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Bd. 6: Die Organisationen der Kriegführung, Erster Teil:
Die für den Kampf unmittelbar arbeitenden Organisationen

[475] Kapitel 10: Nachrichtenwesen und Aufklärung
Oberst Walter Nicolai

1. Der Nachrichtendienst.

Der Nachrichtendienst, d. h. die Beobachtung der militärischen Vorgänge in denjenigen Staaten, die nach der jeweiligen politischen Lage als Gegner für den Fall eines Krieges in Betracht kamen, wurde im Frieden vom Generalstab und Admiralstab ausgeübt. Der Admiralstab klärte auf, was die Seekriegführung berührte, der Generalstab beobachtete die Entwicklung der fremden Heere und Landbefestigungen. Beide Stellen standen durch Austausch ihrer Ermittlungen nur in loser Zusammenarbeit. Vorschläge des Generalstabs auf Vereinigung des Nachrichtendienstes lehnte der Admiralstab ab mit der Begründung, daß bei der Verschiedenartigkeit der Aufklärungsgebiete die Marine ihre eigenen Ziele unter eigener Verantwortlichkeit verfolgen müsse. Bestand somit immerhin im Frieden schon ein Zusammenhang zwischen dem Nachrichtendienst des Heeres und dem der Flotte, so fehlte er ganz mit dem des Auswärtigen Amtes, von dem die Aufklärung der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse im Ausland im Kriegsfall erwartet wurde.

In dem an Raum und Zeit beschränkten Feldzuge 1870/71 genügten die Aufklärungsmittel des Feldheeres. Ein umfangreicher Nachrichtendienst war nicht erforderlich gewesen. Keiner der Kriege seitdem hatte den Umfang des Weltkrieges. Kriegserfahrungen lagen für den Nachrichtendienst also bis 1914 nicht vor. Solange Bismarck die deutsche Politik leitete, war es nur notwendig, Frankreichs militärisches Wiedererstarken zu beobachten. Der Nachrichtendienst des Generalstabs gegen dieses Land hielt sich in den engsten Grenzen. Österreich-Ungarn und Italien waren Verbündete im Dreibund, zu Rußland und England herrschten freundschaftliche Beziehungen. Bismarcks Abgang und die Thronbesteigung König Eduards VII. von England änderten die Lage. Die Entente cordiale schloß sich um den Dreibund zusammen. Der Russisch-Japanische Krieg brachte umwälzende Lehren und Verhältnisse. Rußland trat an Frankreichs Seite. Es baute mit Hilfe französischer Milliarden sein Festungssystem an der Weichsel, am Narew, am Niemen aus, reorganisierte und verstärkte seine Armee, bildete sie nach neuen Grundsätzen aus, vermehrte bedroh- [476] lich die Garnisonen in Polen und Litauen, erweiterte sein strategisches Bahn- und Straßennetz und traf alle Vorbereitungen, sein Massenheer für den Fall eines Krieges schneller, als bisher möglich, gegen Deutschland mobilisieren und aufmarschieren lassen zu können. Die wachsende Gefahr gab dem Nachrichtendienst seit 1906 die Front auch gegen Rußland und führte zur Zusammenarbeit mit dem Nachrichtendienst des österreichisch-ungarischen Verbündeten. Die gleichzeitig erfolgenden Rüstungen Frankreichs gaben Anlaß, daß der deutsche mit dem italienischen Nachrichtendienst in Verbindung trat.

Der planmäßige Ausbau des Nachrichtendienstes begann aber eigentlich erst im Jahre 1910. Er war außerordentlich beschränkt dadurch, daß im Etat an Geldmitteln jährlich noch nicht ½ Million Mark zur Verfügung standen. Zeit und Mittel haben es daher nicht mehr erlaubt, daß der Generalstab schon im Frieden einen Nachrichtendienst auch gegen England vorbereitete. Er blieb auf Frankreich und Rußland beschränkt. Gegen diese Feindstaaten hat er seine ersten Aufgaben für den Kriegsfall gelöst: Stärke, Organisation und Ausbildung des russischen und französischen Heeres waren bei Kriegsausbruch erkannt. Auch wurde der feindliche Aufmarsch an beiden Fronten rechtzeitig und zutreffend gemeldet. Mit diesen Leistungen hatte sich der im Frieden vorbereitete Nachrichtendienst aber auch völlig erschöpft. Sein Aufbau für den Krieg vollzog sich erst vom Herbst 1914 ab, nunmehr unter den schwierigsten Verhältnissen.

Die Kriegslage stellte ihn vor Aufgaben ungeahnten Umfangs. Auf beiden Fronten senkte sich ein eiserner Vorhang zwischen die Mittelmächte und die Feindländer. Die Blockade begann Deutschland lückenlos auch von der Nachrichtenverbindung über See und das neutrale Ausland abzuschneiden. Rücksichtslose Zensur, siegentschlossene Staatsgewalt verhinderten beim Feinde das Herauskommen jeder Nachricht. Die Kavallerie, der bei Kriegsspielen eine große Rolle für die Aufklärung zugedacht worden war, schied aus. Die Luftaufklärung war erst im Ausbau. Sie lieferte immer auch nur Ergebnisse beschränkten Umfangs. Über die Pläne des Feindes, über die Stimmung von Volk und Heer, über die Wirtschaftslage, über die Arbeiten der Rüstungsindustrie konnten die Nachrichtenmittel des Heeres keine Aufklärung schaffen. Diese Fragen rückten aber in den Vordergrund, je mehr die lange Dauer des Krieges und sein Charakter als Volkskrieg in die Erscheinung trat. Trotz aller Widerstände die unentbehrliche Aufklärung zu schaffen, wurde Aufgabe des Nachrichtendienstes der Obersten Heeresleitung.

Er wurde im wesentlichen in vier große Gruppen aufgebaut: beim Feldheer, im Ausland (geheimer Nachrichtendienst oder Spionage), in der Heimat und aus der Presse. Der Nachrichtendienst der Obersten Heeresleitung beim Feldheer wurde verkörpert durch die Nachrichtenoffiziere der Obersten Heeresleitung, die jedem Armee- und Heeresgruppenkommando, sowie den Oberkommandos der österreichisch-ungarischen, bulgarischen und türkischen Armee zu- [477] geteilt waren. Besonders ausgewählt und ausgebildet und nach einheitlichen Gesichtspunkten geleitet, stellten die Nachrichtenoffiziere ein Meldenetz dar, welches das gesamte Operationsgebiet bis in seine fernsten Teile mit der Obersten Heeresleitung verband. Unterrichtet von allem, was der mehr taktische Nachrichtendienst der einzelnen Armeen ergab, meldeten die Nachrichtenoffiziere täglich und nach Bedarf das Bild der feindlichen Front. Von der Obersten Heeresleitung über ihre Beurteilung der Lage beim Feind unterrichtet, übermittelten sie diese ihren Oberkommandos und gewährleisteten damit eine einheitliche Auffassung hierüber zwischen Oberster Heeresleitung und allen Armeen. Einen Einfluß auf den Gang der Operationen hatten sie nicht. Jeder Nachrichtenoffizier verfügte über ein oder zwei Hilfsoffiziere und geringes Unterpersonal. Der Grundsatz der Obersten Heersleitung, möglichst geringe Kräfte der Front zu entziehen, stellte an die einzelnen Organe des Nachrichtendienstes außerordentlich hohe Anforderungen.

Das Ergebnis des Front-Nachrichtendienstes beschränkte sich auf Stärke und Zustand der feindlichen Fronten. Was dahinter vorging, blieb ihm verschlossen. Nur die Vernehmung von Gefangenen gab auch Einblick in die Vorgänge in den feindlichen Ländern. Hiergegen vorzugsweise aufzuklären, fiel den anderen Zweigen des Nachrichtendienstes zu.

Von diesen betätigte sich der geheime Nachrichtendienst mit seinen Organen, die durch Kriegsnachrichtenstellen von deutschem Boden aus angeleitet wurden, in den Feindländern selbst. Eine Spionage durch die Fronten hindurch in das feindliche Land hinein wurde schon sehr bald nach Kriegsbeginn unmöglich. Der Feind hingegen konnte sie betreiben, weil er im Rücken des deutschen Heeres auf seine eigene Bevölkerung traf, die der Spionage in jeder Weise aufopferungsfreudig ihre Dienste leistete. Der deutsche geheime Nachrichtendienst war auf den Weg über die wenigen angrenzenden neutralen Übergangsländer angewiesen, in denen der Feind, von den neutralen Regierungen unterstützt, seine Abwehrmaßnahmen bis dicht an die deutsche Grenze vorschob. Der deutsche geheime Nachrichtendienst war, obgleich gerade für Deutschland von größter Wichtigkeit, dadurch auf das äußerste erschwert. Er konnte seine Aufgabe nur in straffer Zusammenfassung seiner Kräfte lösen. Die vom Feinde verbreiteten Nachrichten über den Umfang der deutschen Spionage waren, wie so vieles, womit er die eigenen Maßnahmen verschleierte, falsch. Immerhin hat aber der geheime deutsche Nachrichtendienst gerade durch seine ihm aufgezwungene Straffheit und durch die opferreiche Arbeit seiner Organe wesentliche Dienste geleistet. In der Heimat erschlossen Inlands-Nachrichtenoffiziere diejenigen Quellen, die die Auslandspost, der Reisendenverkehr aus dem Ausland und die Gefangenenlager boten. In mühsamer Feinarbeit lieferten diese Offiziere der Obersten Heeresleitung außerordentlich wertvolle Nachrichten. Dem vierten Zweige des Nachrichtendienstes endlich, dem aus der Auslandspresse, der dem [478] Kriegspresseamt zufiel, blieb es versagt, Nachrichten von wesentlicher militärischer Bedeutung zu liefern. Die Zensur in den Feindländern war rücksichtslos durchgeführt. Die Presse des feindlichen und auch des neutralen Auslands stand völlig unter dem tatkräftigen, politischen Einfluß der feindlichen Regierungen. Trotzdem gelang es auch dem Kriegspresseamt, unter sachverständiger Mitarbeit von Kennern wirtschaftlicher und politischer Verhältnisse, wenigstens hierüber einige Aufklärung zu schaffen, was um so wichtiger war, als das erwartete Ergebnis eines wirtschaftlichen und politischen Nachrichtendienstes durch das Auswärtige Amt ausblieb.

Die Leitung des gesamten Nachrichtendienstes der Obersten Heeresleitung lag bei dem Chef der Abteilung III B im Großen Hauptquartier. Die Bezeichnung dieser Abteilung ist historischen Ursprungs. Im Kriege 1870/71 war der Nachrichtendienst Aufgabe der Sektion b der 3. (französischen) Abteilung des deutschen Hauptquartiers. Im Weltkriege wurde er als besondere Abteilung, aber unter der alten Bezeichnung, dem Chef des Generalstabs des Feldheeres und nach Eintritt des Generals Ludendorff als erster Generalquartiermeister in die Oberste Heeresleitung diesem unmittelbar unterstellt. Von ihnen erhielt der "Chef III B" die Weisungen für Ausbau und Ziele des Nachrichtendienstes. Aber den Inhalt der eingehenden Nachrichten trug er nur in besonderen Fällen vor. Denn die große Zahl der täglich vorliegenden Meldungen bedurfte bei ihrer Vielgestaltigkeit und den selbstverständlich oft vorhandenen Widersprüchen zunächst der Durcharbeitung. Zu diesem Zwecke wurden die Meldungen über die militärische Lage beim Feind an die Abteilung "Fremde Heere" weitergeleitet. In dieser wurden sie nach den verschiedenen feindlichen Armeen gesichtet, verglichen, beurteilt, zu einem einheitlichen, klaren Bild zusammengestellt und so vom Chef der Abteilung "Fremde Heere" dem Generalstabschef oder ersten Generalquartiermeister verantwortlich vorgetragen und der Operationsabteilung übermittelt, welcher die weitere Auswertung für die strategischen Entschließungen der Obersten Heeresleitung zufiel.

Nachrichten von Interesse für die Seekriegsleitung wurden zur Verwertung dem Admiralstab, Nachrichten politischen Inhalts an die "Politische Abteilung" im Großen Hauptquartier, die in Verbindung stand mit dem Auswärtigen Amt, überwiesen. Der Generalstab formte also nur militärisch das Bild vom Gegner. Für die Seekriegführung war dies dem Admiralstab, für die Politik dem Auswärtigen Amt überlassen. Für das vierte große Gebiet der Kriegführung, die wirtschaftlichen Verhältnisse, fehlte es sowohl im Großen Hauptquartier wie in der Heimat an einer klar erkennbaren Stelle, die - wie die Abteilung "Fremde Heere" die militärischen - die einlaufenden Meldungen über die Wirtschaftslage des Feindes zu einem einheitlichen Bilde gestaltete und dieses verantwortlich dem Chef des Generalstabs des Feldheeres übermittelte. Ihre Auswertung übernahm deshalb der "stellvertretende General- [479] stab" in Berlin unter Heranziehung von Kennern der Weltwirtschaftsverhältnisse. Seine Arbeit mußte Stückwerk bleiben, besonders aber fehlte ihm die Verantwortlichkeit einer zuständigen Behörde, als welche der Generalstab nicht betrachtet werden darf.

Die vorgenannten Stellen teilten das Bild, welches sie aus den vom Nachrichtendienst gelieferten Meldungen gewonnen hatten und ihr Urteil über einzelne Meldungen der Abteilung III B mit. Von dieser ging beides an die verschiedenen Zweige des Nachrichtendienstes, so daß überall die gleiche Auffassung und eine stetige Fortentwicklung des Nachrichtendienstes unter Mitarbeit der in der Sache verantwortlichen Stellen gewährleistet war. Die Trennung der Beschaffung und Verarbeitung der Nachrichten hat sich vollauf bewährt. Jedes der beiden Arbeitsgebiete stellte so hohe Anforderungen und setzte so sehr Spezialkenntnisse voraus, daß die Bewältigung der Arbeit durch eine Stelle allein nicht möglich war. Die Trennung der Arbeitsgebiete wurde besonders auch deshalb aufrechterhalten, weil nur ein selbständiger Nachrichtendienst Gewähr bietet, objektiv zu melden und nicht der Versuchung unterliegt zu melden, was etwa den handelnden Stellen angenehm oder erwünscht sein könnte. Die Unberührtheit von den Entschließungen der eigenen Kriegführung war ein Vorzug des militärischen Nachrichtendienstes und die Hauptgrundlage seiner Zuverlässigkeit. Hierzu trug ferner bei, daß unter dem Chef der Abteilung III B je ein Stabsoffizier des Generalstabs mit nur ein bis zwei Hilfsoffizieren eine der vier verschiedenen Gruppen des Nachrichtendienstes leitete. Die Beschränkung in der Zahl der leitenden Offiziere verlangte von dem einzelnen zwar eine außerordentliche Arbeitsleistung, erhöhte aber die Straffheit der Führung und die Übersichtlichkeit des Dienstes und stellte zum Besten der Sache die höchsten Anforderungen bei der Auswahl des einzelnen. Die Zuverlässigkeit des Nachrichtendienstes wurde weiter dadurch erhöht, daß jede der vier Gruppen selbständig arbeitete, wodurch die aus ganz verschiedenen Nachrichtenquellen eingehenden Meldungen einen Vergleich zuließen und am besten der vom Feinde in großem Umfange unternommenen planmäßigen Irreführung des Nachrichtendienstes entgegengearbeitet wurde. Diese Versuche des Feindes sind stets erkannt und unschädlich gemacht worden.

So konnte der Nachrichtendienst in rein militärischen Fragen einen vollen Erfolg verzeichnen. Die Oberste Heeresleitung ist während des ganzen Krieges durch keine der feindlichen Operationen überrascht worden. Sie war über die Stärke und Verteilung der feindlichen Streitkräfte stets zutreffend unterrichtet. Im besonderen muß festgestellt werden, daß ihr die feindlichen Reserven auch im Sommer 1918 genau bekannt waren. Als sie Anfang Juni erklärte, die feindlichen Reserven seien verbraucht, war dieses tatsächlich der Fall. Reserven entstehen aber von neuem, besonders wenn hinter der militärischen eine entschlossene politische Führung steht, wie dies beim Feind der Fall war. Das [480] Anwachsen der neuen Reserven im Juni und ihre Versammlung im Juli war der Obersten Heeresleitung gleichfalls bekannt. Sie ist also von den Gegenangriffen der Franzosen und Engländer in der zweiten Hälfte Juli und Anfang August 1918 nicht, wohl aber von deren Erfolgen überrascht worden. Ebenso falsch wie anders lautende Behauptungen über diese Tatsachen ist die Ansicht, daß die Oberste Heeresleitung über die Stärke der amerikanischen Streitkräfte falsch unterrichtet gewesen sei und sie unterschätzt habe. Die hierüber bei der Obersten Heeresleitung herrschende Auffassung hat sich bis auf den Mann als zutreffend erwiesen. Gleichzeitig bestand aber auf Grund der vorliegenden Nachrichten die Überzeugung von dem noch ungebrochenen Vernichtungswillen des Gegners. Es blieb also nichts anderes übrig als zu kämpfen, von der Heimat die notwendigen Mittel zu fordern und vom Feldheer alles seiner Kampfkraft Schädliche fernzuhalten. Hierauf ist später einzugehen. An dieser Stelle muß nur ausgesprochen werden, daß nicht etwa Irrtümer der Obersten Heeresleitung über Stärke und Lage des Feindes bestanden haben und dadurch der Zusammenbruch herbeigeführt worden sei.

Der Weltkampf um Ehre und Recht.
Die Erforschung des Krieges in seiner wahren Begebenheit,
auf amtlichen Urkunden und Akten beruhend.
Hg. von Exzellenz Generalleutnant Max Schwarte