Vorwort Gefängnisse sind für Verbrecher da, für Mörder, Diebe, Zuhälter und Betrüger, kurz für Kriminelle im eigentlichen Sinne des Wortes. Wer im Gefängnis gesessen hatte, war entehrt. Mit ihm wollte kein rechtschaffener Mensch mehr etwas zu tun haben. So war es jedenfalls, als ich in den Jahren vor 1914 als junger Referendar und Pflichtverteidiger meine ersten Erfahrungen mit der Strafrechtspflege machte. Ich habe mich allerdings schon damals gefragt, ob es wohl richtig sei, daß der Staat über Menschen, die einer Straftat nur verdächtig waren, die Untersuchungshaft verhängte, die genau so drückend wie die Strafhaft selber war, von dem Betroffenen sogar meist als noch drückender empfunden wurde und ihn außerdem in seinen Verteidigungsmöglichkeiten beschränkte. Ich glaubte auch, bisweilen einmal den einen oder anderen im Gefängnis zu sehen, der zu Unrecht in die Räder der Strafrechtsmaschine geraten war. Im allgemeinen aber hatte man, wenn man vor 1914 ein Gefängnis betrat, den Eindruck, daß die Menschen, die man dort antraf, auch dahin gehörten. Die Zeiten haben sich geändert. Wir erlebten eine Politisierung der Justiz, die auch in der Zusammensetzung der Insassen der Strafanstalten zum Ausdruck kam. Ich habe Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte, Minister und Generäle als Häftlinge in Gefängnissen gesehen und entsinne mich noch der Gebärde des Entsetzens, mit der mir ein Staatsanwalt, der während der Krise des Hitlerregimes selbst zum Opfer der politischen Justiz geworden war, nach seiner Freilassung aus dem Zuchthaus berichtete: "Man versteht die Zeit nicht mehr. Das Milieu der Zuchthausinsassen ist ein anderes geworden. Man findet da Menschen, die man ihrer ganzen Stellung nach kaum in Gefängnissen suchen würde. Wohin steuert ein Staat, der solchen Mißbrauch mit der Justiz treibt?" Ich denke da auch noch an einen anderen Staatsanwalt, der mir aus den ersten Jahren meiner Verteidigertätigkeit wohlbekannt war, und den ich dann 1923 im Ruhrkampf plötzlich in einem Gefängnis in Belgien antraf, wohin er im Zuge einer Repressalie von den Belgiern verbracht worden war und in scharfer Einzelhaft gehalten wurde. Dieser Mann, der die Haft nur dienstlich kannte, war, als ich ihn traf, völlig zusammengebrochen. "Wenn ich das gewußt hätte, was Einzelhaft ist", so sagte er, "würde ich bei meinen Anträgen auf Erlaß eines Haftbefehls vorsichtiger gewesen sein." Man hat in früheren Zeiten, als wir mit der politischen Justiz noch nicht so vertraut waren wie heute, öfter das Scherzwort gehört, daß man in den Vorbereitungsdienst für die juristische Laufbahn einige Wochen Untersuchungshaft einfügen solle, damit der angehende Jurist, Richter, Staatsanwalt und Verteidiger auch einmal am eigenen Leibe verspüre, was es mit der Untersuchungshaft auf sich habe. Ich glaube, daß das heute nicht mehr nötig ist, weil wir jetzt überall, bei den Staatsanwälten, Richtern, Rechtsanwälten, Polizei- und Gefängnisbeamten Menschen begegnen, die in ihrer Person irgendwie mit politischer Haft des einen oder anderen deutschen Regimes oder einer Besatzungsmacht nähere Bekanntschaft gemacht haben. Als in den Jahren 1925 bis 1930, in der Zeit der sogenannten Femeprozesse, die Politisierung der Justiz zum ersten Mal eine ernste Krise in Preußen hervorgerufen hatte, gab der Schriftsteller Moritz unter dem Pseudonym Zarnow ein Buch über die "Gefesselte Justiz" heraus, das im Lehmann-Verlag in München erschien und damals berechtigtes Aufsehen erregte. Das Buch, das in der Schilderung von Einzelfällen manchmal angreifbar war, hat das Problem, um das es ging, die Politisierung der Justiz als Krankheitserscheinung unserer Zeit, richtig erkannt. Man geht wohl in der Annahme nicht fehl, daß der damalige Kampf um die Justiz in Preußen ein Moment war, das zum Emporkommen des Nationalsozialismus wesentlich beigetragen hat. Die Männer aber, die sich von 1925 bis 1930 am schärfsten gegen die "Gefesselte Justiz" des Weimarer Systems gewandt haben, endeten, als sie nach 1933 selbst zur Macht gelangt waren, unter Thierack, dem letzten Reichsjustizminister im Kriege, bei der "Gelenkten" Justiz. Wir durchlebten in Deutschland von der "Gefesselten" zur "Gelenkten" Justiz eine Entartung der Rechtspflege, die wir auch jetzt noch nicht überwunden haben. Es scheint mir deshalb heute, wo für uns die Zeit der Besinnung gekommen ist, angezeigt, die Entwicklung des Phänomens der politischen Justiz im In- und Ausland einer Betrachtung zu unterziehen. Diese muß sich allerdings auf die ordentliche Justiz beschränken, die Gerichte, die Staatsanwaltschaften und die Justizministerien. Sie soll auch noch das verwandte Gebiet der Militärjustiz mitbehandeln, die, zumal im Kriege, für die politische Justiz ja auch bedeutsam war, desgleichen die Disziplinargerichtsbarkeit. Dagegen fällt nicht unter die Erörterung das Gebiet der politischen Polizei und alles, was damit zusammenhängt, ein Gebiet, das man ja wohl als Justiz im eigentlichen Sinne nicht mehr bezeichnen kann. Im übrigen verstehe ich den Begriff der politischen Justiz im weitesten Sinne des Wortes. Ich begreife darunter nicht nur die politischen Prozesse im engeren Sinne, d. h. Prozesse, die sich auf die Tatbestände der Abschnitte l bis 7 des Teils II des Strafgesetzbuches: Hochverrat und Landesverrat, beziehen, sondern auch die Prozesse des gewöhnlichen Strafrechtes, die aus politischen Gründen angestrengt werden. Ich möchte auch die politische Justiz, so wie ich sie erlebt habe, in ihrer Gesamtheit behandeln, die berechtigte und die entartete politische Justiz. Ich gebrauche den Ausdruck bald in dem einen, bald in dem anderen Sinne, was jeweils aus dem Zusammenhang erkennbar ist. Die Darstellung soll sich auf eigene Erinnerungen stützen. Dieses Verfahren kann und will damit keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, aber einen Beitrag leisten zur Erkenntnis der Geschehnisse unserer Zeit. Wir haben in unserer Generation zweimal einen Weltkrieg und zweimal einen nationalen Zusammenbruch erlebt, außerdem drei Regimewechsel und zwei Revolutionen. Dazukamen die verschiedenen militärischen Besetzungen, darunter besonders der Ruhrkampf von 1923. Das alles hat zur Politisierung der Justiz beigetragen. Es wäre erstaunlich, wenn es anders gewesen wäre. Wir waren in dieser ständigen Umwälzung in unserer Strafrechtspflege immer wieder vor das "Problem des Außergewöhnlichen" gestellt, d. h. wir hatten fortgesetzt über Menschen zu urteilen, die unter außergewöhnlichen Umständen mit dem Paragraphenrecht in Konflikt kamen oder deren Handlungen von ihren politischen Gegnern so hingestellt wurden, daß sie als strafbare Handlungen verfolgt werden konnten. Die vorliegende Schrift, die dem Recht und der Befriedung dienen soll, will nicht alte Gegensätze, Meinungsverschiedenheiten und Leidenschaften neu beleben. Sie will ein Mahnruf sein und die Verantwortlichen zum Nachdenken darüber anregen, wie wir für die Zukunft den Rechtsstaat wieder aufrichten können. Wie viele deutsche Juristen, Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte sind der großen Krise, die wir durchgemacht haben, zum Opfer gefallen, darunter Männer des Rechtes, die zu den Besten der Nation gehörten und nicht mehr mitwirken können an der Gestaltung einer neuen Rechtsordnung. Um so größer ist die Verpflichtung der Überlebenden, nach bestem Wissen über das Geschehene zu berichten, damit man die Probleme erkennt, ohne deren Lösung der Rechtsstaat von morgen nicht denkbar ist. Ich habe in meinem Leben viele Menschen, Deutsche und Ausländer, Freunde und Gegner, in politischen oder wirtschaftlichen Strafprozessen verteidigt, Menschen aus allen Lagern, groß und klein, Katholiken, Protestanten und Juden, Freidenker, Nationalsozialisten und ihre Gegner. Ich fragte nicht, welcher Konfession, Rasse oder Partei der Betreffende angehörte, wenn es nur um das Recht ging. So ist mir jeder politische Strafprozeß ein menschliches Erlebnis gewesen. Ich habe die Männer leiden sehen, die nur aus politischen Gründen wie Verbrecher behandelt wurden und sich die Frage vorlegten: "Was haben wir denn getan, daß man uns so behandelt?" Ich habe auch in der Hitlerzeit mehr politische Gegner als Nationalsozialisten vertreten. Das ergab sich schon aus der Sachlage. Denn es sind zumeist die Gegner des jeweils herrschenden Regimes, die einen Verteidiger in politischen Prozessen brauchen. Ich war der Meinung, daß der Rechtsanwalt außerhalb des Streites, au dessus de la mêlée, wie es in Frankreich heißt, stehen sollte. Es gibt keine gute Justiz ohne unabhängige Richter; aber auch der Rechtsanwalt muß bei Ausübung seiner Pflichten im Kampf um das Recht frei sein. Das gilt besonders für den Verteidiger in politischen Prozessen. Dagegen habe ich, abgesehen von meiner Lehrzeit, nie wirkliche Kriminelle verteidigt. Ich war also kein Strafverteidiger im engeren Sinne. Die Strafprozesse politischer und wirtschaftlicher Art, die ich geführt habe, habe ich deshalb nie als Kriminalprozesse empfunden. Ich verstand nicht, weshalb es nicht möglich sein sollte, in irgendeiner Form eine reinliche Scheidung zwischen wirklichen Strafprozessen einerseits und politischen und Wirtschaftssachen andererseits zu ziehen und die Justiz vor der Gefahr zu sichern, daß sie zum Spielball der Politik erniedrigt würde. Justitia est fundamentum regnorum! - Die Gerechtigkeit ist die Grundlage des Staates! - Dieses Bekenntnis zum Recht hat sich noch immer als richtig erwiesen. Das ist eine einfache Wahrheit, die unserer Generation, die an allem zu zweifeln beginnt, was uns bislang als heilig und teuer erschien, wieder ins Gedächtnis gerufen werden muß. Wir müssen zum Rechtsstaat zurückkehren. Dazu gehört in erster Linie die reinliche Scheidung von Recht und Politik. Der Grundsatz der Gewaltenteilung, der uns seit Montesquieu gebräuchlich war, muß wieder allgemeine Geltung erlangen, nicht nur für die klassische Einteilung in Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung, sondern auch für die Trennung von Politik und Recht. Die Justiz muß wieder dem Recht dienen und nur dem Recht!
Dazu gehört auch die Erkenntnis, daß die unserem Rechtsdenken fremde
Einrichtung
eines Verfassungsgerichtshofes, jedenfalls in der Form, wie sie das Bonner Grundgesetz
eingeführt hat, ein Irrtum war. Die nach 1918 überall hervortretende Neigung,
politische Entscheidungen durch juristische Gutachten, Urteile und Sprüche zu
untermauern, führt zu Unklarheiten und Konflikten, weil sie die Verantwortung verlagert.
Solche Spannungen können zu Vertrauenskrisen führen, die die Form von
Staatskrisen annehmen. Zur Wahrung des Rechtes und der Rechtseinheit sind oberste
Gerichtshöfe bestimmt, wie sie für uns in der Form des Reichsgerichtes bestanden
haben, dessen Tradition heute vom Bundesgerichtshof in
Karlsruhe - nicht zu verwechseln mit dem Verfassungsgerichtshof, der ebenfalls in Karlsruhe
seinen Sitz
hat - fortgesetzt wird. Daneben haben sich die Verwaltungsgerichte bewährt, die eine
richterliche Kontrolle der Verwaltung ermöglichen. Politische Gerichte mit politisch
ausgewählten Richtern, wie es das Verfassungsgericht in Karlsruhe ist, gab es weder im
Bismarckreich noch in der Weimarer Republik. Es gibt sie auch in Frankreich nicht, das
ebenfalls
an den erprobten Einrichtungen des
Kassationshofes - Cour de Cassation - und des obersten
Verwaltungsgerichtes - Conseil d'Etat - als den alleinigen obersten Gerichten des Staates
festgehalten hat. Es gibt sie auch nicht in der Schweiz.
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