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[Bd. 1 S. 5]
Vorwort.

Die jüngste deutsche Geschichte zerfällt offenbar in vier Abschnitte.

Der erste Abschnitt hat seinen Mittelpunkt in der Revolution. Er umfaßt die Zeit vom Frühjahr 1916 bis zum Frühjahr 1921. Die linksradikalen Kreise waren die Träger des revolutionären Gedankens. Sie unternahmen fünf Jahre lang stets neue, doch vergebliche. Versuche, die Diktatur des Proletariats aufzurichten. Im Jahre 1918 (Januar bis November) bediente sich die Sozialdemokratie dieser Strömungen, um sich in den Besitz der Staatsgewalt zu setzen. Die Revolution war der Sieg der Sozialdemokratie auf den Schultern der Unabhängigen. Der verfassungsrechtlichen Parlamentarisierung des Reiches und der Beendigung des Krieges mußte ein Opfer gebracht werden: das Kaisertum. Beide Momente wirkten zusammen, um die Revolution zu vollenden. Das furchtbare Ergebnis dieser Entwicklung war das Friedensdiktat von Versailles. –

Der zweite Abschnitt vom Frühjahr 1921 bis zum Herbst 1922 brachte die politische und wirtschaftliche Zerrüttung. Sie war der Erfolg jenes unglücklichen deutschen Versuches, auf der durch die Revolution geschaffenen innerpolitischen Grundlage mit der Sozialdemokratie gegen den Hochkapitalismus der Entente zu regieren. Die Situation wurde verschärft durch den feindseligen Haß Frankreichs. Innenpolitisch wird diese Phase durch zwei politische Morde, an Erzberger und Rathenau, charakterisiert, die zu einer Entfesselung der sozialdemokratisch-kommunistischen Leidenschaften "zum Schutze der Republik" gegen die Anhänger der Rechtsparteien führten. –

[6] Der dritte Abschnitt reicht vom Ende des Jahres 1922 bis zum Ende des Jahres 1923. Er brachte in Wahrheit die Krisis des Reiches. Die Besetzung des Ruhrgebietes durch die Franzosen und Belgier zerrüttete das deutsche Wirtschaftsleben vollkommen. Verheerende Aufstände erschütterten im Herbst 1923 das Reich: die Separatisten im Rheinland, Kommunisten in Sachsen und Thüringen und nationalsozialistische Erhebungen in Preußen und Bayern. Dazu traten allerorts Hungerrevolten, welche die Kommunisten für ihre Zwecke auszunutzen versuchten. Das Reich erbebte in seinen Grundfesten. –

Der vierte Abschnitt, Ende 1923 bis Sommer 1929, ist gekennzeichnet durch den Versuch der demokratischen Gewalt, die weltpolitischen Fragen der Sicherheit, der Gleichberechtigung und der Reparationen zu lösen. Es gelang, die Inflation zu bändigen und ein neues, stabiles, goldwertes Geld, die Rentenmark, einzuführen. Noch mußten unliebsame Dinge der überwundenen Zeitspanne liquidiert werden: Aufwertung, Tscheka-Prozeß, Fememord-Prozeß, Auseinandersetzung über die deutschen Fürstenvermögen. Die Reparationsverpflichtungen wurden auf eine andere Grundlage gestellt durch den Dawesplan, der Deutschland erhebliche Opfer an Hoheitsrechten auferlegte. Die Befriedung Europas wurde durch den Locarnopakt erreicht, und schließlich gelang es Deutschland, in den Völkerbund aufgenommen zu werden. Deutschland ist in die Weltpolitik eingetreten, die jetzt so ganz andere Formen als vor dem Weltkrieg aufweist. Die Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten zeigte, daß das Volk im großen ganzen zu seinen alten Idealen und Auffassungen zurückgekehrt ist. Da die deutsche Revolution nicht einen einzigen Mann großen Formates hervorgebracht hat, ruft das Volk jenen Mann aus der kaiserlichen Zeit an die Spitze, der einst in der schwersten Stunde das Reich vor dem Einfall der Russenhorden bewahrt [7] hat. Mit dieser Wahl allerdings bahnte das nationale Deutschland den Weg, der sieben Jahre später nach Hindenburgs Willen beschritten wurde. –

Deutschlands Eintritt in den Völkerbund (Herbst 1926) brachte dem Reiche die formale Gleichberechtigung und das Ende seiner politischen Isolierung. Er ist gekennzeichnet vorwiegend durch drei außenpolitische Ereignisse: Aufhören der Militärkontrolle, Revision des Dawesplanes durch den an seine Stelle tretenden Youngplan und Beseitigung der Rheinlandbesetzung.

Dieser durch die Tatsachen gegebenen Disposition folgt das vorliegende Werk durch seine Gliederung in vier Abschnitte. Der fünfte Abschnitt war gänzlich von einer innenpolitischen Umwälzung erfüllt, von der Erhebung des Nationalsozialismus gegen Marxismus, Demokratie und Reaktion. Dieser Abschnitt begann im Herbst 1929 und umfaßte in heftigen inneren Kämpfen die nächsten Jahre; seine geschichtliche Darstellung hat er im 5. [bis 7.] Bande dieses Werkes gefunden. – Es mußten, soweit das zum Verständnis der deutschen Geschichte notwendig war, bis zu einem gewissen Grade auch die Ereignisse in den andern Ländern Europas behandelt werden, besonders soweit das Zustandekommen des Versailler Diktats und die europäischen Konferenzen gewürdigt werden mußten.

Deutschland hat von 1918 bis 1932 einen dornenvollen Weg zurückgelegt. Ursache hiervon war der Trugschluß der Sozialdemokratie, die auf die Verbrüderung mit den westeuropäischen Sozialisten hoffte. Diese falsche Doktrin wurde vier Jahre lang gründlich ad absurdum geführt. Erst einer bürgerlichen Außenpolitik war es möglich, Deutschlands Beziehungen zum Auslande zu bessern. Allerdings ging dieser Wechsel von der sozialdemokratischen zur bürgerlichen Außenpolitik nicht ohne schwere Erschütterungen ab, wie die unter der Regierung Cuno eingetretenen Ereignisse beweisen.

[8] Kenntnis und Erkenntnis sind die höchsten Ziele der Wissenschaft. Sie zu vermitteln sei auch die Aufgabe des vorliegenden Werkes. Sympathien für eine Partei haben zu schweigen. Es ist keine Parteigeschichte, die geschrieben wird, sondern die Geschichte eines großen aus vielen Parteien bestehenden Volkes. Der Politiker hat Ziele und Wünsche, die in der Zukunft liegen, der Historiker kennt nur Ereignisse, ihre Ursachen und Folgen, die in der Vergangenheit liegen. Deshalb mag jeder, der dies Buch zur Hand nimmt, seinen Standpunkt ändern, er lese es nicht als Parteimann, sondern als Geschichtsfreund. Die Geschichte deckt bei jeder Partei Fehler auf, die zur Zeit ihrer Gegenwart verhüllt waren. Diese Worte gelten auch für den 5. und 6. Band. Es wäre sehr untergeordnet, nur die Geschichte einer Partei schreiben zu wollen. Aber die Verantwortung, die auf dem Historiker ruht, macht es ihm zur Pflicht, sich klar zu werden über die Strömungen seiner Zeit. Wir kennen heute nur vier Standpunkte, die ein Historiker einnehmen kann: einen gesunden nationalen, einen reaktionären, einen demokratisch-liberalistischen und einen marxistischen. Ich kann es vor meinem Gewissen rechtfertigen, daß ich den gesunden nationalen Standpunkt des Historikers im Nationalsozialismus erkenne. Wer macht einem Heinrich von Treitschke einen Vorwurf daraus, daß er die Demokratie ablehnte, oder wer verargt es Dietrich Schäfer, daß er ein Feind der Demokraten und Marxisten war? Wer den Willen zum Vaterlande hat, muß sich in den Dienst des gesunden nationalen Fortschrittes stellen. Da gilt kein reaktionäres Rückwärtsstarren und kein Abgleiten in das marxistische Kulturchaos.

Halle a. d. Saale, im Herbst 1932.

Dr. K. S. Baron von Galéra.




Geschichte unserer Zeit
Dr. Karl Siegmar Baron von Galéra