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Bd. 9: Das Deutsche Reich
und die Vorgeschichte des Weltkrieges, Erster Teil


Hermann Oncken, ord. Professor an der Universität Berlin

Kapitel 1: Das alte Reich
und die Begründung des neuen Reiches
  (Forts.)

[89] 6. Die europäische Entscheidung.

Der Krieg von 1866 war nach dem Urteil Jacob Burckhardts eine abgeschnittene Krisis ersten Ranges. Denn er endete in einem politischen Waffenstillstand, nicht zwischen den Beteiligten, zwischen denen eine volle Entscheidung gefallen war, wohl aber zwischen der siegreichen Macht und einem Dritten, der den Anlauf nahm, dazwischenzutreten. So kam es zu einem Stillestehen auf halbem Wege in einer Frage, deren Wesen nun einmal nur eine ganze Lösung vertrug, zu einem Stillestehen in einer unfertigen Ordnung und in einer unsichern Situation. Eine Streitfrage von weltgeschichtlichen Horizonten, in den Tiefen der Nation auf das innerlichste umkämpft und zugleich fast alle Großmächte in ihren Interessen berührend, erfährt eine Lösung, an deren Dauer und Endgültigkeit niemand glauben kann, und im Mittelpunkt der nächsten Jahre wird das Problem stehen, ob das Provisorische der deutschen Staatsgründung gleichsam das letzte Wort enthalten soll, oder ob der natürliche Lauf einer großen Entwicklung über die von außen her künstlich herbeigeführte Unterbrechung hinwegrollen wird.

Die Jahre 1867 bis 1870 stehen in der deutschen Geschichtsbetrachtung unter einer unsichern Beleuchtung, wie die Stunde der Dämmerung, die zwischen Dunkel und Licht liegt. Sie werden in der Regel als eine Vorstufe empfunden, die rasch durchschritten worden sei, da der Gang der Dinge automatisch weiterdrängte. Auf der andern Seite hat man die Jahre als ein Deutschland der tiefsten Zersplitterung gekennzeichnet, da, abgesehen von der Zeit der napoleonischen Herrschaft, in dem Reiche der Ottonen und Hohenstaufen seit tausend Jahren keine ähnliche, völkerrechtlich festgestellte Aufteilung erlebt worden sei; insofern als neben dem geschlossenen Norddeutschen Bunde nunmehr die Königreiche Bayern und Württemberg und die Großherzogtümer Baden und Hessen zu souveränen Mitgliedern der europäischen Staatengesellschaft aufgestiegen seien, weder durch den im Prager Frieden vorgesehenen Südbund untereinander zusammengehalten noch mit dem Nordbund durch staatsrechtliche Bande verknüpft. Dagegen läßt sich formal staatsrechtlich nichts einwenden, aber der politischen Wirklichkeit wird eine solche Feststellung der äußern Form nichts weniger als gerecht. Die völkerrechtlichen Schutz- und Trutzbündnisse zwischen Preußen und dem Süden auf der einen Seite, die wirtschaftliche Gemeinschaft in dem erneuerten Zollverein auf der andern Seite, beides getragen von dem Strome der nationalen Bewegung, belebt von dem Glauben, daß der Fortgang der [90] Dinge jetzt nicht mehr aufzuhalten sei, das Ganze dieser Kombinationen enthielt zusammen so viel dynamische Unwägbarkeiten, daß der Ausnahmezustand des Provisoriums darüber ertragen und hingenommen wurde.

Freilich, die Hemmungen waren darum doch nicht zu unterschätzen. Die Leidenschaften, die in dem rasch abgeschnittenen Kriege sich nach außen nicht hatten ausleben können, schwelten, nach allen Seiten verdrängt, in der Tiefe weiter. Und wie hätten, angesichts der gewaltigen historischen Lebenskräfte, die auf dem Spiele gestanden, die Menschen sich sogleich der wie ein Blitz herniederfahrenden Entscheidung demütig beugen sollen. So blieben überall Rückstände, das Revanchebedürfnis der österreichischen Großmacht, das Ressentiment entsetzter Fürsten und partikularer bodenständiger Kräfte, das Widerstreben bayerischer Klerikaler und württembergischer Demokraten, die doch alle nicht nur eine politische Niederlage erlitten hatten, wie andere auch, sondern eine Welt von Idealen, einen weltanschaulichen geschichtlichen Zusammenhang verloren hatten, den sie nicht für immer kampflos aufgeben wollten. Und doch wäre die Summe aller dieser Widerstände nicht lebenskräftig gewesen, sich gegen den Fortgang zu erheben, wenn nicht am Himmel die Wolke Napoleons gestanden hätte, die Möglichkeit einer französischen Intervention, die allein imstande war, die abgeschnittene Krisis wieder zu eröffnen und dann, so hoffte man im Lager der Besiegten, zu einem Siege hinaufzuführen. Das ist das große Geheimnis dieser Jahre, die eigentliche Erklärung des Provisoriums, in dem die Deutschen nun weiterleben.

Zunächst sollte die Kompensationskrise des August 1866 in mehreren Stufen ablaufen. Die französische Regierung unterbreitete, um sich den unvermeidlichen Rückzug zu erleichtern, in Berlin sofort einen neuen Vorschlag. Nunmehr wurden die Abtretung der deutschen Bundesfestung Luxemburg und ein Geheimvertrag über Belgien (das seit seiner Begründung nicht aufgehört hatte, ein heimliches Ziel der französischen Wünsche zu bilden) als eine ausreichende französische Kompensation für die nationale Einigung Deutschlands bezeichnet. Diesem bedenklichen Vorschlage gegenüber war Bismarck, immer wieder dilatorisch ausweichend, darauf bedacht, eine vertragsmäßige Bindung und eine europäische Mitverantwortlichkeit für einen französischen Anfall auf Belgien zu vermeiden: einer solchen "Verschwörung" würde die gerechte und edle Natur König Wilhelms sich unter allen Umständen widersetzt haben. Sobald das Drängen aus Paris ungeduldiger wurde und sich auf die sofortige Erwerbung Luxemburgs versteifte, ließ der preußische Minister, der in diesen Wochen den Grund der Norddeutschen Bundesverfassung legte, immer deutlicher durchblicken, daß ein solcher Verzicht von preußischer Seite denkbar sei gegen die vorbehaltlose Anerkennung der nationalen Entwicklung Deutschlands, dagegen als ein Preis zur vorübergehenden Beruhigung der öffentlichen Meinung zu hoch sein würde. Als dann Kaiser Napoleon durch überstürztes Vorgehen im März 1867 den Gegenspieler vor eine [91] vollendete Tatsache zu stellen suchte, rief Bismarck die europäischen Mächte an. Er vermied den Krieg und nahm den Kompromiß an, der die Bundesfestung Luxemburg neutralisierte. Die große Auseinandersetzung zwischen Frankreich und Deutschland war zunächst vertagt.

Bis zum Ablauf der Luxemburger Krisis war die Möglichkeit eines rascheren Fortgangs der deutschen Einheit im Feuer großer Ereignisse noch auf allen Seiten erwogen worden, seit dem Frühjahr 1867 begannen die Menschen wieder mit längeren Fristen zu rechnen und sich innerhalb des Provisoriums irgendwie einzurichten. Der Abschluß der norddeutschen Bundesverfassung erfolgte, die süddeutschen Staaten bemühten sich um den Südbund und erneuerten ihre unvollkommene Militärverfassung, in Österreich begann man sich nach der Einführung des Dualismus wieder auf einen selbständigen Weg zu besinnen, und vor allem unternahm die napoleonische Politik, nachdem die Luxemburger Illusion ihr unter den Händen zerronnen war, eine zielbewußte Aktion, die ihr über Wien den Rückweg nach Deutschland erleichtern sollte.

Es konnte nicht anders sein, als daß die Norddeutsche Bundesverfassung vom 16. April die Merkmale des Provisoriums an sich trug. Wenn man sie in einen historischen Zusammenhang einreihen will, so kann man sie in gewissem Sinne, was die äußern Bestandteile angeht, an die Frankfurter Reichsverfassung von 1849 anknüpfen, aber mit der doppelten Modifikation, die sich hinsichtlich der inneren Machtverteilung aus der staatsschöpferischen Rolle und dem Siege Preußens und hinsichtlich der äußern Abgrenzung aus dem Dazwischentreten Napoleons ergab. Die Norddeutsche Bundesverfassung war dementsprechend nicht ein Werk, das aus dem Kampfe der politischen Ideen und Theorien hervorging, sondern aus dem Entwurfe eines Einzigen, der den in der gegenwärtigen Lage nach außen und innen entstandenen Machtzusammenhang gleichsam in die Formen einer Verfassung umgoß und das Ganze dem konstituierenden Reichstag zur Diskussion und Beschlußfassung unterbreitete; es ist bezeichnend, daß die Annahme unter dem Druck der auswärtigen Spannung erfolgte, die durch die Luxemburger Frage ausgelöst worden war. Das Ganze war ein Bundesstaat unter Führung Preußens, aber wie sehr empfing er sein Gesicht nicht aus dem Geiste des Theoretikers, sondern von der Hand des staatsschöpferischen Politikers! Bismarck hatte seinem Mitarbeiter Savigny für die Gestaltung der Verfassung am 30. Oktober 1866 die Anweisung gegeben: "Man werde sich in der Form mehr an den Staatenbund halten müssen, diesem aber praktisch die Natur des Bundesstaates geben, mit elastischen, unscheinbaren, aber weitgreifenden Ausdrücken." Er legte sie daher in seinem Entwurfe so elastisch an, daß sie die Tore für den spätern Beitritt der Süddeutschen mühelos offenhielt und ohne wesentliche Veränderungen zur Grundlage der Reichsverfassung von 1871 werden konnte. Dieses Verhältnis ist um so überraschender, als die bundesstaatliche [92] Idee durch das weit überragende Übergewicht Preußens im Norddeutschen Bunde zunächst fast in den Schatten gedrängt schien. Manchen Politikern schienen damals die Zeichen der Zeit eher auf ein Großpreußen hinauszudeuten, und auch in Europa sah man den Umschwung mehr als eine Eroberung Norddeutschlands durch Preußen denn als Errichtung eines Bundesstaates an, in dem Preußen nur die Führung zustand. Man darf wohl sagen, daß dem bundesstaatlichen Gedanken erst durch den Eintritt der Süddeutschen zu einer stärkern Geltung verholfen worden sei. Noch war aus dem Wortlaut der Verfassung nicht abzulesen, wie sich das politische Dasein des neuen Staates in dieser Lebensform auswirken würde; es wird immer denkwürdig bleiben, wie die spätere Machtkonzentration im Amte des Reichskanzlers sich nur daraus ergab, daß die Liberalen wohl die Verantwortlichkeit des Bundeskanzlers dem Reichstage gegenüber, nicht aber ein kollegiales Bundesministerium durchzusetzen vermochten. Schließlich überwog in den Verhandlungen des konstituierenden Reichstages die Stimmung, das Werk werde erst durch den Beitritt des Südens abgeschlossen. So schrieb Rudolf von Bennigsen einem süddeutschen Parteifreunde am 27. April: "Hier im Norden sehen in dem Zustandekommen dieser Verfassung alle Weiterblickenden einen außerordentlichen Fortschritt, meiner Meinung nach den größten, welchen Deutschland seit der Reformationszeit wirklich gemacht, nicht bloß versucht hat. Der Süden hat es vollkommen in der Hand, jeden Tag beizutreten. Eine Agitation im großen Stile müßte mit der Sache in wenigen Wochen fertig werden können!" Also dachten die Männer der Nationalpartei, die in dem Schlußartikel der Verfassung den Zusatz durchsetzten: "Der Eintritt der süddeutschen Staaten oder eines derselben in den Bund erfolgt auf Vorschlag des Bundespräsidiums im Wege der Bundesgesetzgebung." Die Tore standen weit offen.

Aber so fest auch das Ziel stand, die Durchführung der Aufgabe war an die große Politik gebunden. Das Zukunftsprogramm, das Bismarck dem Großherzog Friedrich von Baden, dem idealistischen Bundesgenossen der Nationalpartei, übersandte, lautete in vieldeutigen und unbestimmten Sätzen: vorerst sich an die Mainlinie halten und dem Norden Zeit zum inneren Ausbau lassen, eine Verbindung von Nord und Süd nur als Zeitfrage behandeln und in der Zwischenzeit, ohne zu provozieren, alles tun, was diese Verbindung vorbereiten könne; im Kriegsfalle aber die Mainschranke entschlossen durchbrechen. Fast noch bestimmter sprach sich König Wilhelm seinem Schwiegersohn gegenüber aus: "Diese Manifestation des Südens nach dem Norden muß von Euch encouragiert werden, damit man auch jenseits des Rheins einsieht, daß ein Nationalwille vorhanden ist, dem der Norden sich nicht widersetzen dürfe auf die Dauer."

Der Weg zu diesem Ende lag darum doch im Dunkeln und sollte weder in gerader Linie noch in raschem Tempo zurückzulegen sein. Das letzte Zwischenspiel in dem großen vaterländischen Drama sollte sich nicht mit der inneren [93] Logik des Unaufhaltsamen abwickeln, sondern der nationale Impuls, der diese Menschen als etwas Unbedingtes erfüllte, mußte sich immer wieder den Mächten anpassen, die jenseits des deutschen Volkes die Geschicke bestimmten, und in den Künsten diplomatischer Kleinarbeit aufgehen, um nur einen Schritt vorwärtszukommen. Das letzte Stadium der Vollendung der deutschen Geschicke war keine innenpolitische Angelegenheit, sondern eine Frage der Außenpolitik, vor allem der Stellungnahme Frankreichs.

Darüber machte man sich damals keine Illusionen. In jenem Briefe Bennigsens vom 27. April 1867 hieß es zum Schluß: "Für ein historisches Urteil kann leider kein ernsthafter Zweifel darüber sein, daß Frankreich nach seiner traditionellen Politik die Bildung einer stärkeren Kontinentalmacht, als es selbst ist, nicht ruhig dulden kann, ohne vorerst einen sehr kriegerischen Versuch zu machen, diese deutsche Präponderanz im Entstehen zu hindern." Wenige Tage zuvor, am 23. April 1867, noch während der Luxemburger Ausgleichsverhandlung, hatte Napoleon durch seinen Botschafter in Wien, Herzog von Gramont, Österreich ein Offensiv- und Defensivbündnis mit weitgreifenden Kriegszielen anbieten lassen. Für sich selbst verlangte er das linke Rheinufer, das "er zu erwerben beabsichtige", namentlich die bayerische Pfalz und den linksrheinischen Teil der preußischen Rheinprovinz; dagegen würde Österreich Schlesien erhalten und könne sich in Süddeutschland ganz nach Belieben einrichten, unter dem alleinigen Vorbehalt, daß Frankreich sich für das Schicksal des Großherzogtums Baden interessiere. Auf dem Kamme des Schwarzwaldes würden sich in diesem Zukunftsbilde die französische und die österreichische Macht- und Einflußsphäre begegnet haben. Die Tatsache, daß Beust den "etwas abenteuerlichen Plan" sofort ablehnte, schon weil ein Krieg mit dem "eingestandenen Zweck", einen Teil Deutschlands unter fremde Herrschaft zu bringen, für die Monarchie nicht tragbar sein würde, ändert nichts an der historischen Bedeutung des französischen Bündnisangebots. Man hatte jetzt in Paris alle Verkleidungen zu Boden fallen lassen, und von der napoleonischen Ideologie der Nationalitäten war die letzte Spur verschwunden; was früher nur zaghaft oder stückweise als Kompensation bezeichnet worden war, erschien jetzt in großem Zuge mit überraschender Offenherzigkeit zusammengefaßt, nicht mehr in der keuschen Verhüllung des Pufferstaates, vielmehr zur nackten Eroberung sich bekennend; selbst die Rheingrenze genügte nicht mehr, sondern wurde ohne Bedenken überschritten. Es waren die Tage, in denen die Vorform des deutschen Nationalstaates, das Werk der norddeutschen Bundesverfassung, abgeschlossen wurde. Aber während die Nation in tiefer Bewegung zur Einheit voranschritt, galten ihr Körper und ihre Seele, wie in vergangenen Zeiten, noch immer als Objekt für das Spiel dynastischen Ehrgeizes und fremden Machthungers. Während ein neues deutsches Geschlecht aufsteigt, das in dem nationalen Staate die Überwindung langer geschichtlicher Irrwege erblickt, treibt die französische Politik, ohne irgendeinen höhern euro- [94] päischen Gesichtspunkt, in die Bahnen der Rheinpolitik verflossener Jahrhunderte zurück. Bismarck hatte seine Auffassung der Lage in einem Erlaß vom 18. April 1867 dahin formuliert: "Deutschland hat keine erobernden Tendenzen, es hat sich nicht vergrößert und verlangt nichts von Frankreich, es hat sich nur durch innere Kämpfe eine neue und bessere Organisation erworben und durch das Ausscheiden Österreichs sogar eine Verminderung seiner Macht erfahren. Aber es ist bereit, sich gegen jede unberufene Einmischung zu sichern." Die Deutschen wollen nichts als Selbstbestimmung im Umkreis ihrer Nation, die Franzosen sind entschlossen, durch Intervention in den nationalen Bereich des Nachbarn ihr Interesse zu wahren. Es mag sein, daß der Kaiser fortan keine Wahl mehr hatte. Die Politik bis Königgrätz war eine Sache seiner freien Hand, seines Spiels mit den verschiedensten Möglichkeiten, seiner persönlichsten Initiative gewesen, von jetzt an empfing er das Gesetz des Handelns mehr und mehr von der öffentlichen Meinung Frankreichs. Die innere Unsicherheit des aus dem Staatsstreich emporgestiegenen zweiten Kaiserreichs, die Sorge um Thron und Dynastie trieb ihn fortan, sich der Vollendung der deutschen Einheit auf jede Gefahr hin entgegenzuwerfen. In richtiger Erkenntnis urteilte Bismarck damals: "Die Gefahr für den Frieden liegt nicht in dem Werte Luxemburgs für Frankreich oder für den Kaiser, sondern in der Nachgiebigkeit des letztern gegen die begehrlichen Leidenschaften der französischen Nation und in seinem Bedürfnis, die innern Schwierigkeiten durch äußere Erfolge zu überwinden."

Diese Politik wird fortan jeden Schritt, der auf dem Wege einer weitern Annäherung des Südens an den Norddeutschen Bund lag, als eine Durchlöcherung des Prager Friedens bekämpfen. Sie begann schon bald damit, die Schutz- und Trutzbündnisse vom August 1866, weil sie dem Wortlaut des Prager Friedens widersprächen, zu beanstanden, obgleich diese Bündnisse allein durch die französischen Kompensationsforderungen deutschen Landes hervorgerufen worden waren; noch bis in den Winter 1869/70 wird man auf unterirdischen Wegen die Opposition der bayerischen und württembergischen Kammern gegen die Bündnisverträge ins Feuer zu schicken versuchen. Sie wandte sich weiter gegen die Ausgestaltung des Zollvereins. Als Preußen im Jahre 1867 die Zollvereinsverträge erneuerte und ihre Ergänzung durch ein Zollparlament, einen politischen Gedanken schon aus dem Jahre 1847, in Aussicht nahm, zeigte sich die französische Regierung sehr unzufrieden. Eigentlich sei ein Zollparlament eine Institution von politischem Charakter: wenn man schon einer solchen Einrichtung bedürfe, weshalb sie nicht nach Würzburg oder Bamberg berufen und warum, statt eines Eintritts der süddeutschen Abgeordneten in den Norddeutschen Reichstag, nicht völlige Neuwahlen indirekter Art, etwa in der bescheidenen Form von Handelskammerwahlen? Wenn man auch nicht zu amtlichen Schritten vorging, so verrieten solche Wünsche eine fortdauernde Interventionsneigung. Obgleich die Wirtschaftseinigung, in der Nord- und Süddeutschland im Zoll- [95] verein verbunden waren, seit einem Menschenalter eine anerkannte Tatsache war, stellte man sich in Paris, als wenn eigentlich auch in der wirtschaftlichen Sphäre die Mainlinie, in sinngemäßer Anwendung des Prager Friedens, maßgebend und darin von Frankreich als dem Garanten dieses Friedens zu überwachen sei. So begann man, indem man sich an den Wortlaut und Sinn des Prager Friedens klammerte, ihn bald nach allen Seiten zu durchbrechen und eine Kette von Interventionsmöglichkeiten daraus zu folgern, in denen, wie in den dunkelsten Zeiten des alten Reiches, Frankreich als der oberste Schiedsrichter in deutschen Dingen aufgetreten wäre.

Aus den einzelnen Beanstandungen erwuchs allmählich ein geschlossenes Programm. Als Kaiser Napoleon dem Kaiser Franz Joseph in Salzburg im August 1867 einen Besuch abstattete, ließ er Beust den Entwurf eines Bündnisses auf der Basis der strikten Ausführung des Prager Friedens vorlegen. Und zwar sollten die Mächte fordern: die Aufhebung der Schutz- und Trutzbündnisse; Bildung eines Südbundes unter gemeinschaftlichem Protektorat von Österreich und Frankreich, mit dem Sitz des Bundesparlamentes in Wien; Räumung der Festung Mainz durch die Preußen und Entlassung Oberhessens aus dem Nordbunde; Errichtung eines österreichisch-süddeutschen Zollvereins. Bei Verweigerung dieser Forderungen aber Krieg mit den Kriegszielen: Grenzen von 1814 für Frankreich, Oberschlesien für Österreich, Revision der Annexionen und Volksabstimmung in Nordschleswig. Der Text klang maßvoller und ostensibler als das große Eroberungsprogramm vom April 1867, doch fehlt es nicht an einer Nachricht Beusts, Napoleon habe ihm in Salzburg Süddeutschland angeboten, wenn man ihm dafür das linke Rheinufer überlassen wolle: das waren freilich Zusicherungen, die man in Wien unbedingt vermeiden wollte. So war der Österreicher denn auch nur bereit, die kriegerische Intervention durch eine gemeinsame diplomatische Methode in der deutschen Politik zu ersetzen, die, um der Nationalpartei jeden Vormund zu nehmen, den Mittelstädten den Rücken stärken, einen neuen moralischen Einfluß gewinnen und mit dieser wohlberechneten Taktik die Politik Bismarcks durchkreuzen sollte.

Die Folgen blieben nicht aus. Die Franzosen hatten schon in der Luxemburger Krisis der bayrischen Regierung bedeutet, in der herrischen Sprache des alten Kaiserreichs: wenn sie in einer solchen Haltung beharre, werde man im Kriegsfalle den Endfrieden ganz einfach auf dem Rücken Bayerns schließen. In Karlsruhe leitete der französische Gesandte seinen Vortrag mit der Wendung ein: "Wir, die wir das Großherzogtum Baden geschaffen haben" - als wenn die Zeiten des Rheinbundes sich in der Epoche der nationalen Einigung noch wieder beleben ließen. Seit der Salzburger Zusammenkunft wurde diese Einwirkung von Paris und Wien
Königin Victoria mit Prinzgemahl Albert.
[64a]      Königin Victoria mit Prinzgemahl Albert.
gleichmäßig in den Mittelstädten geübt. Man beobachtet, wie diese Sprache deutlicher wird, als die Wahlen zum Zollparlament in Süddeutschland einsetzen und das Zollparlament in Berlin zusammentritt. [96] Schon sickerte in Europa durch, daß Kaiser Napoleon zum Handeln bereit sei, und Königin Viktoria von England hielt es im März 1868 für angezeigt, in Berlin einen diplomatischen Bericht vertraulich mitzuteilen: zwar sei die Sprache der französischen Minister äußerst friedlich, aber vertraute Kenner des Charakters Napoleons versicherten aus gewissen Symptomen zu schließen, daß der Gedanke einer plötzlichen Kriegserklärung gegen Preußen ihn gegenwärtig beschäftige. Und tatsächlich ließ Napoleon einige Wochen später, als das Zollparlament seine Sitzungen eröffnet hatte, in Wien eine Anfrage unterbreiten, was man zu tun gedenke, wenn die Süddeutschen sich freiwillig den Preußen in die Arme würfen oder wenn Preußen Gewalt anwende, um sie unter Bruch des Prager Friedens zu sich herüber zu ziehen. Indem er seinerseits erklärte, Frankreich werde in einem Überschreiten der Mainlinie einen Kriegsfall erblicken, ließ er in Wien die Gewissensfrage stellen. Als Beust ausweichend antwortete, drohte der Herzog von Gramont: "Dann werden wir Sie mit uns fortreißen." Dem Bayern wurde noch deutlicher eröffnet, daß er dann vor die Entscheidung, ob Freund oder Feind, gestellt werde. Sollten solche demütigenden Erinnerungen - man brauchte in München nur an das Jahr 1805 zurückzudenken - in Deutschland niemals aussterben?

Die kriegerisch angeheizte Atmosphäre mochte ihre Wirkung tun, um das Zollparlament, von dem Napoleon eine Kompetenzüberschreitung in das Politische befürchtete, unter einen Druck zu setzen. Alle begeisterten Reden des Zollparlaments änderten nichts an der Tatsache, daß Paris und Wien in gleicher Weise zu verstehen gaben, daß sie gewisse Schritte, von denen die nationale Aktion einen Fortgang erwartete, nicht gleichgültig hinnehmen würden. Nur die maßvolle Leitung des Zollparlaments verhinderte, daß solche Beschlüsse gefaßt wurden. Auch Bismarck konnte sich nicht mehr verhehlen, daß er sich auf eine Verzögerung in der Vollendung des Einigungswerkes werde einzurichten haben. So sprach er am 19. Mai 1868 zu dem württembergischen Kriegsminister von Suckow die denkwürdigen Worte: "Erreicht Deutschland sein nationales Ziel noch im 19. Jahrhundert, so erscheint mir das als etwas Großes, und wäre es in zehn oder gar fünf Jahren, so wäre das etwas Außerordentliches, ein unverhofftes Gnadengeschenk von Gott."

Um so mehr war Napoleon darauf aus, vor allem in Wien das Eisen so lange zu schmieden, wie es heiß war. Schon im Juli 1868 meldete er sich von neuem mit seinen Bündnisanträgen; als Beust, wiederum ausweichend, den Abrüstungsgedanken zur Bündnisgrundlage zu machen vorschlug, war Napoleon wohl bereit, an Preußen eine Reihe von Forderungen zu stellen, die in Wahrheit die Aufhebung der preußischen Wehrverfassung in sich schlossen, aber er verband damit die Gewissensfrage, ob man in Wien bereit sein würde, ihn im Notfall mit bewaffneter Hand zu unterstützen. Mit dem Ölzweig der allgemeinen Abrüstung wollte er die deutsche Nation, der man das Recht auf [97] ihre Einheit bestritt, vor die Alternative stellen: Verzicht oder Krieg. Der englische Außenminister Lord Clarendon hatte recht mit seinem Urteil, ein derartiger Vorschlag würde nur dazu dienen, den Krieg unvermeidlich zu machen.

Nach diesem letzten Vorspiel entschloß sich Napoleon, die Bündnisverhandlungen auf einer breiteren Basis, gleichzeitig mit Österreich und Italien, aufzunehmen, um damit alle Bedenklichkeiten Wiens von vornherein zu beruhigen und eine schlechthin überlegene Machtkonzentration für den Ernstfall hinter seine Politik zu stellen. Die Pariser Dreibundsverhandlungen, am 1. Dezember 1868 vertraulich eingeleitet, seit dem 1. März 1869 zwischen den drei Monarchen und ihren leitenden Ministern amtlich im tiefsten Geheimnis geführt, gediehen, nach einem höchst verwickelten Spiel der Interessen und der Projekte, schließlich zu einem Vertragsentwurf, dessen formelle Ratifikation in den nächsten Wochen auf Schwierigkeiten stieß, die in dem in letzter Stunde angemeldeten italienischen Anspruch auf Rom und in einer innerfranzösischen Krisis ihre Wurzel hatten. Doch erklärte Kaiser Napoleon schon im Juni 1869, daß er den Vertrag als bestimmt unterzeichnet ansehe, und der Austausch von ähnlich lautenden Briefen der drei Monarchen im September 1869 befestigte in ihm die Überzeugung, daß, unbeschadet des Mangels der Ratifikation, eine moralische Bindung erreicht sei. Er teilte bald darauf dem Staatsminister Rouher mit, daß er die Verträge als moralisch unterzeichnet betrachte, und bezeichnete insbesondere das Bündnis mit Österreich als den Angelpunkt seiner Politik. Dem General Lebrun erklärte er im November 1869: "Es ist erlaubt, das Bündnis mit Italien als gewiß, und das Bündnis mit Österreich als moralisch, wenn nicht tatsächlich gesichert anzunehmen." Die Äußerung wiegt um so schwerer, als der General auf der Grundlage dieses Tatbestandes die Aufstellung eines Feldzugsplanes vornehmen sollte. Jedenfalls glaubte der Kaiser so weit zu sein, daß er an die strategischen Konsequenzen herantreten könne. Ob er in dem Glauben an die vorausgesetzte vertragsgleiche Bindung, die bis in den Juli 1870 die Grundlage seiner Politik bildet, sich geirrt hat oder nicht, kommt zunächst nicht in Frage. Die Motive der Bündnispolitik von 1869 und das taktische Vorgehen in der ersten Hälfte des Jahres 1870 werden davon nicht betroffen.

Aus den Entwürfen über die Zweckbestimmung des Bündnisses war schließlich die Formel hervorgegangen: "Frankreich und Österreich versprechen im Kriegsfall die Waffen nicht eher niederzulegen, als bis in Deutschland ein neuer, aus möglichst gleich mächtigen Staaten zu bildender Bund geschaffen und somit der Zweck des Krieges erreicht ist." Es war die (noch in den amtlich mitgeteilten Kriegszielen vom August 1870 wiederkehrende) Zerschlagung Preußens und seine Herabdrückung auf den Machtumfang Bayerns oder Sachsens, somit die Begründung einer deutschen Mächtegruppierung, die sich wechselseitig neutralisierte und kaum unter einheitlicher Führung zusammenfassen ließ - es ist das Bild jenes Deutschlands von 1648, das noch die Franzosen von 1919 als das [98] Ideal einer unschädlichen Desorganisation der Macht in den dunkelsten Zeiten unserer inneren Auflockerung und äußeren Abhängigkeit entzückte. Man kann nicht sagen, daß dieser Offenheit auch eine ähnliche Offenheit in Sachen der französischen Sonderwünsche entsprach: von den Erwerbungen auf dem linken Rheinufer war in dem Vertrage nicht die Rede. Die Erklärung liegt in der unbedingten Abneigung Wiens gegen vertragsmäßige Festlegung zugestandener Eroberungsziele. Schon am 1. März 1869 stellte Metternich ironisch fest: "Die Germanen ihrerseits werden im Text den Rhein nicht erwähnt finden, was ich nur mit einer gewissen Mühe habe durchsetzen können; sie werden kein Geschrei erheben können über eine gemeinsame Kriegsunternehmung von uns und dem Ausland gegen »die deutschen Brüder«." Wieviel Wert auf diese formelle Unterdrückung der geheimsten Triebkraft der ganzen Unternehmung zu legen ist, wird in dem weitern Verlauf bis zum Kriegsausbruch hin deutlich werden.

So erreichte Napoleon sein erstes Ziel. Die Politik der Verhinderung der deutschen Einheit fand fortan Deckung und Verstärkung in einem Bündnissystem, das, wenn es in Kraft trat, allerdings eine neue Ordnung der Dinge, freilich auch einen europäischen Krieg von unabsehbaren Dimensionen heraufführen mußte. Einer der österreichischen Unterhändler urteilte mit Recht, bis zur Heiligen Allianz müsse man zurückgehen, um eine Konzeption von ähnlicher Allgemeinbedeutung zu finden, denn der Dreibund der drei Monarchen, der hundert Millionen regiere und über beinahe drei Millionen Bajonette verfüge, werde den einstigen Bund der Ostmächte ablösen und ein neues politisches System in Europa begründen; vermöge der Identität des Glaubens, der inneren Gefahren und der gemeinsamen Interessen im Orient wie im Okzident verbürge er die Dauer dieser politischen und geographischen Dreieinigkeit und sei der besten Traditionen eines Kaunitz würdig.

Napoleon III. hatte einst den Maximen seiner Außenpolitik einen modernern Anstrich dadurch gegeben, daß er sich zu dem Nationalitätsprinzip als einer unwiderstehlichen Macht des Jahrhunderts bekannte und ein Bündnis mit diesen Kräften suchte. Jetzt warf er sich der mächtigsten Nationalitätenbewegung seiner Zeit, der heraufziehenden deutschen Einheit, den Donnerkeil der Kriegsdrohung kaum verbergend, in den Weg, weil sie dem französischen Machtinteresse widersprach. Diese Tatsache, im heutigen geschichtlichen Bewußtsein viel zu sehr verblaßt, ist einer der entscheidenden Wendepunkte der neueren Geschichte bis zum Weltkriege.

Es war, als ob die ganze Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen im 17. und 18. Jahrhundert sich noch einmal aufrollte. Für die französische Politik war es, wie wir uns erinnern, ein Glaubenssatz seit dem 17. Jahrhundert, daß die wahre Sicherheit Frankreichs allein dadurch gewährleistet sei, daß das Deutsche Reich möglichst locker, am besten in einem ständischen Chaos ohne [99] zentrale Führung organisiert sei. Seitdem wurde den Franzosen ihre Sicherheit zur Unsicherheit des andern, zu einem formelhaften Ausdruck für einen konkreten Machtanspruch, der damit in das verschönernde Licht einer sittlichen Notwendigkeit oder einer natürlichen Ordnung der Dinge gerückt ward. Das Sicherheitsmotiv war auch der Sprache und der Praxis der andern Mächte nicht fremd. Aber die Sicherheitspolitik der Siegermächte von 1815, deren Aufgabe war, ihre Neuordnung gegen Frankreich dauernd zu schützen, war ausschließlich in das nichtfranzösische Gebiet verlegt, es war eine echte, nicht verkleidete, eine wirklich defensive Sicherheitspolitik. Wenn aber Napoleon III. Sicherheitspolitik trieb, wie in den rheinischen Kompensationsforderungen des August 1866 oder jetzt in dem Verbot des Anschlusses des Südens, so verlegte er die Anwendung des Sicherheitsmotivs in das Gebiet, in den Körper und die Seele einer benachbarten Nation. Das war eine unechte, eine offensive Sicherheitspolitik, nur ein verschämter Name für eine Machtpolitik, die man nicht einzugestehen wagte; in dem politischen Sprachgebrauch mancher Franzosen liefen Rhein und Sicherheit harmlos durcheinander. In Wahrheit hatte der englische Premierminister Mr. Gladstone recht, wenn er in einer Unterredung mit dem Botschafter Grafen Bernstorff vom 6. Dezember 1868 "die schlechte traditionelle Politik der Franzosen" verurteilte, welche von jeher gewollt habe, daß Frankreich "nur von schwachen Staaten umgeben sei"; mit dieser Eifersucht auf die Einheit der Nachbarn zögen sie im Grunde nur sich selber herab, "weil sie, vermöge ihrer glänzenden geographischen Lage, der Homogenität ihrer Bevölkerung, des Reichtums ihres Bodens und des militärischen Geistes ihres Volkes sehr wohl imstande wären, sich gegen jeden Angriff von außen zu verteidigen und infolgedessen niemand zu fürchten haben".

Man kann in dieser Frage Napoleon nicht von der französischen Nation trennen, und wie sich die "Schuld" auf den einen und die andere verteilt, ist nicht mit einem Worte zu sagen. Bis zum Sommer 1866 hatte der Kaiser in der Führung gestanden, die Seele der Franzosen mit dem Spiel der Kompensationen, mit den rheinischen Möglichkeiten erfüllend. Seit Königgrätz, vollends seit dem Ausgang der Luxemburger Frage, war er in die Defensive gegenüber den nationalen Leidenschaften gerückt. Denn jetzt begann man auf allen Seiten zu drängen. Da war seine Gemahlin und seine alten Getreuen; da war die Armee, die Fleury, Niel, Ney, Ducrot, Bazaine, Bourbaki, da war auch die Opposition, mochte sie legitimistisch oder orleanistisch oder republikanisch sein. Die ganze Nation empfand in gleicher Weise. Man hatte 1866 auf den Rhein und die Vermehrung der Sicherheiten, auf ein wildes deutsches Gegeneinander gehofft; man hatte keine Kompensationen erhalten, sondern sah jetzt die deutsche Einheit heraufziehen, wie einen Einbruch in die eigene Sicherheit. Man ahnte - das lag auf dem tiefsten Grunde in dem Empfinden eines stolzen und eitlen Volkes - das Ende der französischen Präponderanz. Es fehlte der [100] französischen Nation an der inneren Freiheit und Objektivität, einen natürlichen und unabwendbar heraufziehenden geschichtlichen Prozeß hinzunehmen und danach ihre Politik einzurichten. Der deutsche Nationalstaat, stark und unangreifbar in sich selber, widersprach allzu sehr dem Bilde französischer Größe und den Traditionen, die man mit ihr verband. Man legte sich niemals die Frage vor, ob die von so viel inneren Spannungen und Gegensätzlichkeiten durchzogene deutsche Volksgemeinschaft nicht gerade durch das Verhältnis, das die französische Politik zu ihr einnahm, fester zusammengeschweißt und in sich selber ausgeglichen werde, ob also eine Fortsetzung des Widerspruches gegen den unvermeidlichen Ausgang diesen nicht eher zu beschleunigen berufen sei. Der deutsche Partikularismus, wenn auch ins Hintertreffen geraten gegenüber der nationalen Bewegung, war immerhin noch eine Macht - nichts aber war ihm so schädlich als der Ruf, daß er sich des Pariser Wohlwollens erfreue. Das Schlagwort des Rheines diente den Preußen und der Nationalpartei dazu, die Franzosenfreunde vor der öffentlichen Meinung zu brandmarken; und selbst ein so ausgesprochen franzosenfreundlicher Mann wie der Großherzog von Hessen flehte seine Freunde immer an, nur ihre Rheinpolitik aufzugeben. Napoleon und Frankreich fuhren fort, nur das ihnen vermeintlich gefährliche Aufsteigen Preußens zu sehen, während es sich darum handelte, ob die deutsche Nation, nach langem Ringen sich selber vollendend, auf friedlichem Wege eine ihrer Vergangenheit würdige Stellung einnehmen würde.

Die Staatsleitung des Norddeutschen Bundes hat den ganzen Umfang der Gefahr, die sich seit den Dreibundverhandlungen im tiefsten Dunkel heranschlich, nicht gekannt. Sie konnte nur einzelne beunruhigende Symptome aufgreifen und daraus ihre Schlüsse ziehen. Wenn Bismarck es für gut hielt, einen warnenden Ton in der Presse anzuschlagen, zog er vor, das Ziel nach Wien zu verlegen; das führte wohl dazu, daß Napoleon sofort dem Grafen Beust die wärmsten Versicherungen abgab, Österreich gegen jede preußische Unfreundlichkeit zu unterstützen. Im übrigen hielt Bismarck auch jetzt an seinem Programm des kalten Blutes fest: Zuversicht und keine Übereilung, den Süden nicht drängen, sondern kommen lassen, die Franzosen nicht provozieren. Ein Erlaß an seinen Vertreter in Frankreich vom 19. Februar 1869 fand sich mit der von dunklen Drohungen erfüllten Atmosphäre in Paris ab: "Wir können ihnen gegenüber nichts anderes tun, als im Bewußtsein unserer Stärke die vollste Ruhe bewahren, um auch jenseits des Rheines den Eindruck immer fester wurzeln zu lassen, daß man uns nicht einschüchtern kann." Dieselbe Haltung bewahrte auch König Wilhelm I., wenn er etwa seinen im Sinne des Anschlusses drängenden Schwiegersohn, den Großherzog Friedrich von Baden, auf den Kaiser der Franzosen als den Mann des Schicksals hinwies: "Diese Auslegungen transrhenanischer Natur muß ich leider stets vor Augen haben, um in keinerlei Art den geringsten Vorwand zu einer rupture zu geben, sondern alles anzuwenden, daß, wenn sie [101] doch einmal eintritt, die Welt mir nicht den Stein wirft. So wenig ich einen solchen Moment fürchte als Soldat, so wenig kann ich ihn gleichgültig kommen sehen bei dem Bedürfnis nach Frieden in unserer neuen Schöpfung im Norden, daher muß es dahin geleitet werden, daß die ganze Welt den Stein über den Rhein wirft. Kommt Zeit, kommt Rat!" Dieses Wort friedlichen Selbstvertrauens fällt in die Zeit, wo in Paris die Dreibundsverhandlungen mit dem Ziel der Zertrümmerung in vollem Zuge waren. Aber der preußische Militarismus steht Gewehr bei Fuß und der Führer der deutschen Nationalpolitik, auf den alle Blicke gerichtet sind, gebietet den Wogen stille zu stehen.

Die innerste Natur dieses Mannes, die manche seiner Gegner in dem Wort über die Blut- und Eisenpolitik erschöpft wähnen: die Verbindung von realpolitischer Rechnung und sittlicher Verantwortlichkeit, ja noch mehr, die von ihm vollzogene Einordnung seines weltgeschichtlichen Handelns in einen über ihm waltenden höheren Zusammenhang, enthüllt sich in dem Momente, wo er, auf dem Wege zu seinem Ziele notgedrungen einhaltend, seinen eigenen Mitarbeitern und Anhängern, vor allem der stürmisch drängenden Nationalpartei, nicht genug zu tun scheint. Wer in sein Inneres blicken will, möge die Sätze lesen, die in einem Erlaß Bismarcks vom 26. Februar 1869 an den preußischen Gesandten in München, Freiherrn von Werthern, sich finden:

      "Daß die deutsche Einheit durch gewaltsame Ereignisse gefördert werden würde, halte auch ich für wahrscheinlich. Aber eine ganz andere Frage ist der Beruf, eine gewaltsame Katastrophe herbeizuführen, und die Verantwortlichkeit für die Wahl des Zeitpunktes. Ein willkürliches und nach subjektiven Gründen bestimmtes Eingreifen in die Entwicklung der Geschichte hat immer nur das Abschlagen unreifer Früchte zur Folge gehabt; und daß die deutsche Einheit in diesem Augenblick keine reife Frucht ist, fällt meines Erachtens in die Augen. Wenn in der Richtung auf dieselbe die kommende Zeit ebenso fortschreitet wie die seit dem Regierungsantritt Friedrichs des Großen verflossene und namentlich wie die seit 1840, dem Jahre, wo zuerst seit den Befreiungskriegen wieder eine nationale Bewegung fühlbar wurde, so können wir der Zukunft mit Ruhe entgegensehen und unsern Nachkommen das Weitere zu tun überlassen. Wir können die Uhren vorstellen, die Zeit geht aber deshalb nicht rascher und die Fähigkeit zu warten, während die Verhältnisse sich entwickeln, ist eine Vorbedingung praktischer Politik."

Man kann den Ton dieser Worte nicht auf sich wirken lassen, ohne in Gedanken das Innere seines Gegenspielers Napoleon aufzusuchen.

Es drängt sich geradezu die Frage auf, welche Mittel Bismarck gegen das gewaltige Spiel der Einkreisungspolitik ins Feld zu führen hatte. Man vergegenwärtige sich, daß in der erdrückenden Machtanhäufung des Dreibundes Frankreich-Österreich-Italien als vierter Bundesgenosse Dänemark vorgesehen und verständigt war; man nehme hinzu, daß die französische Diplomatie auch schwedische Sympathien zu gewinnen sich bemühte und sogar den einzigen [102] wohlwollenden Freund Preußens, den Zaren, durch die nordschleswigsche Frage abspenstig zu machen suchte; man nehme weiter hinzu, daß England durch das klug berechnete Eingehen Napoleons auf seine Abrüstungsvorschläge zum mindesten beschäftigt wurde - der europäische Aktionsradius für diplomatische Gegenaktionen Bismarcks war wirklich sehr beschränkt. Er mußte sich sagen, daß das Zusammenwirken des Drei- oder Vierbundes auch in dem innerdeutschen Lager der Besiegten von 1866 manche schlummernden Kräfte, zumal bei Anfangserfolgen, in Bewegung setzen würde. Er hatte pflichtmäßig alles auf das sorgfältigste zu verfolgen, was die freie Hand Napoleons irgendwie einengen oder auch den Tatendrang Österreichs, etwa vom Balkan her, eindämmen konnte - viele Möglichkeiten waren überhaupt nicht gegeben. Als im September 1868 die spanische Revolution ausbrach, rechnete man in Berlin sofort damit, daß sie Napoleon etwas beschäftigen würde und zugunsten des Friedens wirken könne; als im Herbst 1869, zunächst wohl ganz überraschend, die Thronkandidatur eines Hohenzollern in Madrid auftauchte, horchte Bismarck scharf auf und griff zu; als die Sache im Februar 1870 ernst wurde, setzte er seine ganze Energie dahinter, um das Unternehmen gegen alle Widerstände zu fördern. Diese spanische Politik Bismarcks, bis in die letzte Falte des Geheimnisses untersucht und heute wie ein taghell durchleuchtetes Intrigenspiel vor uns liegend, ist sehr verschieden beurteilt worden. Daß Bismarck die spanische Episode nicht erfunden, sondern nur das, was ihm entgegengetragen, benutzt hat, liegt auf der Hand - aber hat er sie wie ein machiavellistisches Ungeheuer benutzt, um schließlich den unglücklichen Napoleon in eine mit raffiniertestem Geschick aufgestellte Falle laufen zu lassen? Ich bin der Meinung, daß bei manchem Forscher und Zuschauer sich dieser Zug des Unternehmens ins Überlebensgroße gesteigert und diese Dinge im Verhältnis zu ihrer wirklichen Rolle vollkommen verzerrt hat. Da die deutsche Politik dieser Jahre durch den Ausgang des Krieges von 1870/71 vom Erfolg gekrönt wurde, so erscheint sie auch im einzelnen auf den Gesamtverlauf bewußt angelegt. Während die überlegene und bedrohliche Kraft der Initiative in Wahrheit bei Napoleon lag, wirkt Bismarck, der sich den Zügen des Gegners in der Abwehr anzupassen hatte, nachträglich viel zu sehr als der zielbewußtere Spielpartner. Die Fäden, an denen die spanische Thronkandidatur aufgezogen wurde, waren ziemlich dünn, und das ganze höchst unsichere Unternehmen wog federleicht gegen die massive Maschinerie des Dreibundes.

Daß die Spanier bei französischem Gegendruck festbleiben würden, war kaum zu erwarten; daß die Sache auf einen Krieg hinauslaufen würde, war sehr unwahrscheinlich und im Grunde, als ein wenig glücklicher Anlaß, nicht einmal wünschenswert. Man konnte also nur mit der Möglichkeit rechnen, daß aus der spanischen Thronkandidatur der Hohenzollern dem Kaiser Napoleon Schwierigkeiten oder Prestigeverluste erwachsen und ihn - wie etwa einst seine mexikanischen Sorgen - im friedlichen Sinne beeinflussen würden, wie [103] Bismarck überhaupt die Möglichkeiten einer friedlichen Erziehung Napoleons durch innere und äußere Schwierigkeiten eher überschätzt als unterschätzt hat. Wenn man ganz unvoreingenommen die Politik der beiden gegnerischen Lager vergleicht, muß man gestehen, daß im Vergleich zu der gewaltigen Minenanlage, die Napoleon von langer Hand her in das unterirdische Gestein Europas vortrieb, der einzelne Gegenstollen, den Bismarck hier anlegte, nur ein Unternehmen zweiten Ranges war; ein Nebenspiel, wie im Jahre 1866 die Verbindung mit der ungarischen Revolution - wenn nicht Napoleon es aufgriff. Wenn der siegreiche Ausgang der andern Seite zugefallen wäre, würde auch ihr überlegenes Vorbereitungsspiel in eine strahlende Beleuchtung gerückt sein, vor der dann die unsichern Züge eines abenteuerlichen Hasardeurs als ohnmächtiges Gegenspiel in einem verdienten Dunkel versunken wären.

Jedenfalls war Bismarck seit Anfang des Jahres 1870 stärker im Gedränge als zuvor. In der Nationalpartei wuchs das Gefühl des Mißbehagens darüber, daß der Fortgang der nationalen Einheit zu versanden drohe. In dieser Lage hat Bismarck vorübergehend auch die Annahme einer norddeutschen Kaiserwürde durch König Wilhelm (anstatt der farblosen Amtsbezeichnung Bundespräsidium) erwogen, um dann den Gedanken, der anscheinend sofort Unruhe in Paris erregte, aus manchen sachlichen Erwägungen wieder fallen zu lassen. Er konnte sich nicht verhehlen, daß die Widerstände auf seinem Wege anwüchsen; schon ließ der Kampf um den casus foederis in den bayerischen Kammern und der Sturz Hohenlohes stille Hoffnungen in Paris aufsteigen; auch die englischen Anregungen einer Rüstungsverminderung konnten, ganz abgesehen von ihrer französischen Herkunft, in dieser Weltlage in Berlin nicht als ein nützliches Mittel zur Erhaltung des Friedens betrachtet werden.

So war es Bismarck sehr unbequem, durch einen Antrag der national-liberalen Fraktion im Norddeutschen Reichstage überrascht zu werden, der auf Eintritt Badens in den Norddeutschen Bund abzielte: sich drängen zu lassen von jenen, die sichtbar das nationale Banner trugen, und genötigt zu werden, vor Europa sich zur deutschen Frage zu äußern! Mochte er auch in seiner Antwort über den Tatendrang der Antragsteller spotten, denen anscheinend zumute sei wie Shakespeare den Heißsporn Percy schildere, der, nachdem er ein halbes Dutzend Schotten umgebracht, über das langweilige Leben klage - er wußte genug, daß sein Programm des Abwartens die unruhigen Gemüter nicht beflügeln könne, ein Aufruf zur Tat aber sofort den französischen Einspruch auslösen würde: nach beiden Seiten war das Feld der Motivierung für ihn eingeengt. So begnügte er sich in seiner Antwort im Norddeutschen Reichstag mit der scherzhaften Warnung, den (badischen) Milchtopf abzusahnen und das übrige sauer werden zu lassen, und mit dem nachdenklichen Zweifel, ob es ratsam sei, Bayern und Württemberg vor dem Westwind durch den (badischen) Mantel zu schützen. So wenig er die großen Worte liebte, mit stolzem Ausblick [104] verwies er die Ungeduldigen und Unzufriedenen auf die tatsächliche Einheit, wie sie in militärischen und wirtschaftlichen Fragen jetzt schon erreicht sei: "Ich kann dreist behaupten: übt nicht das Präsidium des Norddeutschen Bundes in Süddeutschland ein Stück kaiserlicher Gewalt, wie es im Besitze der deutschen Kaiser seit fünfhundert Jahren nicht gewesen ist?" In seinen Erlassen sprach er sich deutlicher aus über die Rücksichten, die er zu nehmen gezwungen war, auf den König von Bayern, auf Frankreich und sein neues konstitutionelles System. Es komme darauf an, die öffentliche Meinung, namentlich in Frankreich, allmählich damit vertraut zu machen, daß die Einigung Deutschlands unser natürliches, rechtmäßiges und durch die Verträge nicht untersagtes Ziel sei. Er hoffte auf eine günstige Gestaltung der Verhältnisse und wollte sie nicht gewaltsam durch einen Krieg lösen: "Ich bin von der Sorge ziemlich frei, daß wir einen Krieg mehr als andere zu fürchten hätten; ich habe volles Vertrauen zu unserer Fähigkeit zu siegen, wenn uns der Krieg gebracht wird; aber ich halte selbst einen siegreichen Krieg für ein Mittel, welches zur Erreichung von Zwecken, die sich auch ohne einen solchen zweifellos erfüllen werden, von gewissenhaften Regierungen nicht angewendet werden sollte." Daß die Erwartungen, die Bismarck auf das konstitutionelle System im napoleonischen Frankreich setzte, nicht zutrafen, mochte schon der freundschaftliche Rat verraten, den der neue Außenminister Graf Daru dem norddeutschen Botschafter gab, das beste sei, die deutsche Einheit ad calendas graecas zu vertagen. Es sollte sich bald herausstellen, daß in dem parlamentarischen System die chauvinistischen Stimmungen ganz neue Entladungsmöglichkeiten fanden.

Die kriegerische Gesinnung begann über die militärischen und amtlichen Kreise hinauszudrängen. In den nächsten Wochen gewann Fürst Metternich aus Gesprächen mit dem ehemaligen Staatsminister Rouher und mit Adolphe Thiers den Eindruck, "daß sie beide, wenn sie zur Macht kämen, daran denken würden, Krieg zu machen und den Rhein zu nehmen; der eine zur Wiederherstellung der autoritären Regierung des 2. Dezember, der andere zugunsten seines eigenen Ruhmes und seiner Figur in der Geschichte." Als dem Botschafter auch der Republikaner Bethmont von dem Glück sprach, mit Österreich zu marschieren, notierte dieser: "Das ist der Republikaner, der wie Rouher, der Absolutist, und Thiers, der Parlamentarier, mit Wohlgefallen an einen Krieg an unserer Seite denkt. Ich weiß wohl, der Rhein ist der große Zauberer, der die Anziehung auf die Nation ausübt - unsere schönen Augen spielen wenig dabei mit."

Bismarcks Ansichten über Krieg und Frieden aber empfangen eine denkwürdige Beleuchtung durch die Tatsache, daß eben in jenen Tagen ein Besuch des Erzherzogs Albrecht in Paris erfolgte, der die militärischen Besprechungen über einen gemeinsamen Feldzugplan eröffnete. Die Grundzüge des zwischen dem Kaiser und dem Erzherzog festgestellten Planes sind bekannt: Eröffnung [105] des Krieges durch einen gleichzeitigen Angriff von je 100 000 Mann der drei verbündeten Mächte auf Süddeutschland (der Italiener auf München), Konzentrierung der gesamten Streitkräfte in der Richtung auf der Linie Würzburg - Nürnberg - Amberg, Vormarsch nach den Plänen Napoleons von 1806 und Entscheidungsschlacht bei Leipzig, schließlich Erzwingung des Friedens in Berlin. Diese Kriegführung, die Einkreisung aus dem Diplomatischen ins Militärische übersetzend, würde allerdings in großem Stil alles das in die Tat umgesetzt haben, was die Diplomaten in den Verhandlungen des Vorjahres als Ziel einer künftigen Umgestaltung Europas sich erträumten. Wenn es den verbündeten Truppen gelang, in einem konzentrischen Angriff gleichzeitig am Rhein und an der Saar, über den Brenner hinweg, von Böhmen aus und in der Nord- und Ostsee loszubrechen, dann mußte die Macht der Mitte zum mindesten zur Teilung ihrer Streitkräfte genötigt werden, wenn nicht die Süddeutschen vollends unter solchem Druck abgeschnürt und lahmgelegt wurden. Mochte das militärische Programm auch zunächst einen akademischen Charakter tragen, Napoleon war dazu übergegangen, hinter den Kulissen der parlamentarischen Ära, ohne Wissen der in seine Bündnispolitik noch gar nicht eingeweihten Minister Ollivier und Daru, die politischen Bindungen von 1869 nach der militärischen Seite zu vertiefen.

Jeder Schritt des Kaisers scheint fortan den Eindruck zu erwecken, als ob er sich der Aktion zu nähern beginne. Durch das im Plebiszit vom 8. Mai 1870 erlangte Vertrauensvotum glaubte er sein persönliches Regiment von neuem befestigt. Unmittelbar darauf ernannte er zum Leiter der Außenpolitik den Botschafter in Wien, Herzog von Gramont, von dessen hochfahrender und unbeherrschter Haltung alle Welt damals eine schärfere Tonart erwartete; nachdem er in Wien durch Beust am 18. Mai in den ganzen Umfang der geheimen Bündnisverhandlung eingeweiht worden war, trat er sein Amt mit einem kaum verhehlten Tatendrang an; er verschmähte es nicht, das sehr reizbar gewordene parlamentarische Aktionsbedürfnis in seine Politik einzuspannen, nahm in den letzten Tagen des Juni einen geringfügigen Anlaß wahr, um an Mainzer Befestigungsfragen zu rühren, und kündigte am 1. Juli dem norddeutschen Botschafter an, unter nachdrücklicher Anspielung auf den Prager Frieden, daß in den Kammern eine Erörterung der deutschen Fragen bevorstehe.

Gleichzeitig gingen die militärischen Erwägungen fort. Ein französischer Kriegsrat unter Vorsitz des Kaisers hatte die strategischen Pläne Erzherzog Albrechts einer Prüfung unterzogen und die Durchführbarkeit des gleichzeitigen Angriffs beanstandet. Napoleon entsandte den General Lebrun nach Wien, um diese Bedenken zur Sprache zu bringen. Am 14. Juni 1870 stand der Franzose vor Kaiser Franz Joseph in Laxenburg, um aus seinem Munde die diplomatische, aber doch vielsagende Erklärung zu vernehmen, wenn er den Krieg mache, müsse er dazu gezwungen sein, aber wenn Napoleon mit seinem Heere, nicht [106] als Feind, sondern als Befreier in Süddeutschland stehe, dann werde er seinerseits gezwungen sein, gemeinsame Sache mit ihm zu machen. In der letzten Juniwoche erstattete der französische General seinem Kaiser Bericht über etwaige Abänderungen an dem Plane des Erzherzogs; vor allem wurde dabei erwogen, daß schon die ersten militärischen Demonstrationen Österreichs, wenngleich unter dem Schein der Neutralität, eine starke moralische Wirkung auf die preußische Heerführung üben und zu Deckungen an den Grenzen Sachsens und Schlesiens nötigen würden. Mit diesen Dingen war das amtliche Frankreich, war die Seele des Kaisers beschäftigt, als - wenige Tage später - die Meldung kam, daß die spanische Regierung dem Prinzen Leopold von Hohenzollern-Sigmaringen die Königskrone angeboten habe.

Von der ersten Stunde an, wo die Nachricht von der spanischen Thronkandidatur in Paris eintraf, faßten Kaiser Napoleon und seine Minister den Entschluß, diesen Anlaß zu einer großen Krisis, gegebenenfalls bis zum Kriege zu steigern, um mit diesem Hebel endlich in die "Deutsche Frage" wirksam eingreifen zu können. Es ist bemerkenswert, daß in dem sofort vom Herzog von Gramont eingeleiteten Pressefeldzug schon in den ersten Tagen Stimmen laut wurden, die den Rhein forderten. Der Heißsporn Granier de Cassagnac, der einige Tage vorher, am 1. Juli, im Gesetzgebenden Körper ausgerufen hatte: "Nehmen wir den Rhein, dann können wir die Armee um 100 000 Mann verringern", veröffentlichte am 5. Juli im Pays einen Artikel "Le Rhin français", in dem es hieß: "Der Besitz des linken Rheinufers ist für Frankreich nicht nur ein Anfall von Ehrgeiz, der strafbar, nicht eine Herausforderung an die deutsche Nation, die lächerlich sein würde, sondern ein Gedanke der Sicherheit, der vertretbar und legitim ist. Es gibt heute zwischen Preußen und uns nicht mehr Pufferstaaten und einen Bund, die unser Schutz nach dieser Seite waren; an der Stelle dieser verschwundenen Sicherheit brauchen wir eine andere. Der erste Kanonenschuß wird sie uns wiedergeben."

Gewiß, das war der vorzeitig-unvorsichtige Losbruch eines monarchischen Außenseiters, aber er verriet eine richtige Witterung für den Weg, zu dem die kaiserliche Regierung sich entschloß. Der unter Vorsitz Napoleons im Ministerrat fertiggestellte Wortlaut der Rede im Gesetzgebenden Körper, mit der Herzog von Gramont am 6. Juli die amtliche Aktion eröffnete, war eine solche Anhäufung wohlberechneter Herausforderungen, daß die jedem diplomatischen Brauch widersprechende Absicht, alle Brücken abzubrechen, sich kaum verbergen ließ; und nicht minder sprach für solche Absicht, wenn Ollivier, der einstige Pazifist, sich zu den (später unterdrückten) Worten übersteigerte, jedesmal wo Frankreich sich fest gezeigt, habe Europa sich vor seinem Willen gebeugt. Mit Recht hat Bismarck noch in einem der letzten von ihm überlieferten Gespräche des Alters betont, daß die französische Kriegserklärung schon in den Verhandlungen der Kammer am 6. Juli enthalten gewesen sei, und auf die Zeugnisse von Glais- [107] Bizoin und Arago verwiesen, die schon damals gesagt hätten, daß dies keine Debatte, sondern eine Kriegserklärung gewesen sei.

Und tatsächlich, es liegt heute eine Reihe von Zeugnissen ersten Ranges vor, daß dies der geheime Sinn der Kundgebung und die bewußte Absicht war, von der die verantwortlichen Männer geleitet wurden. Als der österreichische Botschafter Fürst Metternich, fortan der vornehmste Zeuge, sich noch während der Kammersitzung in die Tuilerien begab, fand er den Kaiser mit einem entzückten, ja freudig erregten Gesicht, die Kaiserin dermaßen zugunsten des Krieges gestimmt, daß sie ihm, bei dem Gedanken an einen politischen Triumph oder den Krieg, um zehn Jahre verjüngt erschien. Napoleon konnte die Frage nicht unterdrücken, ob er denn wirklich glaube, daß man in Berlin angesichts dieser höchst energischen Art des Vorgehens unmittelbar zurückweichen könne, um dann sofort die Gewissensfrage folgen zu lassen: "Können wir auf Österreich rechnen?" Als der Botschafter dann Ollivier aufsuchte, glaubte dieser, des säbelrasselnden Tones noch ungewohnt, dem Österreicher den Sinn seiner Drohworte pathetisch auslegen zu sollen: "Es sind nicht mehr die Rouher und La Valette, die Frankreichs Politik zu leiten haben. Ich bin es, ein Minister des Volkes, hervorgegangen aus dem Volke, fühlend mit dem Volke, ich, ein der Nation verantwortlicher Minister, der diese Sache mit der patriotischen Entschlossenheit, die Sie an mir kennen, geführt hat. Wir haben einmütig den Entschluß gefaßt, daß man marschieren muß, wir haben die Kammer fortgerissen, wir werden die Nation fortreißen. In vierzehn Tagen haben wir 400 000 Mann an der Saar, und wir werden den Krieg machen, wie 1793, wir werden das Volk bewaffnen, das zu den Grenzen strömen wird." Der Herzog von Gramont vollends, dem Metternich auf den Kopf zusagte, er sei einfach blindlings in die Gelegenheit hineingesprungen, um entweder einen diplomatischen Erfolg davonzutragen oder den Krieg auf einem Terrain zu führen, das nicht den deutschen Geist gegen Frankreich in Bewegung setze - Gramont antwortete mit dem geschmeichelten Selbstgefühl des verblendeten Toren: "Das ist ausgezeichnet gesagt, weihen Sie nur den Reichskanzler in das Geheimnis des Würfelspiels ein. Herr von Beust wird zufrieden mit mir sein, er mußte auf einen Wurf von meiner Art gefaßt sein."

Das sind die Geheimnisse derer, die in der Krisis des Juli 1870, in der falschen Rechnung auf Österreichs sichern Beistand, von der ersten Stunde an leichten Herzens die Verantwortlichkeit für einen Krieg auf sich nehmen, in dem Gerichtstag über ihre Politik gehalten werden sollte. Selten setzt eine große Krisis mit einem so offen zur Schau getragenen und überlegten Kriegswillen der einen Seite ein. Seit dem 7. Juli, urteilte der österreichische Militärattaché in Paris, stellte man sich ausschließlich auf den Boden der allgemeinen Notwendigkeit, den Krieg mit Preußen herbeizuführen und endlich auszutragen. Dieser Kriegswille wußte, daß die spanische Thronkandidatur, die den äußern [108] Anlaß bilde, sehr bald verschwinden würde, und war darauf gefaßt, dann den eigentlichen Streitgrund in den Vordergrund zu stoßen. Und so begann sofort durch den dünnen spanisch-dynastischen Vorhang die Frage durchzubrechen, die seit Sadowa alle politischen Gedanken der Franzosen beherrschte: Rückgängigmachung der deutschen Einheit. Schon am 9. Juli stellte Émile de Girardin den Preußen die Wahl: Kongreß oder Krieg - aber Kongreß mit der Tagesordnung einer Schleifung deutscher Festungen (Mainz, Köln, Landau): "Wenn die Preußen nicht wollen, gut, dann werden wir sie mit Kolbenstößen in den Rücken zwingen, über den Rhein zurückzugehen und das linke Ufer zu räumen." Schritt für Schritt wurde die Basis des Konfliktes verbreitert. Nur in der Form diplomatischer, nahm anderntags der amtliche Moniteur das Thema auf und bezeichnete als Mindestmaß der "Genugtuung" die restlose Ausführung des Prager Friedens nach Wortlaut und Sinn, die Freiheit der Südstaaten (d. h. die Aufhebung der Schutz- und Trutzbündnisse), die Räumung von Mainz, den Verzicht Preußens auf jeden Einfluß südlich der Mainlinie, schließlich die Regelung der nordschleswigschen Frage: wenn diese Forderungen nicht erfüllt würden, könnten die Ansprüche Frankreichs sich nur noch weiter steigern. Schon pflanzte sich am 11. Juli die Forderung in die Kammer fort und führte zu dringlicher Mahnung an den Minister, "andere Fragen" - das war die deutsche Frage, die sie alle erregte - in den Konflikt hineinzutragen. Der Ministerpräsident Ollivier war, nach dem Urteil des österreichischen Botschafters, sogar mehr als der jetzt bedenklichere Gramont, bereit, die "andern Fragen" hinzuzufügen, "um den Krieg unvermeidlich zu machen". Er schrieb zur selben Stunde an den Kaiser, daß die Rechte laut dränge, Preußen vor die Alternative eines Kongresses (mit dem Programm der deutschen Frage) oder des Krieges zu stellen, daß auch auf der Linken sich ähnliche Stimmen (Gambetta) erhöben und von beiden Seiten mit einem Angriff auf das Kabinett gedroht würde. Er erreichte auch durch dieses Drängen, daß der Kaiser, stark beeindruckt, noch vor Mitternacht dem österreichischen Botschafter die Gewissensfrage zuschob, ob er es nicht auch für nötig halte, "die Frage zu komplizieren". Als Metternich dringend abriet, da das Auswerfen der deutschen Frage gerade die Wirkung haben würde, die man in Wien dringend zu vermeiden wünschte, nämlich die Deutschen einmütig um Preußen zu scharen, wich Napoleon zwar zurück, aber erklärte, daß er es jetzt mit einem neuen Mittel versuchen werde: "Er wird morgen" - so meldete der Botschafter seinem Chef einige Stunden nach Mitternacht - "die Mobilmachung ersten Grades anordnen, ohne den Stand der Frage zu verändern, und glaubt, daß das den Krieg unvermeidlich machen würde." Wie man den Krieg unvermeidlich mache - darin sieht Metternich als scharfsichtiger und empfänglicher Zuschauer den Schlüssel zu allen Schritten der Beteiligten, und nur eine einzige Sorge klingt aus seinen Berichten wieder: daß man sich nur den Krieg nicht entgleiten lasse.

Ministerium des Krieges Ollivier, Juli 1870.
[128a]      Ministerium des Krieges Ollivier, Juli 1870.

[109] Da kam am Mittag des 12. Juli die Nachricht von der Entsagung des Prinzen Leopold, und damit die Nötigung für den französischen Kriegswillen, wenn er sein Ziel weiter verfolgen wollte, einen veränderten Weg der Entladung zu suchen. Als Ollivier mit der Nachricht in die Kammer kam, tönte ihm schon der Ruf entgegen: "Und der Prager Friede?", und alsbald fragte eine Interpellation drängend, welche Garantien das Kabinett erwirkt habe oder zu erwirken gedenke, um die Wiederkehr von Verwicklungen mit Preußen zu vermeiden - jetzt meldeten sich die Geister, die man gerufen hatte. Gleichzeitig riet Beust, wie schon Metternich getan hatte, auf das dringendste davon ab, eine Garantieforderung auf dem delikaten Gebiet der deutschen Frage zu suchen. In diesem Dilemma verfiel Gramont auf die unglückselige Idee, die Garantie in einem persönlichen Sühnebrief König Wilhelms an den Kaiser zu suchen, der die spanische Thronkandidatur aus der Welt schaffen solle. Nicht aus Sorge vor dieser Kandidatur, deren Wiederauftauchen kein Mensch auf der Welt für möglich gehalten hätte; nicht aus einem Bedürfnis, die Person des Königs hereinzuziehen und zu demütigen, sondern um irgendwie Garantien gegen Wiederkehr vorzeigen zu können, wenn sie auch von dem politischen Gebiet der deutschen Frage, das man in Wien nicht betreten wollte, auf das scheinbar harmlosere dynastische Gebiet abgeschoben werden mußten. Gegenüber dem tobenden Ausbruch der Kammer, umgeben von der bis zur Weißglut erregten Stimmung bei Hofe und im Militär, billigte der Kaiser den neuen Vorschlag Gramonts, der den Gegenschlag herbeiführen sollte.

König Wilhelm I. auf der Kurpromenade in Bad Ems im Juli
1870.
[144a]    König Wilhelm I. auf der Kurpromenade in Bad Ems im Juli 1870.
Bismarck hatte bis zu diesem Augenblicke zurückgehalten. Erst jetzt entschloß er sich, auf das unerhörte Ansinnen der französischen Regierung in einem so gemessenen und bestimmten Tone zu antworten, wie es der Summe der französischen Herausforderungen seit dem 6. Juli entsprach: das war die Emser Depesche. Die geschichtliche Rolle der Emser Depesche ist in dem letzten Menschenalter einem beispiellosen Mißbrauch ausgesetzt worden. Sie geriet in den Ruf, durch einen wohlberechneten diplomatischen Offensivvorstoß, ja durch die Verfälschung eines harmlosem Vorgangs, eine friedlich angelegte Verhandlung zerrissen zu haben. In Wirklichkeit hat sie ein auf den Krieg und nichts anderes berechnetes Intrigenspiel der Franzosen, die um ihres Rüstungsvorsprunges willen die Verhandlung hinzuschleppen suchten, schneidend durchkreuzt. Daß dies der historische Zusammenhang und sein Geheimnis ist, kann durch keinen bessern Kronzeugen als den Herzog von Gramont selbst bewiesen werden. Er erklärte am 18. Juli, fünf Tage nach der Emser Depesche, dem dänischen Gesandten, den er durch das Angebot Schleswigs in den Krieg an der Seite des Dreibundes hineinzureißen suchte: "Wir haben zehn oder elf Tage Vorsprung vor den Preußen hinsichtlich der militärischen Vorbereitungen; wir würden noch mehr gehabt haben, wenn wir, so wie wir es wünschten, die Dauer der Verhandlungen noch hätten hinziehen können; unglücklicherweise ist es zu einer [110] Insulte seitens des Königs von Preußen gekommen, und diese Tatsache hat zur Folge gehabt, auf der Stelle die Verhandlungen abzubrechen." Die Emser Depesche hat also (daß keine Insulte erfolgt ist, bedarf keines Nachweises) die Franzosen nur genötigt, den Übergang zum Kriege einige Tage früher zu vollziehen, als ihnen nützlich schien, und das kriegerische Programm durchzuführen, das, seit dem 6. Juli mit Vorbedacht angelegt, zeitweilig in den Plänen einer Aufrollung der deutschen Frage vollends aufgedeckt war. Weshalb Gramont gern noch einige Tage gehabt hätte, hatte er schon am 17. Juli dem österreichischen Reichskanzler Beust gestanden: "Wenn ich die Stunde der Aktion hätte wählen können, so würde ich natürlich nicht verfehlt haben, unsere Verträge fertig zu machen." Wie seine innere Stimmung aussah in den Stunden, wo die Kriegserklärung nach Berlin abging, verrät der pathetische Zuruf, den er in demselben Schreiben an Beust richtete: "Niemals wird sich eine gleiche Gelegenheit von neuem bieten, niemals werdet Ihr eine so wirksame Hilfe finden, niemals wird Frankreich so stark sein wie heute, niemals besser bewaffnet und ausgerüstet, von höherem Enthusiasmus erfüllt. Im Moment, wo ich schreibe, fühle ich, daß der Geist, der mich beseelt, der Geist ganz Frankreichs, der Geist des Kaisers und der Armee ist."

Auch als die Hoffnung auf den österreichischen Verbündeten schwand, machte Gramont kein Hehl aus dem bewußten Willen, mit dem er in den Krieg getrieben. Als am 27. Juli der bisherige französische Gesandte in Stuttgart, Graf Saint-Vallier, bei ihm eintraf, voll lebhafter Sorgen und Klagen über die Politik seines Chefs, erwiderte er: Er hätte den Krieg zwischen Frankreich und Preußen schon längst als unvermeidlich betrachtet; deshalb hätte er Zeit und Gelegenheit so ausgesucht, "wie sie für uns günstig wären". Ja in seiner Verblendung schloß er mit den Worten: "Was nun aber die süddeutschen Königreiche betrifft, so irrten Sie sehr, wenn Sie meinten, wir wünschten deren Neutralität; wir wollen sie gar nicht haben; unsere militärischen Operationen würden durch sie nur gehemmt werden; wir brauchen die rheinpfälzische Ebene für den Aufmarsch unserer Armee." Das ist eins der letzten Worte, das unmittelbar vor den ersten Schlachten uns in die Tiefe des Grundes blicken läßt. Die Kriegführung, und man darf hinzusetzen, die Kriegsziele der Franzosen bedurften der ganzen deutschen Nation als eines Gegners - im trügerischen Glauben an die große Bündnisvorbereitung vermaß man sich, ihr im Felde zu begegnen. Noch hatte der unglückliche Verlauf des Krieges nicht die Flucht aus den wahren Verantwortlichkeiten eingeleitet. Ein Mann wie Thiers, der die Zusammenhänge tief durchschaute, dachte, wie Ranke erzählt, in ihren vertrauten Unterredungen im November 1870 nicht daran, Bismarck, den er auf das Höchste bewunderte, oder den Deutschen überhaupt die Schuld am Kriege zuzumessen. Und Kaiser Napoleon hat noch am 2. März 1871 einer Vertrauten gestanden: "Ich erkenne an, daß wir die Angreifer gewesen sind."

[111] Nur scheinbar war der Krieg, der jetzt begann, von einem Streit der Mächte um fernabliegende Fragen ausgelöst, nur scheinbar ging der Krieg aus dem kunstvollen Spiel der Diplomatie hervor, die im letzten Stadium herkömmlich um die Legitimation des Kriegsausbruches vor der öffentlichen Meinung rang - jetzt ging es wirklich um ein Völkerschicksal, das seit Jahrhunderten zu einem europäischen Problem geworden, vor vier Jahren vor der letzten Entscheidung unterbrochen und vertagt, nach dem Willen der Franzosen nicht ohne Anrufen des Kriegsgottes endgültig seiner letzten Bestimmung entgegengeführt werden sollte. Die Schlachten dieses Krieges sind nicht nur Siege über einen tapferen Gegner, sondern ein Ringen eines Volkes um seine nationale Selbstbestimmung. Der tiefere Sinn, der sich aus dem positiven Ziel des Unternehmens herleitet, scheint auch dem englischen Historiker Seeley vorzuschweben, wenn er im Jahre 1878 das Urteil niederschrieb: "Die Hauptkriege Preußens seit seinem großen Zusammenbruch, die von 1813, 1866 und 1870, haben einen Charakter von Größe, wie keine andern modernen Kriege. Sie haben in gewisser Weise die moderne Welt mit dem Kriege ausgesöhnt, denn sie haben diesen als Förderer der Zivilisation und als eine Art moralischer Energie gezeigt." Es war der Eindruck des gerechten Krieges, der in der damaligen Weltmeinung, die seine Vorgeschichte in den letzten vier Jahren miterlebt hatte, weit überwog und noch nicht, wie ein Menschenalter später, durch eine berechnete Umwertung aller Werte verfälscht war. Wir kennen die großen konzentrischen Kriegspläne des Dreibundes auf dem deutschen Boden, Entwürfe, nach denen die französische Macht, wie alle Welt erwartete, über den deutschen Mittelrhein vorstoßen sollte - nur die Überlegenheit der preußisch-deutschen Organisation ermöglichte es ihr, die Waffen auf den Boden des Feindes zu tragen und ihrerseits zu der "Invasion" zu schreiten, die sich einem spätern Geschlechte in dem "Überfall" eines friedlichen Volkes durch einen verschlagenen und von langer Hand her rüstenden Gegner darstellte.

Die Gemeinsamkeit des Kampfes aller deutschen Stämme, das war schon die Idee des neuen Reiches in der Tat verwirklicht - wie hätte man, wenn nicht geschlagen, überhaupt in die frühere Unfertigkeit der staatlichen Ordnung zurückkehren können! Die Gefangennahme Kaiser Napoleons, das war mehr als ein Kriegsereignis, es war der symbolhafte Vorgang des Ausscheidens der Macht, die sich dem deutschen Staate in den Weg gestellt hatte. So herrschte bald Einmütigkeit darüber, noch während der Fortgang des Krieges den Widerstand der Franzosen vollends brach, das Deutsche Reich mit allem, was sein Inhalt und seine Form bedurfte, zu vollenden. Also verflocht sich die Vollendung des Reiches mit den kriegerischen Ereignissen. Bald nach Sedan begannen die Verhandlungen zwischen Norden und Süden; in den Wochen nach dem Fall von Metz kamen die Versailler Verträge über den Anschluß zustande, und wenige Wochen vor dem Fall von Paris wurde in dem Schlosse Ludwigs XIV., von dem so [112] viele kriegerische Unternehmungen gegen das alte Reich ausgegangen waren, eine neue Kaiserwürde begründet.

Es entsprach der Beharrlichkeit der Kräfte im deutschen Staatsleben, daß dieser letzte Abschluß unserer staatlichen Lebensform sich nicht vollzog, ohne daß noch ein später Nachklang der großen innern Gegensätze der letzten Menschenalter in die Verhandlungen hineinspielte. Die Süddeutschen traten in das Reich ein, aber sie waren darauf bedacht, bei diesem Eintritt sich gewisse Sonderrechte vorzubehalten und ihre Eigenstaatlichkeit noch ein Stück weiter sicherzustellen, als es in der Norddeutschen Bundesverfassung von 1867 für die Gliedstaaten vorgesehen war. Trotzdem trug Bismarck kein Bedenken, ihnen in den Versailler Verträgen des Novembers 1870 die geforderten Reservatrechte zu bewilligen, obgleich dadurch die im Norden bereits erreichte Einheitsform des Reiches tatsächlich oder scheinbar wieder durchlöchert wurde. Die Unitarier der Nationalpartei waren schwer enttäuscht; der preußische Kronprinz hatte mit dem Gedanken gespielt, daß man durch stärkern Druck mehr im Sinne der Einheit hätte erreichen können, und spottete über das "kunstvoll gefertigte Chaos" des Verfassungswerkes; und Heinrich von Treitschke machte, wie seine leidenschaftlichen Briefe aus diesen Tagen zeigen, kein Hehl aus seinem tiefen Groll "über das elende Flickwerk von Versailles". Auf der andern Seite waren die Verträge in Bayern nur unter großen Schwierigkeiten durchzusetzen; bis zuletzt bedrängten die Prinzen des wittelsbachischen Hauses den König Ludwig II. wegen seiner Preisgabe wesentlicher Souveränitätsrechte, und auch der bayrische Landtag nahm die Verträge nur mit zwei Stimmen über die erforderliche Zweidrittelmajorität an. Bismarck hatte jeden Versuch, durch stärkeren Druck ein reineres Ergebnis zu erzielen, von der Hand gewiesen, weil ihm, mitten in dem Kriege und in den vom neutralen Auslande drohenden Gefahren, der rasche und freiwillige Beitritt des Südens wertvoller war als alles andere. So nahm er seinen Weg mitten durch die enttäuschte Kritik der liberalen Unitarier und das ohnmächtige letzte Aufbäumen des Partikularismus. Er vertraute auf die natürlichen Kräfte des lebendigen Fortschritts, die in den nationalen Einrichtungen lagen, und ließ sich die Schönheitsfehler der Form wenig kümmern, die ihm von der staatsrechtlichen Doktrin niemals so recht verziehen wurden. Vielmehr trug er der politischen Situation Rechnung, wie sie sich aus der Anwendung der Schutz- und Trutzbündnisse im Juli 1870 entwickelt hatte, und um keinen Preis wollte er auf der Gegenseite das Gefühl aufkommen lassen, in dem großen Entscheidungskampfe die Pflicht eines Bundesgenossen erfüllt zu haben und trotzdem wider Gebühr vergewaltigt zu sein. Nur eine Entschließung aus Freiheit behielt in dieser Stunde dauernden Wert.

Gewiß wurden Bayern und Württemberg Reservate zugebilligt, die an sich die strenge Geschlossenheit des bundesstaatlichen Aufbaus störten. Aber dieser Bundesstaat hatte nun einmal durch die überragende Stellung des Gliedstaates [113] Preußen von Hause aus eine irreguläre Form erhalten, die in keinem bundesstaatlichen Körper der Erde seine Analogie fand; nur die führende Stellung Hollands in den Generalstaaten des 17. und 18. Jahrhunderts könnte zur Not als Parallele herangezogen werden. Diese Verbindung des größten Gliedstaates Preußen mit dem Reiche war ja die eigentliche Singularität des neuen Gebildes, die für die Zukunft ihre Probleme, ihre Aufgaben und Schwierigkeiten in sich schloß. Im Moment lag es in dem geschichtlichen Hergang dieser Entstehung tief begründet, daß das neue Reich gerade diese Gestalt gewann. Es war nun einmal ein Bundesstaat, der durch die Macht eines seiner Glieder, durch seine Waffen und seine Politik geschaffen worden war; und in den Reservaten spiegelte sich doch nur der Teilvorgang, daß diese süddeutschen Staaten freiwillig und auf eigene Verantwortung dem Krieg und dem Bunde des Nordens beitraten. So war die Form des neuen Reiches gewiß an den Moment gebunden, in dem sie ihre Prägung erhielt, aber sie stand zugleich in dem Strom des Lebens, in dem die Entwicklung der Nation fortschritt. Schwerer als alles wog eine einzige Tatsache: seit Jahrhunderten war es das erste Mal, daß der deutsche Staat, aus seinem eigenen Willen heraus und ohne Einwirkung des umgebenden Auslands, sich autonom und souverän selber gestaltete.

Auf den Eintritt der Süddeutschen in den Nordbund folgte die Annahme des Kaisertitels: die Krönung des Gebäudes aus dem Geiste der deutschen Geschichte. Einst hatte das Frankfurter Parlament den König von Preußen zum Kaiser eines Reiches gewählt, das man auf dem Grunde der Souveränität der Nation zu errichten gedachte, jetzt waren es die deutschen Fürsten, die unter Führung König Ludwigs von Bayern an den Hohenzollern die Aufforderung richteten, den Namen eines deutschen Kaisers in dem aus ihren Verträgen erwachsenen Reiche anzunehmen. Es war gleichsam der Geist des Staatsrechts des alten Reichs, das fürstliche Privileg der Großen, das noch einmal den Sieg über das neue Staatsrecht der souveränen Nation davontrug. Und doch sollte man die beiden Hergänge so entgegengesetzten Ursprungs, den national-revolutionären von 1849 und den historisch-konservativen von 1871, in einem Atemzuge nennen, weil sie zusammen erst das ganze Bild der Lösung der deutschen Frage ergeben. Beide Male waren die irdischen Kleinlichkeiten nicht ausgeblieben, ohne die sich auch die großen Dinge der Geschichte selten vollstrecken: lagen sie damals in dem Handel der Parlamentsparteien und der geringfügigen Abstimmungsmehrheit, so hafteten sie jetzt an dem Spiel der höfischen Diplomatie, mit dem Bismarck die schwere und schwankende Seele des Bayernkönigs in Bewegung setzte. Aber wenn die Hand Bismarcks selbst den Entwurf des Schreibens aufsetzte, in dem Ludwig seinen königlichen Vetter zur Annahme des Kaisertitels aufforderte, so war auch dieser kleine Nebenumstand nur ein wundersam symbolischer Ausdruck dafür, daß die mächtigen Züge dieses ganzen großen Geschehens die geheime Handschrift des Kanzlers trugen.

[114] Wie er es dem König von Bayern erleichterte, in dieser geschichtlichen Stunde eine seines Staates würdige Rolle zu spielen, so hatte er zugleich die noch schwierigere Aufgabe zu erfüllen, den König von Preußen über sich selbst zu erhöhen. Dieser schwere Kampf zwischen dem König und seinem Staatsmann gipfelte schließlich in der Titelfrage, die nicht etwas Äußerliches, sondern die feinste Essenz des ganzen preußisch-deutschen Problems war: der jetzt im deutschen Reiche aufgehende preußische Staatsgedanke, der sich 1848 behauptet hatte, von Bismarck selbst im Konflikt befestigt und zum Siege geführt worden war, ließ sich nicht ohne innersten Kampf herbei, mitten in der Erhebung des Sieges hinter der höhern Idee der Nation zurückzutreten. An diesem 18. Januar 1871, dem Jahrestage der Annahme des Königstitels durch den Kurfürsten von Brandenburg, atmete König Wilhelm, umgeben von den Prinzen seines Hauses und den Generalen seiner Armee, hinter sich die Fahnenträger des 1. Garderegiments zu Fuß und des Königs-Grenadierregiments Nr. 7, noch einmal in vollen Zügen die preußische Luft: aber ihn überwältigte, wie er Bismarck vorhielt, zugleich das Gefühl, daß er das preußische Königtum zu Grabe trage. Das Bild des Preußenkönigs, der eine große Tradition sich selbst vollendend versinken sieht und an dem Tag der Kaiserproklamation wort- und danklos an dem Schöpfer des Reiches vorbeischreitet, bringt doch nur das Schmerzlich-Tragische zum Ausdruck, das für die beteiligten Personen eines großen geschichtlichen Dramas niemals ausbleibt. Der militärische Zuschnitt der ganzen Feier ließ den alten Rechtssatz des "exercitus facit imperatorem" wieder zur Geltung kommen, und wer in dem prunkvollen Bilde des höfischen "Ordensfestes" die volkstümlichen Züge suchte, mochte sie in den Abordnungen der Regimenter erblicken, die das Volk in Waffen vertraten. Das alles wirkt symbolisch, wie auch der erste huldigende Zuruf aus dem Munde des Großherzogs von Baden, des fürstlichen Bundesgenossen der Nationalpartei. Freilich die nationale Idee, mit ihrem Ethos und ihrem Glauben, erscheint vor den Männern der Tat zurückgedrängt. Sie kommt an diesem Tage so wenig zu Worte wie sie in den kurzen Beratungen des Reichstages einen vollen Ausdruck fand: ihre Größe war vorweggenommen und bedarf am Tage des Siegesfestes keiner Bestätigung. Aber Großherzog Friedrich von Baden, der alle diese Dinge intensiv miterlebte, schrieb an diesem Abend in sein Tagebuch das Gelöbnis nieder: daß diese Kraft fortan nur zum Guten angewandt werde, das soll die Lehre sein, welche unser junges deutsches Reich aus den geschichtlichen Erinnerungen des Schlosses von Versailles nach der Heimat bringt.

Der Friede war die erste Aufgabe, die dem neuen Reiche oblag. Unmittelbar nach der Kaiserproklamation leiteten die Franzosen Schritte zur Aufnahme der Friedensverhandlungen ein. Damit begann für Bismarck der zweite Teil seiner eigentlichen Kriegsaufgabe. Der Krieg von 1864 hatte gleichsam die machtpolitische Auseinandersetzung mit Österreich unter dem Herzen getragen; [115] in dem Kriege von 1866 hatte unsichtbar der mächtige Schatten Kaiser Napoleons hinter allen Entscheidungen gestanden; in dem Kriege von 1870/71 war Bismarcks eigentliche Sorge, daß ein Kreis der Neutralen in die Friedensverhandlung eingreifen möchte. Aus diesem Grunde war er entschlossen, den Abschluß des Friedens unter allen Umständen mit der Kapitulation von Paris zu verbinden und möglichst zu beschleunigen; während die führenden Militärs einem Diktatfrieden zuneigten, wollte Bismarck einen Verständigungsfrieden mit den Franzosen, denn er blickte sorgenvoll in die Umwelt Europas und in die Zukunft voraus. Nach schweren Kämpfen im Hauptquartier gelang es ihm, auch bei König Wilhelm den Sieg davonzutragen und den Militärs den Frieden aus der Hand zu nehmen. Nicht in allem und jedem, aber doch in den Hauptzügen war der Präliminarfriede vom 26. Februar das Werk seines festen und dann doch wieder elastischen Willens.

Abschlußsitzung des Frankfurter Friedens, Mai 1871.
[160a]      Abschlußsitzung des Frankfurter Friedens, Mai 1871.

Der Frankfurter Friede, der auf der Grundlage dieses Präliminarfriedens geschlossen wurde, war mehr als das Ende dieses Krieges. Er brachte die durch die Jahrhunderte gehende Auseinandersetzung zwischen Frankreich und Deutschland dergestalt zum Abschluß, daß das Schwergewicht der Macht von der französischen auf die deutsche Seite überging. So verband sich die Begründung des deutschen Reiches mit dem Sieg über Frankreich, während die Franzosen aus dem Kriege das bittere Erlebnis heimtrugen, in der Existenz der nachbarlichen Großmacht, deren Aufstieg sie zu durchkreuzen versucht hatten, nun erst die eigene Niederlage in einem weltgeschichtlichen Prozeß gleichsam verkörpert zu sehen. Also waren die von jeher sich so tief berührenden Geschicke der einander nahe verwandten und aufeinander angewiesenen Länder durch die unglückselige Politik Napoleons III. ineinander verkettet worden, daß ihr Glück und Unglück fortan immer wieder aneinander gemessen, sich wechselseitig vertiefend und, wie etwas immer untrennbarer und immer gegensätzlicher Werdendes, schicksalsmäßig das Gesicht Europas bestimmten.

Das Symbol der jetzt eingetretenen Machtverschiebung war die Annexion des Elsaß und einiger anschließender Teile Lothringens, einschließlich Metz, durch das Reich.

Die deutsche amtliche Politik begründete die Abtretung mit dem staatspolitischen Motiv der Sicherheit. Dieses und kein anderes Motiv, obgleich es die Frage des von der Abtretung betroffenen Volkstums noch gar nicht berührte, wollte Bismarck als primär und entscheidend gelten lassen. Er konnte sich auf die Geschichte der Jahrhunderte, er konnte sich insbesondere auf die Politik der Kompensationen und Interventionen, der Drohungen und des Anschlußverbotes unter Napoleon III. berufen. Dieser Eindruck war damals noch stark und lebendig in Europa. Schon am 12. Oktober 1870 äußerte sich der amerikanische Gesandte Bancroft im Auswärtigen Amte zu Berlin: "daß die leitenden Staatsmänner und die öffentliche Meinung in Amerika den jetzigen Krieg wesentlich als einen [116] Akt der Notwehr von deutscher Seite ansähen, wobei es hauptsächlich darauf ankomme, Deutschland vor neuen Angriffskriegen seiner westlichen Nachbarn, wie deren die Geschichte der drei letzten Jahrhunderte eine so große Anzahl aufweist, durch eine bessere Abgrenzung dauernd zu schützen." Weithin in der Welt wurde der Krieg von 1870 als ein gerechter Krieg empfunden, und einem großen Teil der öffentlichen Meinung schien auch die Gerechtigkeit des Friedens - soweit man in den Machtauseinandersetzungen irdischer Gewalten derartige ethisch-juristische Begriffe verwenden darf - durch die Abtretung nicht belastet.

Dazu trug die Tatsache bei, daß das staatspolitische Motiv der Sicherheit noch durch andere tiefere Motive verstärkt wurde: durch die einstige geschichtliche Zusammengehörigkeit dieser Gebiete mit dem alten deutschen Reiche, durch die weitüberwiegende deutsche Sprache und Kultur ihrer Bevölkerung. Von dem historischen Argument allerdings wollte Bismarck niemals viel wissen, er suchte seine Geltung und Anwendung bewußt als Professorenidee zu diskreditieren. Weitblickend und verantwortungsvoll, sagte er sich mit Recht, daß ein neuerstandenes deutsches Reich, das alsbald die historischen Rechtstitel des alten deutschen Reiches auszugraben Neigung zeige, nur mit Mißtrauen, nicht wie er wollte mit Vertrauen, in den Kreis der Mächte aufgenommen werden würde, ja leicht als eine allgemeingefährliche Bedrohung für die andern, für die geltende Rechtsordnung der Staatengesellschaft empfunden werden könne. Was der die Jahrhunderte überfliegende Blick des Historikers als eine Einheit zusammenfaßt, wie es auch in dem berühmt gewordenen Worte Rankes zu Adolphe Thiers geschah, darf darum doch nicht von dem Politiker zur Begründung von Ansprüchen und Gewaltmaßregeln ins Feld geführt werden.

Anders stand es mit dem Motiv der deutschen Sprache und der deutschen Kultur im Elsaß. Dadurch konnte allerdings der Annexionshergang eine tiefere und innere, nicht vor den Kabinetten, sondern auch vor den Völkern vertretbare Begründung finden. Diesem Gedankengange, wenn auch nur in sekundärer Anwendung, verschloß sich auch Bismarck nicht. Er würde das Sicherheitsargument nicht in solchem Umfange geltend gemacht haben, wenn es nicht durch das Deutschtum des Elsasses eine Unterstützung erfahren hätte. Aus diesem Grunde widerstrebte er auch der Annexion von Metz als einer Aneignung fremdnationalen Gebietes, dessen Bevölkerung, schwer verdauliche Elemente, wie er sie nannte, doch nur ein dauernder, allein aus militärischen Gründen zu rechtfertigender Fremdkörper im Reiche bleiben würde. Strategische Rücksichten, so sagte er vertraulich zum Großherzog von Baden, dürften nicht allein gegenüber politischen Notwendigkeiten entscheiden.

Das Deutschtum der Elsässer, was ihre Sprache und den Kern ihrer Kultur anging, stand außer Frage. Der dem kronprinzlichen Hofe nahestehende englische Diplomat Sir Robert Morier, der Anfang Oktober 1870 eine Infor- [117] mationsreise in das Elsaß unternahm, um den Charakter von Land und Leuten festzustellen, kehrte mit dem Ergebnis zurück, daß das Elsaß eine "rein deutsche Provinz" sei. Der im Grunde seines Herzens den Deutschen kaum wohlgesinnte Führer der Polen, Herr von Zoltowski, begrüßte im Deutschen Reichstage die Rückkehr der Elsässer als einen Sieg des Nationalitätenprinzips, "weil das historische Recht und das Nationalitätsprinzip den Sieg über faktisch und rechtlich jahrhundertelang bestehende Verhältnisse davongetragen hat". Und konnte es anders sein, als daß die deutsche öffentliche Meinung, im Vollgefühl der nationalen Idee, die nun endlich alle Stämme zur Einheit zusammenführe, sich begeistert an dem Gedanken erhob, daß hier ein entfremdeter deutscher Bruderstamm in das Vaterhaus der Nation zurückkehre? Gerade jene Beschäftigung mit dem altdeutschen Literatur-, Kunst- und Kulturgut, die in der Erneuerung des nationalen Empfindens eine so große Rolle spielte, ließ angesichts des überreichen Anteils des Elsaß die Herzen höher schlagen. Mit Otfried von Weißenburg fing die deutsche Literaturgeschichte an. Im Religiösen, das immer die innerste Art eines Volkstums offenbart, führt eine Linie von dem Straßburger Dominikaner Johannes Tauler, hinweg über die Prediger der Reformationszeit, Martin Bucer aus Schlettstadt und Wolfgang Capito aus Hagenau, bis zu Philipp Jakob Spener aus Rappoltsweiler, dem Haupt des deutschen Pietismus: so viel umfaßt der elsässische Einschlag in das Gewebe deutscher religiöser Innerlichkeit ! Deutsch waren die Künstler im Elsaß, auch da, wo sie französischen Einflüssen sich öffneten, Gottfried von Straßburg, der Dichter, der im romanischen Gewande die deutsche Innerlichkeit durch die höfische Form hindurchbrechen läßt; Erwin von Steinbach, der Erbauer des Straßburger Münsters, in dem übernommene fremde Form und deutscher Gefühlsinhalt zusammengehen; und Johann Fischart, der größte deutsche Satiriker, der einen deutschen Rabelais in einem überquellenden, phantastischen, tudesquen Reichtum der Form und Sprache zu schaffen unternahm. Im Elsaß hatten die beiden Schlettstädter Jakob Wimpheling und Beatus Rhenanus, der eine die erste deutsche Geschichte (1505) in dem neuen nationalen Stile der Humanisten geschrieben, der andere die erste wissenschaftliche germanische Altertumskunde (1531) verfaßt; von den bedeutendsten elsässischen Malern der Epoche stammte der Colmarer Martin Schongauer aus Augsburg und Hans Baldung Grien aus einer Schwäbisch-Gmünder Familie. Genug, von einer französischen Kultur war in dem Alemannenlande bis in das 17. Jahrhundert nicht die Rede, wohl aber gab es nirgends einen so reichen Anschauungsstoff für die Blätter "Von deutscher Art und Kunst", wie ihn der junge Goethe als Straßburger Student gerade auf diesem deutschen Boden in sich aufnahm. Und sollte alles das, einst uns entfremdet, da wir nichts in der Welt vermochten, nicht wieder auferstehen in einer Zeit, da der deutsche Name wieder zu Ehren kam? So war der Glaube der deutschen Nationalpartei gewillt - und in welchem andern großen Volke in ähnlicher Lage wäre es anders gewesen -, [118] diese Frage aus ehrlicher Überzeugung zu bejahen. Den Deutschen war im Laufe ihrer geschichtlichen Entwicklung, die wir verfolgt haben, die innere Kontinuität eines nationalen Geschichtsbesitzes, wie ihn glücklichere Völker als nationales Heiligtum verehren, fast aus dem Bewußtsein geschwunden. Ist es zu viel gesagt, daß die Deutschen, wenn sie die Annexion von Elsaß-Lothringen begrüßten, gleichsam ein Stück Geschichte, das ihnen allen gemeinsam, dem Ganzen und nicht seinen Teilen angehörte, ein Stück ihrer schmerzvollsten Erinnerungen sich wieder einverleibten und gleichsam den ganzen Sinn ihres Werdens in den letzten Jahrhunderten damit für sich selber zu erobern vermeinten?

Dabei übersah man freilich, daß auch deutsche Sprache und deutsches Volkstum allein noch nichts aussagen über den politischen Lebenswillen einer Bevölkerung. Man mußte es hinnehmen, daß die lebende Elsässer Generation das politische Band, das sie mit Frankreich verknüpfte, nicht zerschneiden wollte, und sich dessen getrösten, daß erst die kommende Generation die Wiedervereinigung auch aus eigenem Willen gutheißen würde. Heute wird sich niemand dagegen verschließen, daß die jetzt geltenden ethisch-politischen Maßstäbe dem Plebiszit in der politischen Verschiebung von Menschen aus dem einen Staate in einen anderen Staat einen größern Raum zuweisen. Die Frage aber, ob Napoleon bei den wechselnden Listen seiner rheinischen Kompensationsforderungen oder gar in den Friedensbedingungen nach einem siegreichen Kriege seinerseits ein solches Plebiszit auf deutschem Boden zur Anwendung zu bringen bereit gewesen wäre, wird jeder Kenner der französischen Rheinpolitik ohne Schwierigkeit zu beantworten wissen. Und wer wollte die weitere, immer wieder aufgeworfene Frage zu entscheiden wagen, ob ein Frankreich, das, ohne jeden Gebietsverlust aus dem Kriege hervorgegangen, seine ganze überlegene militärische Stellung am Oberrhein behauptet hätte, aus diesem Grunde den Neigungen zur friedlichen Nachbarschaft den Vorzug vor seinem historischen Machtwillen gegeben haben würde? Die französische Geschichte bis zum heutigen Tage fährt fort, den Stoff zur Beantwortung dieser Frage zu liefern.

Ein französischer Historiker hat einmal die scheinbar schlagende Antithese aufgestellt: die Deutschen hätten im 19. Jahrhundert den edlen Gedanken (la noble idée) ihrer nationalen Einigung verfolgt, aber die erste Anwendung, die sie von der gewonnenen Einheit gemacht hätten, habe darin bestanden, Franzosen aus dem französischen Staate herauszureißen: das sei ein Fehler und ein Verbrechen gewesen. Dabei wird nur die entscheidende Tatsache außer acht gelassen, daß die französische Generation von 1860 bis 1870 den deutschen Einigungswillen, weit entfernt ihm die Wertschätzung einer "noble idée" zuteil werden zu lassen, auf Tod und Leben, durch die Erneuerung der historischen Rheinpolitik und die Anmaßung des Anschlußverbotes, bekämpft und eben dadurch den Krieg mit seinen Rückschlägen ausgelöst hat. Hätten Napoleon und seine [119] Leute jene tiefere Einsicht gehabt, auf die Bismarck immer wieder hoffte, dann wäre allerdings der Krieg vermieden worden, das Reich ohne die schweren Opfer von 1870/71 zustande gekommen und den Franzosen der Frankfurter Friede erspart geblieben. Wer also von Fehlern und Verbrechen spricht, die an dem Geiste des Jahrhunderts begangen seien, muß sie in der Vorgeschichte des Krieges suchen und danach den Prozeß eröffnen. An dem Geiste der französischen Politik der sechziger Jahre müssen letzten Endes auch die Mittel gemessen werden, mit denen die Deutschen, den säkularen Umweg ihrer Geschicke beschließend, sich gegen die Wiederkehr des Erlittenen auf die Dauer sicherzustellen suchten.

Miteinander sind die Wiederherstellung des Reiches und der Frankfurter Friede die Grundlage eines neuen Zeitalters, das unter diesem doppelten Zeichen sich eröffnet. Was das Deutsche Reich für die europäische Geschichte bedeutet, wird nicht nur von dem Wege seiner Entstehung, sondern vor allem von seiner Stellung und Leistung inmitten der Staatengesellschaft abhängig sein.

Der Weltkampf um Ehre und Recht.
Die Erforschung des Krieges in seiner wahren Begebenheit,
auf amtlichen Urkunden und Akten beruhend.
Hg. von Exzellenz Generalleutnant Max Schwarte