Der Todesmarsch Pfarrer Klaus Lieske [...] Und dann begann unser Marsch, den man nicht anders nennen kann als den "Todesmarsch". Denn nicht nur, daß viele von unseren besten deutschen Blutsbrüdern ihr Leben lassen mußten, nein, die Polen verstanden es auch, [101] die Menschen durch ihre Quälereien geistig und seelisch in einen mehr oder weniger trostlosen und apathischen Geisteszustand zu versetzen, aus dem wir Heimkehrer wohl alle erst lange Zeit später voll und ganz erwachen werden. "Was, du redest noch?" "Gib ihm doch mit dem Kolben", hilft ein anderer, und der Kolben saust oder das Bajonett sticht zu. Aber es geht noch. Da liegt die erste Frau vor einem Strzelec auf den Knien. Sie ist zusammengebrochen und fleht ihn wohl an: laß mich ein wenig ruhen. Verfluchtes Volk, könnt ihr nicht einmal vor Frauen ein wenig Achtung haben? Da bringt er sie an, eine Frau, eine von denen, die Mutter ist, jagt er mit dem Bajonett vor sich her und beschimpft sie in den greulichsten Ausdrücken. Es geht rechts ab über eine kleine Bahnstrecke, da kommt ein Dorf. Die Leute stehen vor den Türen. Sobald sie hören, wer wir sind, geht ein freudiges und doch haßverzerrtes Grinsen über ihre Gesichter. "Richtig so, schlagt sie alle tot, die verfluchten Hitlerowcys." Ein Weib stürzt kreischend auf uns zu, hebt einen Stein auf und schleudert ihn unter unverständlichem Gebrüll in die Menge der schon fast völlig erschöpften Menschen. Ein Grauen packt mich vor so viel wahnsinnigem Haß. Wir stehen im Morgengrauen in einem schluchtartigen Weg vor einem Vorwerk in der Nähe von Wloclawek. Das Geschehen der letzten zwölf Stunden sieht jedem noch aus den Augen. Aber auch an der Kleidung kann man es sehen, und so wie die Sachen sehen auch die Seelen von uns aus: zerrissen, zerquält, von grauenhaftem Erleben erzählend. Vor mir steht eine Frau. In einem blauen Seidenmäntelchen. Der Rücken vielleicht gut zwei Hände breit, so schmal und zusammengefallen die ganze Gestalt. Aschgrau das Gesicht. Die Schuhe verloren, die Seidenstrümpfe hängen in Fetzen um die Waden. Grinsend, fluchend und essend um uns herum die Begleitmannschaft. [102] Ja, wie war das doch alles gekommen? Wir hatten uns gestern zum Abmarsch aufgestellt in der Zollhalle und durften uns noch einen Augenblick setzen. Dann wurden die alten Männer herausgesucht, die den Marsch zu Fuß nicht mehr zurücklegen konnten, und saßen still in der Mitte des Raumes. Da erhebt sich ein Pole, läuft zum Posten und sagt: "Die wollen da etwas tun, das mache ich nicht mit." Der Posten führt ihn heraus, Polizei und Strzelcys kommen herein und schlagen zunächst blindlings mit Fäusten und Revolvern auf die Leute los, die ungefähr in der Gegend sitzen, die der Pole angab. Totenstille herrscht im Raum, als er nun im einzelnen die Leute, die angeblich etwas "geplant" haben sollen, heraussucht. "Der, und der, und auch der, und der!" Sie müssen sich erheben und werden zwischen Wachposten herausgeführt. Ich habe im Dämmerlicht noch gerade das Profil von Dr. Braunert aus Goßlershausen erkannt. Eiskalt läuft es mir über den Rücken: Der Mann hat ja eine junge Frau und mehrere Kinder. Wer sind die anderen? Ich erfahre es: Kittler, Thorn, Laengner, Thorn, und ein gewisser Thom aus dem Kreise Briesen. Also ist mal wieder System in der Sache. Der Schlange, die da Deutschtum heißt, will man ein paar Köpfe abschlagen. Was haben sie aber geplant? Wollten sie die Mannschaft entwaffnen? Oder mit Bierflaschen polnisches Militär angreifen? Nein, nein, viel viel Schlimmeres: Dr. Braunert hatte nur dem alten Goerz geraten, auch auf dem Wagen zu fahren, da er schwer krank wäre, und einen Polen gebeten, dies weiter zu sagen. Aber da ist's mit dem Denken und Fragen auch schon vorbei. Wir müssen uns zu zehn Viererreihen aufstellen und herauskommen. Taschenmesser, Rasiermesser usw. hat man uns im Saal schon abgenommen. Wir laufen heraus und müssen uns in einer engen Sandschlucht aufstellen. Was soll das bedeuten? Dann geht ein Polizeibeamter mit dem verfluchten Polen herum, und dieser sucht weitere Leute heraus. [103] Immer die Führer des Deutschtums müssen nach hinten, etwa 20 Mann ans Ende des Zuges. Rechts von mir erkenne ich langsam die vier, die vorher herausgeführt worden waren. Ich höre das Schreien und unbarmherzige Stampfen der Kolben, dazu die rohen Bemerkungen der Peiniger. Einer von den Gequälten weint laut. Er soll die Hände hinter den Kopf legen. Er schreit: "Ich kann den Arm nicht mehr rühren, der ist ganz kaputt." Buch, buch, hauen die Kolben. "Hoch den Arm! Schieß den Hund tot!" So geht's weiter. Da ertönt bei uns das Kommando an die Wachmannschaften: "Bajonette runter." Also soll man uns hier wohl mit den Kolben totschlagen? Und wieder werden wir durchsucht. Nach Flaschen angeblich. Aber dabei müssen auch alle Lebensmittel mit, die wir etwa noch in den Taschen haben. Endlich, endlich heißt es: Marsch! Aber dann geht es ja los! Immer laufen, laufen. Wehe, wenn man nur einen halben Schritt zurückbleibt. Dann gibt es fürchterliche Kolbenstöße. Auch die Bajonette sitzen schon wieder auf den Gewehren, und zwar die langen, spitzen französischen Bajonette, die ja viel grausamere Wunden geben als die deutschen. Nach ein paar Minuten wilden Treibens habe ich schon brennenden Durst. Im Rucksack sind Zitronen, aber die bekomme ich nicht heraus. Eine habe ich in der Tasche. Aber es darf ja nicht gegessen werden. Vorsichtig nehme ich die Zitrone in die hohle Hand und beiße etwas ab. Doch das ist zu scharf und brennt mehr, als es den Durst stillt. Ich schaue nach den Sternen und in den Mond. Versuche wenigstens die Richtung zu erkennen. Da kracht mir der Kolben ins Kreuz. Ich fliege auf meinen Vordermann und gehe in Zukunft mit den Augen geradeaus. Nicht einmal mehr nach oben darf man den Blick richten. Aber wie soll man das Gejage aushalten? An jedem Baum müssen wir die Hände auf den Rücken nehmen und im Dauerlauf vorbeistürzen. Die Nerven zittern noch von dem vorher Erlebten, und die Menschen sind vor Angst wie wahn- [104] sinnig. Diese Angst treibt sie dann vorwärts, so daß das Laufen, denn ein Marschieren ist es schon lange nicht mehr, immer schwerer und schwerer wird. Wer hinten ist, drängt vor. Die Alten müssen geschleppt werden. Aber wehe, wenn einer von den Schleppenden auch nur einen Schritt zurückbleibt. Dann setzt es Bajonettstiche. Wer liegen bleibt, wird unbarmherzig gedroschen und mit dem Kolben bearbeitet, bis er wieder aufspringt und von Bajonettstichen getrieben nach vorn jagt. "Seht, wie der Hund jetzt noch laufen kann!" Und dann bleibt er liegen. "Na, vorwärts, vorwärts, du Hurensohn!" Noch ein Stoß, - und der Gejagte, oft eine Frau, oft ein Greis, taumelt keuchend in seine Reihe. So geht es weiter bis ½11 Uhr, also volle drei Stunden. Um eine Ecke, an der ein paar Weiden stehen, jagen wir gerade herum. Es kann nicht weiter gehen, denke ich gerade, da schwärmen hinter mir die Schützen nach rechts aus. Vor ihnen stehen ein paar Leute, ihnen gegenüber ein Offizier, der aus einer Handfeuerwaffe schießt. "Die Deutschen", denke ich. Das Herz bleibt einem vor Spannung fast stehen. Da, ein Schrei: "Laufschritt!" Und schon fegen Schüsse in uns hinein. Ich bin fast in letzter Reihe und jage vorwärts. "Hände hoch!" Und wieder peitschen Karabinerschüsse. "Halt! Alle Sachen wegschmeißen!" Infanterie taucht auf. Auf dem Rückmarsch. Aber eben nicht die Deutschen, sondern alles Polen. Sie stürzen auf uns zu und reißen uns mit den Bajonetten unsere letzten Habseligkeiten herunter. Mein Rucksack fliegt herab, einem alten Bauern neben mir wird der Pelz heruntergestochen. Das alles geht in Sekunden vor sich. Und wieder: "Hände hoch! Laufen!" Wieder stürzen wir vorwärts, während Schüsse in uns hineinpeitschen. Vor mir stehen ein paar Frauen, die nach hinten gedrängt worden sind. Ihr Geschrei und Jammern ist furchtbar. "Hinwerfen!" Alles wirft sich platt auf die Straße. "Auf! Laufen!" Wir laufen wieder. "Halten! Alles hinlegen!" Wir liegen wieder. Ich sehe nach der Uhr. Kurz [105] nach ½11 Uhr. Totenstille für ein paar Sekunden. Ich nehme meine Zitrone und fange an, gierig daran zu saugen. Durst, Durst! Da fangen auch schon die Verwundeten an zu schreien. Einer hat einen Handschuß. Auf ihm liegen andere. Sinnlos vor Schmerz springt er auf, um im gleichen Augenblick erschossen zu werden. Eine Frau vor mir verliert die Nerven: "Schießt mich doch schon tot. Quält mich doch nicht so. Schießt mich tot, schießt mich endlich tot!" So dreimal, dann hat auch sie die erlösende Kugel. Neben mir liegt ein Mann, der auch nicht mehr Herr seiner Sinne ist. Er will durchaus sein Militärbuch zeigen. Da wird er, als er nicht gleich Ruhe gibt, mit Kolben niedergestampft. Dazwischen geht die Mannschaft die angeblich Geflüchteten suchen. Denn die ganze Schießerei, so erzählt man, wäre dadurch gekommen, daß einige geflohen wären. Vermutlich aber ist es so gewesen, daß man uns mit jener vorhin erwähnten Schießerei eine Falle gestellt hatte, und daß dann tatsächlich einige, in der Meinung, die Deutschen wären da, entflohen sind. Da höre ich, wie der Hauptmann sagt: "Jetzt holen wir ein Maschinengewehr, und dann schießen wir euch alle tot!" Das kommt mir doch etwas unwahrscheinlich vor, aber schon knattert es von vorn und auch von hinten. Die Infanterie schießt von vorn mit einer Revolverkanone, während der Polizeiwachtmeister von hinten mit einer Maschinenpistole in uns wehrlos daliegende Masse Mensch hineinfeuert. Dazwischen die Strzelcys mit ihren Karabinern. Einer der Leute sagt daraufhin in der Reihe: "Das ist ja Verrat!" Der Hauptmann stürzt hinzu, findet ihn natürlich durch Angabe der Polen heraus und schießt ihm eine Kugel durch die Brust. Da ruft der Ärmste: "Wenn ihr schon schießt, dann schießt mich richtig tot!" Worauf ihm wiederum der Hauptmann persönlich eine Kugel durch den Kopf jagt (Höltzel aus Birkeneck). Wiederum ein anderer erhielt einen Kolbenschlag. Seine Antwort ist: "Herr vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was [106] sie tun!" Auch das ist natürlich zu viel, und der Kolben saust und schlägt ihm den Schädel ein. Fast 30 Menschen liegen auf der Straße - ermordet, zerfetzt, entstellt, abgeschlachtet. Schneller und schneller werden wir vorwärts getrieben. Der Schweiß bricht aus allen Poren. Und dann geht's unter den greulichsten Schimpfworten im Dauerlauf los. Die Sonne brennt. Die Posten jagen, und schlagen und fluchen in einer Art, wie wir sie kaum je vorher auf einem Marsch erlebt haben. Die Bevölkerung steht an der Straße und brüllt haßverzerrte Schimpfworte. Die Augen quellen hervor, die Zunge brennt, unter der Zunge ist das Fleisch dick und geschwollen. Aber nicht ein Tropfen Wasser, immer nur vorwärts. Die ersten, älteren Leute brechen zusammen. Ein Bild, das jetzt am Tage in dem leuchtenden Sonnenschein noch viel furchtbarer ist als nachts. Mit offenen Augen liegen sie da, das Gesicht verzerrt, die Lungen keuchend. Wir werden so vorwärts getrieben, daß wir es nicht vermeiden können, auf die Gestürzten zu treten, sie zu überrennen. Manch einer hat noch die Kraft aufzuschreien, wenn andere auf ihm trampeln, die meisten haben schon vor Erschöpfung die Sinne verloren. Man kann das als eine Gnade bezeichnen, die ihnen geschenkt ist; denn hinter uns wütet der Mob. Nicht mehr wie sonst allein die Begleitmannschaft, die die Liegengebliebenen einfach absticht, nein - man hört lautes Lachen -, sie werden angefeuert und unterstützt von der Bevölkerung. Und dann kommen sie in einen Blutrausch, der einfach keine Grenzen kennt. Ihre Methoden werden dann "verfeinert". Sie steigern sich in sadistischen Quälereien, und - wer diese Zeilen liest, wird nicht glauben, daß die Geschichte des 20. Jahrhunderts so etwas zu verzeichnen hat, ja daß Menschen gezwungen wurden, das Martyrium ihrer Volksgenossen, Blutsbrüder und Blutsschwestern mitanzusehen.
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