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Auswanderung der Juden
aus dem Dritten Reich

Ingrid Weckert


Teil 10 - Der Mossad le Aliyah Bet und die illegale Einwanderung

"Mossad le Aliyah Bet'' heißt wörtlich: "Büro für die zweite Einwanderung". Damit war die illegale Einwanderung nach Palästina gemeint. Aus diesem Büro entwickelte sich später der israelische Geheimdienst "Mossad". Dieses Büro war schon 1937 von Juden aus Palästina in Paris gegründet worden. Die Notwendigkeit dafür ergab sich aus der britischen Palästina-Politik. Die Engländer gaben nur eine beschränkte Anzahl von Einwanderungs-Zertifikaten aus, jedenfalls viel weniger, als Juden nach Palästina einwandern wollten.

Die Einwanderer wurden, entsprechend ihrem Vermögen, Beruf und Stand, in bestimmte Kategorien eingeteilt und die Zertifikate wurden auf diese Kategorien, je nach Wünschbarkeit der Einwanderung, verteilt. Wenn man also das Pech hatte, einer Kategorie anzugehören, die die Mandatsmacht als nicht notwendig erachtete, konnte man mit keinem Visum rechnen.

In den Jahren von 1932 bis 1945 waren folgende Einwanderungskategorien in Geltung:

Kategorie A. Personen mit eigenem Vermögen
A1: Kapitalisten mit Eigenkapital von LP (Palästina-Pfund) 1000.
A2: Angehörige freier Berufe mit LP 500, soweit die wirtschaftliche Lage nach Ansicht der Einwanderungsbehörde die Einwanderung rechtfertigt.
A3: Handwerker mit mindestens 250 LP.
A4 Rentenempfänger mit Mindestrente von LP 4 monatlich.45
A5: Personen, die einen "seltenen", im Lande wenig vertretenen Beruf ausüben, mit Kapital von mindestens LP 500.

Kategorie B: Personen mit gesichertem Lebensunterhalt
B1: Waisenkinder unter 16 Jahren, deren Lebensunterhalt durch öffentliche Institutionen gesichert ist.
B2: Personen religiöser Berufe.
B3: Studenten und Schüler, deren Lebensunterhalt bis zur Berufsausübung gesichert ist.

Kategorie C: Arbeiterzertifikate
Für Arbeiter zwischen 18 und 35 Jahren. Die Zahl dieser Zertifikate wurde zweimal jährlich von der Palästina-Regierung bestimmt.

Kategorie D war Ehefrauen, Kindern und Eltern von in Palästina lebenden Juden vorbehalten, sofern diese nachweisen konnten, daß sie für den Lebensunterhalt ihrer Angehörigen sorgen können.

Dann gab es noch die Kategorie "Jugendalija" für Jugendliche zwischen 15 und 17 Jahren.46

Man kann verstehen, daß jüdische Führer vom Zorn übermannt wurden bei einer solchen Katalogisierung jüdischer Bürger nach Nützlichkeitsstandpunkten. Zumal das Mandat über Palästina vom 24. Juli 1922 von England forderte, die jüdische Einwanderung - unter Wahrung der Rechte anderer Volksgruppen im Land - weitgehend zu erleichtern und zu unterstützen. Sie suchten daher von Anfang an nach Wegen, diese Bestimmungen zu umgehen, und Judentransporte nach Palästina auf - nach britischem Verständnis - illegalen Wegen zu organisieren.

Am 17. Mai 1939 veröffentlichten die Briten ein neues Weißbuch, mit dem die Einwanderungsbestimmungen wieder einmal verschärft wurden.

Die Mitarbeiter des Mossad richteten also ab 1937 in allen Ländern Europas ihre Büros ein und nahmen auch sofort Kontakt mit Berliner Dienststellen auf, vor allem mit der SS und der Gestapo. Von da ab begann eine lebhafte Zusammenarbeit zwischen Gestapo und Mossad.

Entsprechend ihrer Grundeinstellung zur jüdischen Auswanderung waren SS und Gestapo den Mossad-Agenten vielfältig behilflich. Im Dezember 1938 hatte Himmler angeordnet, daß jüdische Häftlinge aus den Konzentrationslagern entlassen werden sollten, wenn sie ihre Auswanderung vorbereiten wollen.47 Darüber hinaus wurde Mossad-Agenten erlaubt, in die Lager zu gehen und dort Juden anzuwerben, die bereit waren, auf illegalen Auswandererschiffen nach Palästina zu gehen. Ihrer Entlassung stand dann nichts im Wege. Kimche schreibt:

"Weil er (Pino, der Beauftragte des Mossad) der Gestapo eine Garantie dafür gab, daß er für ihre sofortige Auswanderung sorgen würde, war Pino in der Lage, eine große Anzahl junger Juden aus den Konzentrationslagern zu erlösen. Eine von ihm unterschriebene Bescheinigung reichte aus, ihre Freigabe zu erwirken."48

Da die Palästinaroute inoffiziell war, benötigten die Auswanderer Visa von anderen Ländern, z.B. bei Kontrollen in Häfen, die unterwegs angelaufen werden mußten. Die Gestapo setzte sich dafür ebenso ein, wie für die Charterung geeigneter Schiffe, deren Kosten sie teilweise sogar übernahm. Im Jahr 1939 fuhren zahlreiche Schiffe von Europa nach Palästina und brachten Tausende von Einwanderern illegal ins Land.49

Auch mit Kriegsausbruch hörte die Zusammenarbeit zwischen Mossad und Gestapo nicht auf, sondern wurde eher noch forciert. Aber die Auswanderungspapiere wurden oft auf andere Länder ausgestellt und den Auswanderern wurde eingeschärft, daß sie über das wirkliche Ziel nichts erzählen dürften. Ohne die Mithilfe von SS und Gestapo und ohne stillschweigende Duldung deutscher Behörden wäre die Arbeit des Mossad nicht möglich gewesen.

Noch vor Kriegsbeginn, im Sommer 1939, hatte man geplant, auf einen Schlag zehntausend Juden von deutschen Häfen aus nach Palästina zu verschiffen. Aber noch ehe die Schiffe auslaufen konnten, brach der Krieg aus und die Engländer sperrten den Kanal.




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Teil 11 - Vorschläge der "Irgun"

Dieser Plan wurde zwei Jahre später, im Sommer 1941, noch einmal von Abraham Stern, damals einer der Führer der "Irgun", der jüdischen antibritischen Widerstands- und Freiheitsorganisation,50 aufgegriffen. Er sagte den Deutschen Hilfe im Kampf gegen England zu und schlug als Gegenleistung vor, die Ausschiffung der zehntausend Juden aus Deutschland jetzt, mitten im Krieg, durchzuführen.51 Er war der Meinung, die deutschen Schiffe seien in der Lage, die englische Blockade zu durchbrechen und die Juden nach Palästina zu bringen. Und wenn sie erst einmal dort seien, könnten die Engländer sie nicht mehr zurückbringen.

Ob dieser Vorschlag jemals an die richtige Adresse gelangte, ist fraglich, da die von Stern ausgesandten Unterhändler später in Syrien gefangengenommen wurden. Jedenfalls mußte Berlin es für aussichtslos halten, die Seeblockade brechen zu wollen. Ein Konvoi von Schiffen mit Zivilisten, vor allem auch Frauen und Kindern, hätte kaum Chancen gehabt, unverletzt Palästina zu erreichen. Dafür hätte die deutsche Regierung nicht die Verantwortung übernehmen können.

Dies war bereits der zweite Kontaktversuch, den Stern unternahm. Ein halbes Jahr vorher, im Januar 1941, hatte die "Irgun" schon einmal versucht, mit der deutschen Regierung Kontakt aufzunehmen.52

In einem Schreiben unterbreitete sie ihr den Vorschlag, auf deutscher Seite gegen England zu kämpfen, und zwar sowohl in Palästina, durch Sabotage und Agententätigkeit, als auch im Ausland. Als Gegenleistung verlangte sie die "Anerkennung der (...) nationalen Aspirationen der Israelitischen Freiheitsbewegung seitens der Deutschen Reichsregierung" und die Aufstellung einer jüdischen Brigade ("militärische Ausbildung und Organisation der jüdischen Manneskraft Europas, unter Leitung und Führung der N.M.O., in militärischen Einheiten und deren Teilnahme an Kampfhandlungen zum Zwecke der Eroberung Palästinas, falls eine entsprechende Front sich bilden sollte"). (Kompletter Text dieses historischen Dokuments im Anhang.)

Dieser Brief wurde offensichtlich zur gleichen Zeit abgesandt, als zwei von Stern ausgesandte Agenten sich bei Werner Otto von Hentig in Beirut einfanden. Hentig war Gesandtschaftsrat im Auswärtigen Amt und befand sich Anfang 1941 auf einer Dienstreise in dem damaligen französischen Mandatsgebiet. Das Gespräch muß einen ähnlichen Inhalt wie der Brief gehabt haben, denn Hentig schreibt darüber:

In Beirut nahm ich (...) (im) 'Hotel Monopol' Quartier. (...) Die merkwürdigste Delegation kam aus Palästina selbst. Der Führer, ein vorzüglich aussehender jüngerer Offizierstyp, erbot sich, mit den Nationalsozialisten gegen die eigenen Leute, vor allem die orthodoxen Zionisten, zusammenzuarbeiten, wenn ihnen Hitler die Eigenstaatlichkeit eines jüdischen Palästina gewährleiste."53

"Der jüdischen Delegation aber hatte ich auf ihr Bündnisangebot nur sagen können, daß die von ihr gestellte Bedingung ganz bestimmt niemals, mit Rücksicht auf unsere arabischen Freunde und unsere allgemeinen Grundsätze, angenommen werden könne."54

Der Brief der "Irgun", der in deutscher Sprache abgefaßt war, ist sicher nach Berlin gelangt,55 aber ob eine deutsche Reaktion darauf erfolgt ist, läßt sich aus den Akten nicht ersehen.




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Teil 12 - Schluß

Die illegale Einwanderung nach Palästina ging auch noch nach Kriegsende bis zur Staatsgründung Israels weiter, da die Briten die Grenzen Palästinas für Juden weiterhin gesperrt hielten. Insgesamt konnten im Verlauf von zehn Jahren, also von 1938 bis 1948, weit über hunderttausend Juden illegal nach Palästina einwandern.56

Die Gesamtzahl aller Juden, die Deutschland (und Österreich) nach 1933 verließen, ist statistisch nicht festzustellen, da weder bei den Auswanderungsstellen noch bei den Einwanderungsbehörden Zählungen erfolgten. Schätzungen belaufen sich auf Zahlen zwischen 200.000 und 507.000, eine Diskrepanz, die die Fragwürdigkeit dieser Zahlen aufweist.57

Tatsächlich beruhen alle diese Zahlen - mit einer Ausnahme - auf bloßen Vermutungen und beziehen sich zudem auf unterschiedliche Gruppen und Zeiten. Zuverlässige, alle Auswanderungen umfassende Statistiken gibt es nicht. Unter Auswanderung aus Deutschland verstehen manche Autoren Deutschland in den Grenzen des Altreichs, also bis März 1938. Andere rechnen Österreich hinzu. Einige wollen nur die Jahre 1933 bis 1939 zugrundelegen, obwohl feststeht, daß nach Kriegsbeginn die Auswanderung weiterging und die illegale Auswanderung nach Palästina erst 1938 richtig einsetzte.

Es gibt nur eine Zahl, die auf einer offiziellen deutschen Angabe beruht. Aber gerade diese Zahl wird von allen Autoren abgelehnt, weil sie zu hoch erscheint. Kurioserweise ist diese Zahl in einem Dokument enthalten, das ansonsten höchstes Ansehen genießt, weil man mit ihm den deutschen Plan einer "Judenvernichtung" beweisen will: dem "Wannseeprotokoll". Alle Angaben dieses Dokuments werden als glaubwürdig und beweiskräftig eingestuft, nur nicht die genannten Auswanderungszahlen.

Es heißt dazu auf S. 4 des Protokolls, daß "seit der Machtübernahme bis zum Stichtag 31.10.1941 insgesamt rund 537.000 Juden zur Auswanderung gebracht" wurden. "Davon
vom 30.1.1933 aus dem Altreich rd. 360.000
vom 15.3.1938 aus der Ostmark rd. 147.000
vom 15.3.1939 aus dem Protektorat Böhmen und Mähren rd. 30.000".

Wir wollen hier nicht die Frage der Echtheit oder Unechtheit des Protokolls aufwerfen und auch nicht die der Bedeutung des Treffens in der Wannsee-Villa, die neuerdings divergent beurteilt wird. Es geht hier nur darum, wieder einmal auf die Tatsache aufmerksam zu machen, daß von der Zeitgeschichtsschreibung willkürlich bestimmte Inhalte eines Dokuments als echt und richtig akzeptiert werden, während andere für unglaubwürdig gelten.

Für unser Thema bleibt es also bei der zuerst gemachten Feststellung, daß genaue Zahlen für die Auswanderung nicht vorliegen.

Von den Auswanderern gingen ca. 1/4 bis 1/3 nach Palästina, 1/3 in europäische Länder und der Rest nach Übersee, vor allem Nord- und Südamerika.

Die Haavara wird, wie schon zu Anfang gesagt, gelegentlich in der Fachliteratur erwähnt, in den öffentlichen Medien jedoch kaum. Das Rublee-Wohlthat-Abkommen ist so gut wie unbekannt. Die Mehrzahl der Deutschen wird mit Sicherheit über den Holocaust ausreichend unterrichtet sein, von einem Auswanderungsplan, durch den die überwiegende Mehrzahl der deutschen Juden das Land unbehelligt verlassen konnten, jedoch kaum etwas gehört haben. Das ist offensichtlich eine der "volkspädagogisch unerwünschten Wahrheiten", wie der Schweizer Professor Walther Hofer es einmal formulierte.

Die Aufgabe von Historikern wird es jedoch immer bleiben, auch gegen die Zeitströmung, Wahrheiten ans Licht zu verhelfen, deren Kenntnis die Vergangenheit in einem klareren Licht zu sehen erlaubt.


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Anmerkungen

45An dieser geringen Summe, die offensichtlich zur Bestreitung der Lebenshaltungskosten ausreichend war, kann man ermessen, welche Kaufkraft 1000 Palästina-Pfund damals hatten. ...zurück...

46Aus: Philo-Atlas. Handbuch für die jüdische Auswanderung, Berlin 1938, Sp. 141-144, zit. in: Brita Eckert (Hg.), Die jüdische Emigration aus Deutschland 1933-1941. Die Geschichte einer Austreibung. Eine Ausstellung der deutschen Bibliothek, Frankfurt am Main, unter Mitwirkung des Leo Baeck Instituts, New York. Frankfurt am Main 1985. "Emigration", S. 143. ...zurück...

47"Der Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei hat die Entlassungssperre für Juden, die auszuwandern beabsichtigen, aufgehoben." Runderlaß vom 8.12.1938, Bundesarchiv Koblenz (BA), R 58/276, Bl. 165. Eine Anzahl ähnlich lautender Verfügungen bis in das Jahr 1942 findet sich in weiteren Dokumentenbänden. ...zurück...

48Kimche (Anm. 39), S. 30. ...zurück...

49Ausfhrlich dazu der Band von Kimche (Anm. 39), der allerdings einige sachliche Fehler aufweist. Interessante Einzelheiten finden sich auch im Aufsatz von Ball-Kaduri, der jedoch, wie Kimche, nicht immer ganz zutreffend ist. Kurt Jakob Ball-Kaduri, "Illegale Judenauswanderung aus Deutschland nach Palästina 1939/1940 - Planung, Durchführung, und internationale Zusammenhänge", in: Jahrbuch des Instituts für Deutsche Geschichte, hg. v. Walter Grab, Bd. 4, Tel Aviv 1975, S. 387-421. ...zurück...

50Der komplette Name lautet "Irgun Zewai Leumi" = "Nationale Militärorganisation". Abraham Stern hatte sich zwar bereits im September 1940 von der "Irgun" getrennt und eine eigene Gruppe, "Lechi" ("Lochamei Cherut Israel" = "Kämpfer für die Freiheit Israels") gegründet. Aber in den ersten Monaten nach der Trennung firmierte er noch mit dem alten Namen, da er sich als Vertreter der legitimen "Irgun" fühlte. ...zurück...

51Samuel Katz, Tage des Feuers. Das Geheimnis der Irgun, Königstein/Ts. 1981, S. 85f. ...zurück...

52Laut Brenner hat Stern das betreffende Schreiben veranlaßt. Lenni Brenner, Zionism in the Age of the Dictators, Westport 1983, S. 267. ...zurück...

53Werner Otto v. Hentig, Mein Leben eine Dienstreise, Göttingen 1962, S. 338f. ...zurück...

54Hentig (Anm. 53), S. 399. ...zurück...

55Kopie dieses Schreibens befindet sich im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes, Bonn (PA/AA), Nr. E 234152-234158. ...zurück...

56Nicosia (Anm. 22), S. 245. ...zurück...

57Rosenstock versucht etwas Licht in diese Verwirrung zu bringen, indem er wenigstens die Imponderabilien aufzeigt und damit klarmacht, daß alle Zahlen Vermutungen bleiben müssen: Werner Rosenstock, "Exodus 1933-1939. Überblick über die jüdische Auswanderung aus Deutschland", in: Robert Weltsch (Hg.), Deutsches Judentum - Aufstieg und Krise. Gestalten, Ideen, Werke, Stuttgart 1963, S. 380-405. ...zurück...


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