familien, die bis zu 12 Köpfen zählen.
      Nach einem Bericht des Herrn Dozenten Dr. Slavik, des leitenden Arztes des Kindererholungsheimes in Dittersbach, sind für das Jahr 1933/34, das sind sechs Belegsperioden mit 554 Kindern, folgende Feststellungen gemacht worden:
      Blutarmut in 122 Fällen, Drüsen in 29 Fällen. Und es wird in diesem Bericht festgestellt, daß die Zahl der wegen Blutarmut eingewiesenen Kinder gegen das Vorjahr fast gleich ist, die der Blutarmut und Körperschäden bezeichneten dagegen um 5 Prozent höher.
      Im Sammelbericht der Schulärzte im Bezirke Tetschen seien noch folgende Daten angeführt:
      Es wurden 3879 Knaben und 4042 Mädchen untersucht. Bei 36 Prozent Knaben wurde Blutarmut, bei 1,1 Prozent Rachitis, bei 10 Prozent Tuberkulose, bei 4 Prozent Skrofulose und bei 15,1 Prozent Drüsen festgestellt. Bei den Mädchen war das Verhältnis: 34,5 Prozent Blutarmut, 0,8 Prozent Rachitis, 11 Prozent Tuberkulose, 5 Prozent Skrofulose, 11 Prozent Drüsen.
      Im Bezirk Bensen wurden 1502 Knaben und 1434 Mädchen untersucht.
      Hier wurde festgestellt bei Knaben: 30,3 Prozent Blutarmut, 0,5 Prozent Rachitis, 1 Prozent Tuberkulose, 1 Prozent Skrofulose, 16,5 Prozent Drüsen. Bei Mädchen: 29,4 Prozent Blutarmut, 1,2 Prozent Rachitis, 1 Prozent Tuberkulose, 2 Prozent Skrofulose, 11,5 Prozent Drüsen.
      Im Bezirk Böhm.-Kamnitz wurden 1610 Knaben und 1566 Mädchen untersucht.
Kranke unterernährte Kinder.

[304]
      Kranke unterernährte Kinder, fiebernd und verschwollen, wie sie heute bei den arbeitslosen Familien überall zu finden sind. Als Sudetendeutsche im Reiche 1936 Kinder aus der Heimat über den Sommer zur Erholung nach Sachsen bringen wollten, verbot die tschechische Regierung die Ausreise.
      Das Bild stellt sich wie folgt dar: Bei Knaben: 20,6 Prozent Blutarmut, 10,9 Prozent Rachitis, 5 Prozent Tuberkulose, 7 Prozent Skrofulose, 18,2 Prozent Drüsen. Bei Mädchen: 25,1 Prozent Blutarmut, 7 Prozent Rachitis, 4 Prozent Tuberkulose, 7 Prozent Skrofulose, 16,3 Prozent Drüsen."

So weit der Bericht des sozialdemokratischen Abgeordneten, für den und für dessen Kolleginnen, deren Berichte im nachfolgenden wiedergegeben seien, das gleiche gilt, was wir eingangs zu dem Bericht des sozialdemokratischen Arztes gesagt haben.

Die Abg. Irene Kirpal schildert in einer Parlamentsrede anfangs Dezember 1934 die Not der sudetendeutschen Industriegebiete, in denen zum Teil fast jede Erwerbstätigkeit zum Stillstand gekommen ist, u. a. wie folgt:

      "Unter dieser Erscheinung leiden besonders stark die Schulkinder, und es müssen Vorsorgen getroffen werden, damit die Schuljugend nicht mehr hungere und friere. Es sind [304] rund 300.000 Schulkinder der Erwerbslosen der größten Entbehrung ausgesetzt. Das sind oft keine Kinder mehr, das sind lebende Leichname, die in den Elendsgebieten verwahrlost und verhungert früh in die Schule schleichen! Oft werden diese Kinder in der Schule ohnmächtig. Hier müßte der tschechoslowakische Staat endlich eingreifen und überall Schulküchen einrichten und eine umfangreiche Ernährungsaktion durchführen!"

Das gleiche erklärt die Abg. Schack aus ihrem westböhmischen Wahlkreis:

Bei Besprechung der furchtbaren Folgen der Krise für die Kinder der Arbeitslosen führt Rednerin ein Rundschreiben der Egerer Mutterberatungsstelle an, in welchem festgestellt wird, daß 70 Prozent der Säuglinge unterernährt sind und keine warme Kleidung haben, während 15 Prozent direkt rachitisch sind. Wie das Volk draußen lebt, darüber können die Pflegeschwestern Auskunft geben: Bei den Hausbesuchen finden sie die Kinder oft zu dritt und zu viert in einem Bett, das nurmehr aus armseligen Lumpen besteht.

Die größeren Kinder kommen oft ohne Frühstück und mangelhaft gekleidet zur Schule, und die Lehrer beklagen sich, daß die Kinder während des Unterrichtes vor Schwäche einschlafen oder ohnmächtig werden. Für diese armen Kinder muß bald ausgiebige Hilfe geschaffen werden, denn in den unterernährten Kindern dieser Arbeiter und Arbeitslosen ist die künftige Generation des Sudetendeutschtums auf das schrecklichste bedroht, wenn nicht in letzter Stunde ausreichende und dauernde Hilfe gebracht wird!

So schildern Regierungsabgeordnete die sudetendeutsche Jugendnot!

Im Gesundheitsausschuß des Abgeordnetenhauses erstattete am 28. November 1935 Dr. Czech (deutscher Sozialdemokrat) einen Bericht über die Auf- [305] gaben seines Gesundheitsministeriums. Dabei kam er auch auf das Kinderelend in den sudetendeutschen Gebieten zu sprechen. Er führte u. a. aus:

      "Wie sehr es notwendig ist, die Krisenauswirkungen in den von der Arbeitslosigkeit am härtesten heimgesuchten Gebieten zu ermitteln und damit nicht nur der schweren Bedrohung der Gesundheit der Bevölkerung dieser Gebiete, sondern darüber hinaus auch der Nachbargebiete zu steuern, zeigen die Ergebnisse einer [306] Erhebung, die das Gesundheitsministerium in den von ihm in 78 Bezirken ins Leben gerufenen halbamtlichen Beratungsstellen »Unser Kind« vor ganz kurzer Zeit durchführen ließ, um für die von ihm geplante Kinderhilfsaktion greifbare Unterlagen zu erhalten. Die Ergebnisse dieser Erhebung sind geradezu aufregend. Doch es ist am besten, wenn wir sie - vorläufig ohne jeden Kommentar - für sich selbst sprechen lassen, wobei wir natürlich nur einzelne markante Beispiele herausheben wollen.
      So hat die Brüxer Beratungsstelle festgestellt, daß im ersten Vierteljahr des Jahres 1935 gegenüber dem gleichen Zeitabschnitt des Jahres 1934 die Zahl der mit Affektion der Lymphdrüsen behafteten Kinder um 36 Prozent, die Zahl der tuberkulösen Kinder um 42 Prozent und die Zahl der rachitischen Kinder um 200 Prozent - wohlgemerkt, innerhalb eines Jahres! - zugenommen hat.
      In Schüttenhofen wurde im Jahre 1935 gegenüber dem gleichen Zeitabschnitt des vorangegangenen Jahres eine Zunahme der Rachitis um 100 Prozent, eine Zunahme der Kinder mit schadhaftem Gebiß um 63 Prozent festgestellt.
      In Teplitz-Schönau ergaben sich bei der gleichen Erhebung bei 40 Prozent der Kinder Erscheinungen der Rachitis.
      In Asch wurde gegenüber dem Vorjahre ein rapider Aufstieg der Blutarmut und eine Zunahme von schadhaftem Gebiß als Folge der Unterernährung um 39 Prozent festgestellt.
      Einige Daten aus dem Berichte des Chefarztes des vom Bezirk Tetschen errichteten Kindererholungsheimes in Dittersbach:
      Danach waren 80 Prozent der dort aufgenommenen Kinder untergewichtig und dadurch in ihrer Entwicklung gehemmt, geschwächt oder sonst gestört. Die Zahl der Kinder mit Verbildungen im Knochensystem infolge der durchgemachten Englischen Krankheit betrug 50 Prozent. Bei 48 bis 65 Prozent fand man Wucherungen im Nasen- oder Rachenraum infolge quantitativ und qualitativ ungenügender Ernährung und unhygienischer Lebensweise, infolge Wohnungselends, ungenügender Bekleidung und Beheizung. 24 - 29 Prozent der Kinder waren engbrüstig, 34,5 bis 40 Prozent haben eine schiefe Körperhaltung mit einer mehr oder weniger hochgradigen Wirbelsäulenverkrümmung. 26 bis 34 Prozent haben neurotische Symptome als Ausdruck der allgemeinen Neuropathie. Dabei wird nur so nebenbei erwähnt, daß bei jedem Antransport von 100 Kindern 10 - 15 verlaust waren und ein Teil der Kinder in fadenscheinigen, geflickten und zerrissenen Kleidern, die vielfach bereits auseinanderzufallen drohten, ins Heim gebracht wurde.
[307]      Ich beschränke mich auf diese Feststellungen hinsichtlich der Verelendung der Kinder. Ich kann aber auch nicht umhin, auf die traurige Lage der Frauen und stillenden Mütter in den von der Arbeitslosigkeit heimgesuchten Familien zu verweisen, und kann auch an der Tatsache nicht vorübergehen, daß die gesundheitlichen Verhältnisse der Arbeitslosen, deren Zahl Ende Oktober des Jahres, also noch in der Saisonzeit, die Höhe von 602.755 erreichte, geradezu niederdrückend sind. Welche gesundheitlichen Gefahren die Entbehrungen und die Erschöpfung des Organismus mit sich zu bringen vermögen, darüber gibt uns ein Bericht des Semiler Krankenhausarztes Dr. Vintrich ein geradezu erschütterndes Bild. In der Zeitschrift Praktischer Arzt erzählt er über den Notstand der Kinder in den Gebirgsgegenden und verweist auf die »vollständige Wehrlosigkeit des Organismus infolge andauernden Hungerns und Unterernährung«. Zum Schluß sagt er wörtlich:
      »Der Organismus gewisser Kranker ist derart erschöpft, daß sich bei den an ihnen durchgeführten Operationen die Schnittwunden nicht schließen!«
      Berichte aus dem deutschböhmischen Erzgebirge besagen, daß z. B. in Rothau alle 100% der Schulkinder erkrankt sind, 79% allein weisen Schilddrüsenerkrankungen auf.
      Im Adlergebirge betragen die Erkrankungen der Schuljugend durchschnittlich 76%, im Böhmerwald 82%."

Soweit der Gesundheitsminister.

Der Amtsarzt der Bezirksbehörde Warnsdorf, Sanitätskommissär Dr. Orlik, überprüfte den Gesundheitszustand der Schüler der Volks- und Bürgerschule in Warnsdorf (Deutsch-Nordböhmen) im Herbst 1935. Bisher wurden die Kinder an der Volksschule des dritten Bezirkes und die Schüler und Schülerinnen der Bürgerschule untersucht. An der Volksschule im dritten Bezirk wurde festgestellt, daß 70% aller Kinder stark unterernährt sind. Noch krasser liegen die Dinge an der Bürgerschule, besonders in den ersten Klassen. Der größte Teil der Kinder bessergestellter Eltern trat zu Anfang des heurigen Schuljahres in die Staatsrealschule ein, weshalb in der ersten Klasse der Bürgerschule vorwiegend ärmere Kinder zurückblieben, so daß dort der Prozentsatz der Unterernährten besonders stark ist und über 70% hinausgeht. Zudem besitzen die Kinder fast durchwegs keine entsprechenden Kleider und erscheinen in dünnen, armseligen Kleidungsstücken zum Unterricht.

Über 50% der Untersuchten leiden zudem an der Kropfkrankheit. Fast alle haben sehr schlechte Zähne. Man sei, so erklärte Sanitätskommissär Dr. Orlik wörtlich, ob des Gesundheitszustandes der Kinder entsetzt.

[308] In der Stadt Rumburg sind von den das 1. Schuljahr besuchenden Kindern der Rumburger Schulen 75% unterernährt. Eine von den vier deutschen Volksschulen in Rumburg zählt 149 Kinder. Davon klagen 55% über ungenügende Ernährung und 18% der Kinder gehen betteln. Von 549 Schulkindern haben 253 arbeitslose Eltern.

Kinderspeisung durch die Sudetendeutsche Volkshilfe.

[305]
      Kinderspeisung durch die Sudetendeutsche Volkshilfe. Überall in den Notgebieten versucht die Sudetendeutsche Volkshilfe mit den zur Verfügung stehenden Geldmitteln der größten Not zu steuern. Und da sind es vor allem wieder die hungernden Kinder, die durch unermüdliche Helferinnen betreut werden.
Die letzten Eintragungen in den schulärztlichen Gewichtstabellen der Gemeinde Zeidler bei Nixdorf (Bezirk Hainspach) enthüllen ein kaum faßbares Kinderelend, wie es aus einem anderen Orte Nordböhmens bisher wohl nicht bekannt geworden ist. Von den 152 Kindern, welche die Schule besuchen, sind 103 oder 68% unterernährt und unter ihnen am stärksten die Kleinsten. Im ersten und zweiten Schuljahr wurden von 53 Kindern 42 unterernährte oder 81% Kinder festgestellt, im 3. und 4. Schuljahr von 58 Kindern 67%. Im 5. - 8. Schuljahr von 42 Kindern 22 oder 52%. Im 7. und 8. Lebensjahre wiegen die Kinder nur 16,5 bis 17 Kilo, im Alter von 9 und 10 Jahren 25 bis 29 Kilo.

Viele Kinder kommen ohne Vormittagsbrot in die Schule, in der sie fleißig lernen und das Lehrziel erreichen sollen, obgleich sie nicht einmal die körperlichen Voraussetzungen hierfür erfüllen können. Mit großem Appetit verzehren sie die Brotstücke, die sie von den andern Kindern bekommen oder die sie nach der Schule als "vergessen" vorfinden...

Bei Drucklegung des Buches lagen die amtlichen Berichte für 1936 noch nicht vor. Sie werden für dieses und die folgenden Jahre nur schlechter als besser sein.

Diese Zahlen und Berichte werden in ihrer ganzen Nüchternheit nicht nur laute Hilferufe an die Menschheit, sondern Ankläger zugleich gegen ein System, das sich der Welt im Gewande der demokratischen Humanität darstellt!



c) Rückläufige Bevölkerungsbewegung

Die tiefeinschneidenden Veränderungen, denen das völkische und wirtschaftliche Leben der Sudetendeutschen seit der Errichtung des tschechoslowakischen Staates ausgesetzt war, und ihre unmittelbaren Auswirkungen, die zu einer Verengung des Lebensraumes, zur Verringerung der Zahl der Arbeitsplätze, zur reihenweisen Stillegung deutscher Betriebe, zur Zerstörung wirtschaftlicher Existenzen in Handel und Gewerbe führten und damit die Erwerbslosigkeit zur sozialen Massenerscheinung machen, in deren Gefolge weiterhin die Verarmung der Menschen und ihrer Gemeinden steht, die schließlich zu Hunger, Unter- [309] ernährung und Erkrankung der Bevölkerung und völliger finanzieller Verelendung der Gemeinden führt, konnten nicht ohne nachteiligen Einfluß auf die biologische Volksbewegung des Sudetendeutschtums bleiben.

Die Übersicht über die Bevölkerungsentwicklung seit 1880 in den Sudetenländern zeigt, daß das Tempo der Bevölkerungszunahme bei den Deutschen ein langsameres ist als bei den Tschechen. (Siehe auch Seite 29 und die folgenden):

Die Bevölkerungsbewegung zeigt seit 1880 folgendes Bild:

    Jahr    Land tschechisch     %           deutsch     %           zusammen
    1880 Böhmen 3,447.843 62,80 2,054.660 37,20 5,535.375
    Mähren-Schles.     1,635.365 63,19    873.024 33,69 2,587.739

    5,113.208 62,95 2,927.684 36,04 8,123.114

    1910 Böhmen 4,244.112 63,11 2,477.930 36,84 6,725.352
    Mähren-Schles. 2,091.521 64,01 1,014.432 31,07 3,265.923

    6,335.633 63,41 3,492.362 34,95 9,991.275

    1930 Böhmen 4,713.366 67,19 2,270.943 32,37 7,014.559
    Mähren-Schles. 2,595.534 73,80   799.995 22,74 3,501.688

    7,308.900 69,50 3,070.938 29,19 10,516.247 

Der Bevölkerungsanteil der Deutschen sank also innerhalb von 50 Jahren von 36,04 auf 29,19 v. H. der Gesamtbevölkerung. Die Ursachen für die ungleiche Entwicklung der Bevölkerungszunahme liegen in der wirtschaftlichen Struktur der beiden Völker und finden dadurch eine natürliche Begründung. Während die Tschechen in dieser Zeit eine noch vorwiegend agrarische Struktur zeigten, war die Industrialisierung im Sudetendeutschtum in der Vorkriegszeit bereits so weit vorgeschritten, daß es an der Spitze aller industriellen Volksgruppen marschierte. Sie brachte ihm in seiner Entwicklung alle Licht- und Schattenseiten eines auf den wirtschaftlichen Aufschwung begründeten Wohlstandes eines Volkes. Und so zeigt sich auch im Sudetendeutschtum die Dekadenz der liberalistischen Wirtschaftsepoche, indem gerade in den Schichten des gebildeten und wohlhabenden Bürgertums das Zweikinder-, Einkind- oder Keinkind-"System" seinen Einzug halten konnte.

Wenn es erbbiologisches Gesetz ist, daß in einem wachsenden und gesunden Volk ungefähr ein Drittel der Gesamtbevölkerung im Kindesalter (bis zum vollendeten 15. Lebensjahr) stehen muß, dann entspricht der Jugendanteil im Sudetendeutschtum im Jahre 1910 noch diesen Bestimmungen. Dann aber kommt das Jahrzehnt des Weltkrieges und die Jahre der Not unmittelbar nachher. Im Jahre 1930 gehörten nurmehr 23 v. H. dieser Altersgruppe an. [310] Es zeigen sich also bereits die Auswirkungen des mangelnden Willens zum Kind, der Verluste während des Weltkrieges, der Opfer des Hungers und des staatlichen Terrors der Nachkriegszeit.

Die Bevölkerungsbewegung bei den Deutschen und Tschechen im Gesamtstaatsgebiet in der Zeit von 1920 bis 1930 ist folgende:

    1920 Deutsche 3,123.568, d. s. 23,36 der Gesamtbevölkerung
    Tschechen und Slowaken   8,760.937, d. s. 65,51   "             "
    1930 Deutsche 3,231.699, d. s. 22,32   "             "
    Tschechen und Slowaken 9,688.770, d. s. 66,95   "             "
    Bevölkerungszunahme der Deutschen absolut 108.131, relativ – 1,04,
    "   "   Tschechen     " 927.833, "     + 1,44.

In den folgenden Jahren trat eine Verschärfung dieser Entwicklung ein, die durch die katastrophale wirtschaftliche Lage bedingt und ausgelöst wurde. Wenn wir heute zurückschauen und nach einer Erklärung für die rückläufige Geburtenentwicklung suchen und zu dem Ergebnis kommen, daß die gesellschaftlichen Dekadenzerscheinungen weiterwirken,116 dann darf nicht übersehen werden, daß zu diesen Ursachen die natürlichen Auswirkungen eines wirtschaftlichen Verfalles traten, die allerdings erst in den folgenden Jahren in ihrer ganzen Tragik wahrnehmbar werden.

Die systematische Verdrängung von den staatlichen Arbeitsplätzen und die auch weiterhin geübte Abschließung der Sudetendeutschen von ihnen hat die Existenzgründung jenes männlichen Bevölkerungsteiles, der auf diese Arbeitsplätze abfloß, erschwert oder überhaupt unmöglich gemacht, also jenes Teiles, der trotz der "sicheren Position" an sich erbbiologisch an erster Stelle stand. Die stets wachsende Erwerbslosigkeit, die alle Berufe und Stände erfaßt hat, läßt den Kreis "gesicherter" Existenzen als der Voraussetzung für Familiengründung und Bevölkerungsvermehrung immer kleiner werden. Aber auch bei den in Arbeit und Verdienst Stehenden bedingt der ständige Rückgang des Einkommens eine Einschränkung der Lebensführung, behindert die Familiengründung und setzt vor allem der Vermehrung Schranken.

Dazu kommt in den letzten Jahren eine Tatsache, die gerade für das Sudetendeutschtum nicht übersehen werden darf: die Unsicherheit über die wirtschaftliche Lage bei den noch in Arbeit stehenden und die Hoffnungslosigkeit bei jenen, die [311] bereits seit Jahren ihren Arbeitsplatz verloren haben. Heute wird in aller Öffentlichkeit gerade von staatlichen Funktionären erklärt, daß 200.000 Erwerbslose nicht mehr in den Arbeitsprozeß werden eingegliedert werden. Der arbeitslose Tscheche hat das Bewußtsein, daß für ihn der Staat sorgt, und sorgen wird! Dieses Bewußtsein fehlt dem Sudetendeutschen. Er sah und sieht, wie alle Maßnahmen zur Krisenbekämpfung nur der tschechischen Wirtschaft und damit den Tschechen zugute kamen. Unsicherheit und Hoffnungslosigkeit aber sind keine treibenden Kräfte in der Bevölkerungsentwicklung. Diese Tatsache wird man zur Erklärung für den krassen Rückgang des Geburtenüberschusses in den letzten Jahren anführen müssen.

Der bekannte sudetendeutsche Bevölkerungspolitiker Dr. Otto Muntendorf verweist in einer interessanten Studie auf die Tatsache, daß nicht etwa die Großstädte Prag, Brünn, Mähr.-Ostrau, Preßburg und Pilsen, sondern vielmehr unsere sudetendeutschen Mittel- und Kleinstädte die geringsten Geburtenziffern unter allen Städten der Republik aufzuweisen haben. Der Geburtenrückgang der letzten Jahrzehnte hat sich in den sudetendeutschen Städten in der katastrophalsten Weise ausgewirkt; wenn man bedenkt, daß im Durchschnitt (nach Harmsen) eine Lebendgeburtenziffer von rund 20 auf Tausend der Bevölkerung notwendig ist, um die Erhaltung auch nur des Bestandes einer bestimmten Bevölkerungsgruppe zu sichern, und nun an Hand der Veröffentlichungen des Statistischen Staatsamtes feststellen muß, daß im Jahre 1934 keine einzige sudetendeutsche Stadt (mit mehr als 10.000 Einwohnern) auch nur mehr eine Lebendgeburtenziffer von 14 a. T. erreichen konnte, ist es leicht einzusehen, daß bei einer Fortdauer der gegenwärtigen Geburtenverhältnisse in nicht allzuferner Zeit entweder mit einer raschen Abnahme der Bevölkerungszahl dieser Städte oder was noch viel näher liegt - mit ihrer zunehmenden nationalen Überfremdung gerechnet werden muß; umsomehr, als der Bevölkerungsnachschub aus dem bäuerlichen Hinterland dieser Städte - oft ist ein solches überhaupt nicht mehr vorhanden: Reichenberg! Gablonz! - längst nicht mehr in ausreichender Stärke erfolgen kann.

Unter den 12 böhmischen und mährisch-schlesischen Städten (mit mehr als 10.000 Einwohnern), die im Jahre 1934 eine Lebendgeburtenziffer von weniger als 9 a. T. aufwiesen, befanden sich, wie aus nachfolgender Tabelle hervorgeht, neun, d. s. 75 Prozent, deutsche Städte und weitere 2 Städte mit einer fast 20-prozentigen deutschen Minderheit (Mähr.-Ostrau und Friedek). (Zu Vergleichszwecken sind auch die Zahlen für die Großstädte der Republik angeführt.)

[312]

    Die geburtenärmsten Städte der Sudetenländer 1934
    (Lebendgeburtenziffern a. T. in Städten mit mehr als 10.000 Einwohnern)
    1. Mähr.-Schönberg 6,68 – 5,07 6,44
    2. Reichenberg 6,90 – 4,52 8,31
    3. Karlsbad 6,93 – 4,27 7,65
    4. Teplitz-Schönau 7,96 – 4,57 8,37
    5. Gablonz 7,96 – 1,18 8,29
    6. Leitmeritz 7,97 – 4,51 6,61
    7. Mähr.-Ostrau 8,14 + 0,30 7,17
    8. Neu-Titschein 8,34 – 4,14 6,06
    9. Königgrätz 8,45 – 2,02 6,43
    10. Troppau 8,62 – 4,02 7,22
    11. Turn 8,76 – 3,00 8,88
    12. Friedek 8,86 – 1,85 6,36
    19. Pilsen 9,33 – 1,67 8,01
    38. Prag 10,61  – 0,19 9,78
    39. Brünn 10,61  + 0,84 8,32
    Anmerkung: Fett gedruckte Städtenamen = Deutsche Städte. Fett gedruckte
    Eheschließungsziffern = Zahl der Eheschließungen 1934 höher als die Gesamtzahl
    der Lebendgeburten.
    (Bedeutung der Zahlenreihen: 1. Reihe = Lebendgeburtenziffern 1934,
    2. Reihe = Differenz gegenüber dem Vorjahr, 3. Reihe = Eheschließungsziffern.)

Den "Rekord" unter den geburtenärmsten Städten der Sudetenländer hält also, wie unsere Tabelle zeigt, die Stadt Mähr.-Schönberg mit einer Lebendgeburtenziffer von 6,68 a. T. Wie groß die Gefahr der nationalen Überfremdung ist, in der sich gerade diese Stadt befindet (unser Beispiel hat jedoch auch für viele andere sudetendeutsche Städte volle Gültigkeit), können wir nur annähernd ermessen, wenn wir uns folgendes vergegenwärtigen: Das deutsche, durch die Industrie schon bis in die höchsten Gebirgsdörfer (Winkelsdorf) stark ausgelaugte Hinterland dieser Stadt kann längst nicht mehr die zur Erhaltung des derzeitigen Standes der deutschen Bevölkerung Mähr.-Schönbergs notwendigen biologischen Reserven stellen. Doch hart an der Stadtgrenze (2 Kilometer von ihr entfernt) beginnt das tschechische Sprachgebiet! Die Arbeiterschaft der Stadt ist heute schon zum größten Teile tschechisch; das gleiche gilt von den staatlichen Beamten und Angestellten; tschechische Kaufleute, Gewerbetreibende und Handwerker rücken nach. 1921 betrug die Zahl der Tschechen in Mähr.-Schönberg 1991 (16 Prozent), 1930 war sie bereits auf 3434 (22½ Prozent) gewachsen. Und 1940, wenn sich erst, wie zu erwarten ist, der stärkere Geburtenrückgang auf deutscher Seite ebenfalls auf die nationale Zusammensetzung der Bevölkerung auszuwirken beginnt?

[313] Doch ganz ähnliche Geburtenverhältnisse können wir auch in den beiden deutschböhmischen Städten Reichenberg und Karlsbad (vgl. die Tabelle!) feststellen. In Reichenberg war 1934 sogar die (absolute) Zahl der Eheschließungen um 44 v. H. höher als die Zahl der ehelichen Geburten! Aber auch in Mähr.-Schönberg, Karlsbad, Teplitz-Schönau, Gablonz, Leitmeritz, Troppau, Turn und Prag, also in insgesamt 9 Städten übertraf die (absolute) Zahl der Eheschließungen in diesem Jahr die der ehelichen Geburten. Und auch unter diesen 9 Städten waren wiederum 8 deutsche!

Der Überschuß der Zahl der Sterbefälle über die der Geburten (a. T.) überstieg 1934 bereits in 11 Städten der Tschechoslowakischen Republik (mit mehr als 10.000 Einwohnern) die Zahl von 3 a. T. Und unter diesen Städten befanden sich abermals 9, d. s. 82 v. H., deutsche Gemeinden! In der Stadt Mähr.-Schönberg war die (absolute) Zahl der Sterbefälle 1934 bereits um 76 Prozent, in Reichenberg um 66 Prozent höher als die der Lebendgeburten!117

Wir sehen uns also Auge in Auge mit der Gefahr, daß das deutsche Element in den Sudetenländern noch weiter zurückgedrängt wird, als es nach den Ergebnissen der letzten Volkszählung in den vergangenen 10 Jahren schon der Fall war.

Die Gefährdung der sudetendeutschen Volksgruppe aus den gesellschaftlichen Verfallserscheinungen und Auswirkungen der tschechischen Wirtschaftspolitik heraus wird aus den nachfolgenden letzten amtlichen Ziffern klar. Der Geburtenrückgang seit 1930 stellt sich wie folgt dar:

    Jahr für den
    ganzen Staat
    davon
    Tschechen
      und Slowaken  
    Deutsche
    1930   333.327 217.234 61.034
    1931 318.192 207.928 57.742
    1932 312.351 203.924 55.620
    1933 287.454 188.573 51.035
    1934 280.757 183.620 49.768
    1935 268.346 174.956 46.441

Nach einer Zwischenbilanz für die 1. Hälfte des Jahres 1936 erreicht die Zahl der Lebendgeburten im ganzen Staate nur 118.264, davon 88.285 Tschechoslowaken und nur mehr 18.297 Deutsche.

Wir sehen also ein ständiges Abgleiten der Geburtlichkeit, von dem sowohl der tschechisch-slowakische Bevölkerungsanteil als auch das Sudetendeutschtum betroffen ist. Die ungleich stärkere Gefährdung der sudetendeutschen Volks- [314] gruppe wird aber erst dann ganz klar ersichtlich, wenn wir den verhältnismäßigen Anteil der Deutschen an der Gesamtzahl aller Geburten errechnen. Dabei sei vorausgeschickt, daß die Volkszählung 1930 den deutschen Anteil an der Gesamtbevölkerung des Staates mit 22,32% ergab. Unser Anteil an den Lebendgeburten betrug aber nur mehr:

    1930     18,9 %
    1931 18,5 %
    1932 18,2 %
    1933 17,8 %
    1934 17,8 %
    1935 17,3 %

Er lag also weit unter dem sogenannten Bevölkerungsschlüssel, so daß in den nächsten Jahren mit einer starken deutschen Bevölkerungsabnahme zu rechnen sein wird.

Noch deutlicher tritt die Bedrohung des zahlenmäßigen Bestandes des Sudetendeutschtums in Erscheinung, wenn wir den reinen Geburtenüberschuß in Betracht ziehen. Auch hier sollen die nüchternen Zahlen sprechen. Sie ergeben ein anschauliches Bild. Es wurden auf sudetendeutscher Seite mehr Menschen geboren als starben:

    1930     15.586
    1931 11.487
    1932 9.999
    1933 5.942
    1934 7.041
    1935 1.857

Die Bevölkerungsbewegung am Schlusse des 1. Halbjahres 1936 ergab bereits keinen Geburtenüberschuß mehr! Damit tritt zum relativen Abgleiten des deutschen Bevölkerungsanteiles in den Sudetenländern auch das absolute, was die Befürchtung zu bestätigen scheint, daß das Sudetendeutschtum bei der kommenden Volkszählung hart an die, wenn nicht unter die 3-Millionen-Grenze gelangt. Die eigentlichen Auswirkungen der nun seit Jahren herrschenden wirtschaftlichen Verelendung im Sudetendeutschtum mit der völligen Erschütterung seines Gesundheitszustandes wird sich in den folgenden Jahrzehnten zeigen.

Auffallend in der Entwicklung der Bevölkerungsverhältnisse in der Tschechoslowakei sind die unehelichen Geburten als eine weitere soziale Massenerscheinung im Sudetendeutschtum. Im Jahre 1933 war der Landesdurchschnitt der unehelichen Geburten

    in der Slowakei  mit   8,9 % am niedrigsten,
    in Böhmen mit 13,3 % am höchsten.

Hinter diesem Landesdurchschnitt in Böhmen blieben fast alle tschechischen Bezirke zurück. Anders ist das Bild in den sudetendeutschen Grenzgebieten. So betrug der Prozentsatz der unehelichen Geburten in

    St. Joachimsthal 33 %,
    Bensen, Duppau, Neudek, Büchau über 30 %,
    St. Sebastiansberg, Görkau, Auscha, Elbogen,
    Katharinaberg, Podersam, Preßnitz, Hartmanitz, Saaz  
    25 - 30 %.

[315] Nur wenige deutsche Bezirke liegen unter 20%. Da das Ansteigen der Zahl der unehelichen Geburten gleichzeitig erfolgt mit dem Ansteigen der Arbeitslosenziffer, so ergibt sich daraus von selbst die Tatsache, daß diese soziale Erscheinung eine Folge der allgemeinen Wirtschaftsverhältnisse in der Tschechoslowakei ist, die sich in jeder Hinsicht bei den Sudetendeutschen stärker als bei den Tschechen auswirken, und die die Eheschließungen fast unmöglich machen!



Die fortschreitende wirtschaftliche Verelendung und die dadurch bedingte Hoffnungslosigkeit, die in breiten Bevölkerungskreisen Platz gegriffen hat, ließ eine Selbstmordepidemie zur sozialen Massenerscheinung werden!

Sie setzte besonders nach dem Bekanntwerden von der Nichteinlösung der dem österreichischen Staate gezeichneten Kriegsanleihe durch die Tschechoslowakei ein. Damals machten Hunderte kleiner Beamter und Rentner, die ihre Altersversorgung in Glauben und Treue dem Staate der Habsburger geopfert hatten und nun plötzlich vor dem Nichts standen, ihrem Leben ein Ende, oft, weil sie Armut als Schande empfanden, in den meisten Fällen aber, weil sie einen elenden Hungertod vor Augen sahen. Ihnen folgten aber Hunderte, die der Zusammenbruch des Jahres 1918 aus der eingeschlagenen Lebensbahn geworfen hatte, die brot- und existenzlos geworden sind, und schließlich Tausende, die seit Jahren das Schicksal der Arbeitslosigkeit ertragen mußten und keine Hoffnung mehr finden und schöpfen konnten, nochmals in den Arbeitsprozeß eingegliedert zu werden.

Der offiziellen Statistik über die Selbstmorde in der Tschechoslowakei ist ein ständiges Steigen derselben zu entnehmen, das nicht zuletzt auf die herrschenden wirtschaftlichen Verhältnisse zurückzuführen ist. Die Anzahl der Selbstmorde in den einzelnen Jahren betrug:

    1927 - 3.734
    1928 - 4.116
    1929 - 4.048
    1930 - 4.415
    1931 - 4.399
    1932 - 4.464
    1933 - 4.562
    1934 - 4.596

Auf 1000 Einwohner entfielen im Staatsdurchschnitt 1927 - 2,6, im Jahre 1934 dagegen 3,1 Selbstmorde. Besonders groß war die Zahl der Selbstmörder in Böhmen, wo 1927 - 3,4 und 1934 sogar 4,1 Selbstmorde auf 1000 Einwohner entfielen. In Mähren-Schlesien 2,5 bzw. 2,8; in der Slowakei 1,4 bzw. 1,5 und in Karpathenrußland 0,8 bzw. 1,0. So wie die wirtschaftliche Not in den von Deutschen bewohnten Randgebieten am höchsten ist, so ist auch die Zahl der Selbstmorde im deutschen Siedlungsraume der [316] CSR am größten. Im Jahre 1934 hatten von den 104 politischen Bezirken Böhmens nachfolgend angeführte mehr als 5 Selbstmorde auf je 1000 Einwohner. Es waren dies:

    Politischer
    Bezirk
      Bevölkerungsanteil  
    d. Deutschen
    auf je 100 Einw.
    Auf je 100 Einw.
    (Deutsche und Tschechen)
    entfallen Selbstmorde
    Laun   1,0 % 0,51 %
    Senftenberg 43,3 % 0,52 %
    Neuhaus 36,5 % 0,52 %
    Schlan   0,3 % 0,53 %
    Trautenau 70,7 % 0,53 %
    Braunau 70,7 % 0,54 %
    Deutsch-Gabel 94,1 % 0,54 %
    Warnsdorf 92,6 % 0,56 %
    Karlsbad 95,2 % 0,56 %
    Tetschen 91,7 % 0,56 %
    Joachimsthal 96,3 % 0,56 %
    Tepl 98,2 % 0,57 %
    Turnau   2,7 % 0,58 %
    Reichenberg 83,2 % 0,58 %
    Melnik   0,6 % 0,59 %
    Dauba 82,9 % 0,60 %
    Gablonz 82,0 % 0,61 %
    Hohenelbe 90,8 % 0,61 %
    Leitmeritz 62,9 % 0,65 %
    Komotau 86,5 % 0,65 %
    Friedland 95,0 % 0,69 %
    Starkenbach 20,0 % 0,86 %

Von den vorangeführten 22 politischen Bezirken mit der größten Anzahl von Selbstmördern sind lediglich 7 mit einer tschechischen, dagegen 15 oder 68,18 v. H. mit einer überwiegenden deutschen Mehrheit. Von den 104 politischen Bezirken Böhmens haben jedoch nur 40 oder 38,46 v. H. eine deutsche Mehrheit. Die Bezirke mit der größten Zahl der Selbstmörder haben zumeist auch die höchsten Arbeitslosenziffern. Ein Beweis dafür, daß das ständige Steigen der Selbstmorde in erster Linie mit auf die ungeheuere wirtschaftliche Not in den von Deutschen bewohnten Randgebieten des Staates zurückzuführen ist.

Wie hoch diese Ziffern sind, weist die nachfolgende internationale Selbstmordstatistik nach dem Jahresdurchschnitt pro 10.000 Einwohner auf:

    Österreich 3,45
    Ungarn 2,98
    Griechenland 2,72
    Tschechoslowakei     2,70
    Schweiz 2,51
    U.S.A. 1,39
    Australien 1,28
    England 1,26
    Irland 1,10
    Spanien 1,08
    Norwegen 1,04
    Holland 1,00
    Italien 1,00
    Chile 0,32

Die höchste Ziffer Deutschlands wurde mit 5,3 Selbstmördern in Hamburg erreicht.

Die erschreckenden Ziffern der rückläufigen Bevölkerungsbewegung im Sudetendeutschtum gewinnen ihre ganze Bedeutung durch den Hinweis auf die Tatsache, daß von tschechischer Seite nichts, aber auch gar nichts getan wird, sie abzubremsen, und die nachfolgenden Schilderungen sudetendeutscher Gegenwart.

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112Prager Börsenkurier vom 13. Dezember 1934. ...zurück...

113Rumburger Zeitung, 8. November 1934. ...zurück...

114Die Reichenberger Zeitung veröffentlicht folgendenden interessanten Bericht:
      Unter dem Pseudonym Hynek Pencik erhebt ein volkswirtschaftlicher Mitarbeiter des Venkov eine schwere Anklage gegen das tschechische Großkapital, das mehrere Milliarden Kc ins Ausland gebracht hat. Nach dem Umsturz hätten sich die Agrarier die landwirtschaftlichen, politischen und militärischen Ressorts gesichert, die Sozialisten die Fürsorge und die verwandten Aufgaben, während die Finanz- und Handelsangelegenheiten den Industriellen und Kapitalisten überlassen wurden. Man habe geglaubt, daß diese Leute die finanziellen Angelegenheiten am besten verstehen und daß sie sie im Interesse des Staates und des Volkes gut verwalten würden. Erst die Wirtschaftskrise habe vielen die Augen geöffnet. Man kam zu der Erkenntnis, daß die Finanzpolitik nur für die Häupter des Großkapitals vorteilhaft war, das Volk und den Staat aber schädigte. Der Aufklärungsarbeit, die nun folgte, sei es zu danken, daß anfangs 1934 zum ersten Male seit dem Umsturz das konzentrierte Großkapital aufhörte, in der Nationalbank zu diktieren. Zum ersten Male seit dem Umsturz setzte es seinen Willen in einigen Finanzangelegenheiten nicht durch und darum trat es aus der Regierung und aus der Mehrheit aus. Das sei für den Staat und für das Volk ein Glück gewesen.
      Wenn es keine nationaldemokratische Opposition gäbe, hätte man nicht erfahren, daß in einer Zeit, da der Bauer doppelt arbeitete, um das Volk zu erhalten, da die Arbeiter ihren Arbeitsplatz verloren und nur von der staatlichen Arbeitslosenunterstützung lebten und die Volkswirtschaft unter dem Mangel der Produktionsmittel litt, die Kapitalisten Milliarden Kc ins Ausland ausführten. In der letzten Sitzung des Bankrates der Nationalbank vor Weihnachten wurde das Ergebnis der Konskription ausländischer Werte mitgeteilt. Obwohl kein amtlicher Bericht herausgegeben wurde, dringt in die Öffentlichkeit folgendes durch:
      52.915 Bürger unseres Staates bekannten, daß sie im Auslande für 247 Millionen Kc reines Gold liegen haben. Wenn man die ausländischen Devisen hinzurechnet, ergibt sich eine Summe von über einer Milliarde Kc. Ferner haben sie ausländische Obligationen (Caisse Commune, Staats- und Eisenbahnanleihen) für eine weitere Milliarde im Ausland. Den größten Posten stellen die ausländischen Aktien dar. Bis 15. Dezember konnte die Nationalbank erst für 180 Millionen Kc ausländische Aktien bearbeiten, also einen Bruchteil. Es verbleiben noch 45.000 Anmeldungen ausländischer Aktien zu bearbeiten. Eingeweihte Kreise sagen, daß mehr als eine Milliarde Kc zusammenkommen werde. Einen weiteren Posten stellen die tschechoslowakischen Auslandsanleihen dar, von denen hiesige Bürger fast eine Milliarde Kc besitzen. Das Volk glaubt, daß sich der Staat das Geld vom Ausland lieh, inzwischen sei die tschechoslowakische Dollaranleihe zu 70 Prozent von eigenen Staatsangehörigen gezeichnet worden. Die Kapitalisten liehen also dem eigenen Staate Dollar, aber nicht Kc. ...zurück...

115Sozialdemokrat, Prag vom 22. Januar 1935. ...zurück...

116Sudetendeutschtum im Kampf, herausgegeben von der S. D. P. 1936, S. 165. ...zurück...

117Rundschau, Prag. Folge 28. ...zurück...

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200 000 Sudetendeutsche zuviel!
Der tschechische Vernichtungskampf
gegen 3,5 Millionen Sudetendeutsche
und seine volkspolitischen Auswirkungen.
Kurt Vorbach