[21] Der Abschnitt "Danzig" im Versailler Vertrag
Dr. Theodor Rudolph, Die vom 16. Juni 1919 datierte Antwortnote der alliierten und assoziierten Mächte auf die deutschen Gegenvorschläge und Bemerkungen zu den Friedensbedingungen endet mit der an Deutschland gerichteten Aufforderung, binnen einer Frist von fünf Tagen eine bindende Erklärung dahin abzugeben, daß Deutschland bereit sei, den Vertrag, wie er ist, zu unterzeichnen. Die alliierten und assoziierten Mächte glauben, so heißt es in jener Note,
"daß dieser Vertrag nicht nur eine gerechte Regelung des Krieges darstellt, sondern auch die Grundlage schafft, auf der die Völker Europas auf dem Fuße der Freundschaft und der Gleichheit untereinander leben können". Am 17. Juni wird die Fünftagefrist großmütig um zwei Tage verlängert. Die deutsche Delegation verläßt Versailles. In der Frühe des 19. Juni trifft sie in Weimar ein. Am folgenden Tage tritt das Kabinett Scheidemann zurück und macht der Regierung Bauer Platz. Das Reichsministerium des Äußeren geht von Graf Brockdorff-Rantzau, dem Führer der deutschen Friedensdelegation, auf Hermann Müller über. Am 21. Juni sinkt die deutsche Flotte in das Grab von Scapa Flow. Am 22. Juni ermächtigt die Nationalversammlung die neue Regierung mit 237 gegen 138 Stimmen bei 5 Enthaltungen, den Friedensvertrag zu unterzeichnen,
"ohne damit anzuerkennen, daß das deutsche Volk der Urheber des Krieges sei und ohne eine Verpflichtung zur Auslieferung nach Art. 227-230 des Friedensvertrages zu übernehmen". Noch am selben Tage geht die deutsche Note über diese beschränkte Annahme der Friedensbedingungen an die Alliierten ab und trifft auch bereits die Antwort ein, der Vertrag sei ohne Vorbehalte anzunehmen oder abzulehnen. Eine am 23. Juni erbetene Fristverlängerung um 48 Stunden wird von den Alliierten nicht bewilligt. In letzter Stunde erklärt die Reichsregierung die vorbehaltlose Annahme des Vertrages mit diesen Worten:
"Die Regierung der Deutschen Republik hat aus der letzten Mitteilung der Alliierten und Assoziierten Regierungen mit Erschütterung ersehen, daß sie entschlossen sind, von Deutschland auch die Annahme jener Friedensbedingungen mit äußerster Gewalt zu erzwingen, die, ohne eine materielle Bedeutung zu besitzen, den Zweck verfolgen, dem deutschen Volke seine Ehre zu nehmen. Durch einen Gewaltakt wird die Ehre des deutschen Volkes nicht berührt. Sie nach außen hin zu verteidigen, fehlt dem deutschen Volke nach den entsetzlichen Leiden der letzten Jahre jedes Mittel. Der übermächtigen Gewalt weichend und ohne damit ihre Auffassung über die unerhörte Ungerechtigkeit der Friedensbedingungen aufzugeben, erklärt deshalb die Regierung der Deutschen Republik, daß sie bereit ist, die von den Alliierten und Assoziierten Regierungen auferlegten Friedensbedingungen anzunehmen und zu unterzeichnen." [22] Die Reichsregierung hatte sich dem Diktat gebeugt. Im Schlosse zu Versailles setzten die deutschen Bevollmächtigten am 28. Juni um 3 Uhr 19 Minuten nachmittags als erste, jedoch an letzter Stelle, ihre Unterschriften unter das Diktat der Siegermächte. Die Nationalversammlung ratifizierte den Versailler Vertrag in der Plenarsitzung vom 9. Juli mit 208 Stimmen gegen 115 Stimmen. Das von ihr angenommene "Gesetz über den Friedensschluß zwischen Deutschland und den alliierten und assoziierten Mächten" wurde unter dem 16. Juli vom Reichspräsidenten Ebert ausgefertigt und mit dem Wortlaut des Vertrages, einem Zusatzprotokoll und einer Vereinbarung betreffend die militärische Besetzung des Rheinlandes in der Nummer 140 des am 12. August ausgegebenen Reichsgesetzblattes veröffentlicht. Der Vertrag von Versailles umfaßt nicht weniger als 440 Artikel, von denen die Danzig betreffenden den XI. Abschnitt mit den Artikeln 100-108 im dritten, die politischen Bestimmungen über Europa behandelnden Teile einnehmen. Der voraufgehende X. Abschnitt regelt die Abtrennung des Memelgebietes, der nachfolgende Abschnitt XII umfaßt die Bestimmungen über das Schicksal Schleswigs. Im Artikel 100 des Vertrages ist der Verzicht Deutschlands auf das Gebiet ausgesprochen, dessen Grenzen anschließend z. T. genau, z. T. an Hand einzelner Geländeangaben annähernd genau bestimmt werden. Auf einer deutschen Generalstabskarte, die dem Vertrage als Anlage beigegeben ist, sind die vorbeschriebenen Grenzen mittels durchlaufender bzw. punktierter Linien eingetragen. Über die Festlegung der Grenzen des Gebietes von Danzig an Ort und Stelle bestimmt der Artikel 101, daß binnen zwei Wochen nach Inkrafttreten des Versailler Vertrages ein aus drei von den alliierten und assoziierten Hauptmächten ernannten Mitgliedern und je einem von Deutschland und von Polen ernannten Mitgliede bestehender Ausschuß, dessen Vorsitz einer der Vertreter der alliierten Hauptmächte führt, zusammenzutreten hat, um die Grenzziehung unter Berücksichtigung der bestehenden Gemeindegrenzen vorzunehmen. Der Artikel 102 verpflichtet die alliierten Hauptmächte, die Stadt Danzig nebst dem im Artikel 100 bezeichneten Gebiet als eine Freie Stadt zu begründen. Er enthält weiter die Bestimmung, daß diese Freie Stadt Danzig unter den Schutz des Völkerbundes gestellt werden soll. Im Anschluß hieran besagt der Artikel 103, die Verfassung der Freien Stadt sei von ordnungsgemäß berufenen Vertretern der Freien Stadt im Einvernehmen mit einem Hohen Kommissar des Völkerbundes, der seinen Sitz in Danzig hat, auszuarbeiten. Die Verfassung soll unter die Garantie des Völkerbundes gestellt werden. Der Hohe Kommissar des Völkerbundes in Danzig wird ferner mit der erstinstanzlichen Entscheidung aller jener Streitfälle betraut, die zwischen Polen und der Freien Stadt Danzig im Zusammenhange mit dem Versailler Vertrage oder ergänzenden Vereinbarungen und Abmachungen entstehen sollten. Richtlinien für das Verhältnis zwischen Danzig und Polen gibt der folgende Artikel 104. Es heißt dort, die alliierten und assoziierten Hauptmächte verpflichten sich, zwischen der polnischen Regierung und der Freien [23] Stadt Danzig ein Abkommen zu vermitteln, das zugleich mit der Errichtung der Freien Stadt in Kraft treten soll. Dieses Abkommen bezweckt
Die folgenden Artikel behandeln Fragen, die unmittelbar mit der Zession des Gebietes von Danzig zusammenhängen. Die Artikel 105 und 106 befassen sich mit der Frage des Staatsangehörigkeitswechsels. Die in dem im Artikel 100 näher bezeichneten Gebiete wohnhaften deutschen Reichsangehörigen verlieren mit Inkrafttreten des Versailler Vertrages von selbst die deutsche Reichsangehörigkeit, um Staatsangehörige der Freien Stadt Danzig zu werden. Sie können auch gemäß Artikel 106 für Deutschland optieren. Das im Gebiete der Freien Stadt Danzig belegene Staatsgut des Reiches und der deutschen Länder geht, wie der Artikel 107 festlegt, zuerst auf die alliierten Hauptmächte über, um alsdann von diesen nach gerechtem Ermessen an die Freie Stadt Danzig oder den polnischen Staat weiter vergeben zu werden. Der letzte Artikel 108, der sich mit Danzig beschäftigt, bestimmt, daß Umfang und Art der finanziellen Lasten, die die Freie Stadt Danzig vom Deutschen Reich und von Preußen zu übernehmen hat, noch gemäß Artikel 254 Teil IX des Vertrages festgesetzt werden sollen. Der Artikel schließt mit einem zweiten Absatz, in dem es heißt, daß alle andern Fragen, die sich etwa noch aus der Abtretung des Gebietes von Danzig ergeben könnten, durch spätere Bestimmungen geregelt werden sollen. Als Termin der Abtretung des Gebietes von Danzig an die alliierten und assoziierten Hauptmächte und des Erlöschens der Reichsangehörigkeit der Be- [24] völkerung bezeichnet der Artikel 105 das Inkrafttreten des Versailler Vertrages. Das Inkrafttreten selbst ist an die Errichtung des ersten Protokolls über die Niederlegung der Ratifikationsurkunden von drei alliierten und assoziierten Hauptmächten einerseits und Deutschland anderseits im französischen Außenministerium geknüpft.
Am 10. Januar 1920 wurde dieses erste Protokoll errichtet. Außer
dem Deutschen Reich hatten inzwischen England, Frankreich, Italien und Japan
den Vertrag von Versailles ratifiziert. |