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Bd. 5: Der österreichisch-ungarische Krieg

[589] Kapitel 25: Der Zusammenbruch
Staatsarchivar Oberstleutnant Edmund Glaise-Horstenau

1. Wetterleuchten.

Die Frage, ob ein erfolgreicher Ausgang der Junischlacht in Venetien der Donaumonarchie das Leben gerettet hätte, ist nicht zu beantworten. Wohl aber ist sicher, daß der unglückliche Verlauf des Kampfes dem Habsburgerreich den ersten tödlichen Stoß versetzt hat. Die Schlacht war nur durch das Aufgebot der letzten physischen und moralischen Kräfte ermöglicht worden, auf die der Staat bei seinen Völkern und in der Armee noch zählen konnte. Daß solcher Kräfte - trotz Hunger und Entbehrungen, trotz nationaler und sozialer Not - noch staunenswert viele vorhanden waren, hatte der Auftakt der Offensive gezeigt. Freilich war auch die Nervenanspannung ungeheuer groß. Und als sich alle Mühe und aller Opfermut vergeblich erwiesen hatten, da mußte eine schwere Reaktion auf dem Fuße folgen.

In der Armee war das Vertrauen in die oberste Führung bedenklich erschüttert. In hundert Abarten hörte man das Wort, das im Unglücksjahre 1859 ein steierischer Jäger dem geschlagenen Feldherrn Gyulai zugerufen hätte: "Die Rößle wären schon gut, aber die Fuhrleut' sind nichts wert!"

Der Kaiser erwog anfänglich, die beiden an der Front befehligenden Marschälle der allgemeinen Mißstimmung zum Opfer zu bringen und auch den Generalstabschef, der übrigens selbst wiederholt seine Demission gab, durch eine andere Persönlichkeit zu ersetzen. Schließlich wurde - auch dies hauptsächlich aus parlamentarischen Gründen - nur Conrad v. Hötzendorf verabschiedet, der sich am 15. Juli bei gleichzeitiger Erhebung in den Grafenstand auf den Ruheposten eines Obersten der kaiserlichen Hofgarden zurückziehen mußte. Er tat dies mit dem Gefühl, ein sinkendes Schiff zu verlassen. General v. Cramon faßt die Empfindungen, die der Rücktritt des Marschalls in ihm erweckte, in die Worte zusammen:

      "Graf Conrad v. Hötzendorf war am Verlaufe der Junioffensive wohl tatsächlich nicht ganz schuldlos. Der Einfluß, den er auf den Operationsplan genommen, führte mittelbar zu dessen Verwässerung. Der Ideenflug, dem er bei seinen Vorschlägen an den Kaiser gefolgt war, legte wieder jene Seite seines Geistes dar, die gleichzeitig seine Stärke und seine Schwäche war. Er erwies sich wie immer als Meister in der strategischen Konzeption und im Erkennen der großen Ziele; aber er [590] vermochte es nicht, die Idee reibungslos ins Räumliche zu übertragen. Dieser Mangel konnte bei einem so schwierigen Werkzeug, wie es die österreichische Wehrmacht war, nicht ohne ungünstige Rückwirkung bleiben. Wo viel Licht ist, fehlt es eben auch nicht an Schatten. Trotzdem gab es in der alten k. u. k. Armee kaum jemand, der ohne tiefinnerste Erschütterung den Feldmarschall hätte scheiden sehen. Er war alles in allem der bedeutendste Soldat, den sein Vaterland im 20. Jahrhundert hervorgebracht hatte - und erlitt zudem ein echt österreichisches Schicksal..."

An Conrads Stelle übernahm Erzherzog Josef das Heeresgruppenkommando in Bozen; Fürst Schönburg erhielt den Oberbefehl über die 6. Armee.

Fast noch nachhaltiger als auf die Wehrmacht wirkten die schmerzlichen Ergebnisse der Junioffensive auf die Stimmung der Heimat und der Völker zurück. Wer, wie die Deutschen und zum Teil die Magyaren, das eigene Schicksal bedingungslos mit dem des Reiches verknüpft fühlte, bäumte sich auf in der Empörung gegen die Schuldigen und suchte solche auch dort, wo sie nicht zu finden waren. Die Volksschichten auf dem entgegengesetzten Pol, die sich mit dem Herzen längst ins Lager der Feinde begeben hatten, schöpften aus dem Verlauf der Geschehnisse die Hoffnung, ihre staatsfeindlichen, nur durch die Niederlage der Kaisermächte erreichbaren Ziele nun doch zu verwirklichen. Zwischen diesen Polen hatten bisher Millionen hin und her geschwankt. Sie schlugen sich jetzt, jeglichen Vertrauens in die Sache Österreichs beraubt, an die Seite von dessen Gegnern und zogen sogar solche Volksteile nach, die bisher, wie die Kroaten, unverbrüchlich zu Kaiser und Reich gestanden hatten. Und alle, rechts und links und in der Mitte, erfüllte gleicherweise die heiße, unbezähmbare Sehnsucht, das blutige Kriegsabenteuer so rasch als möglich zu beenden.

Noch bestanden die Einschränkungen der Zensur, wenn auch mit Erleichterungen, vollauf zu Recht. Dessen ungeachtet wußten in Österreich die slawische und sozialdemokratische Presse, in Ungarn Blätter vom Stile des extrem demokratischen Est und der sozialistischen Népszava den Gefühlen ihres Leserkreises unverhohlen Ausdruck zu leihen. Noch stärker trat die allgemeine Reichs- und Kriegsverdrossenheit in den Parlamenten zu Wien und Budapest hervor. Hier wie dort arbeitete sich schrankenloser Radikalismus zum Siege durch.

In Wien trat der Reichsrat am 17. Juli zusammen. Um den Wünschen seiner Getreuesten zu entsprechen, bekannte sich der Ministerpräsident v. Seidler in der Eröffnungssitzung zum "deutschen Kurs", wofür ihm die deutschen Abgeordneten begeisterten Beifall zollten. Es zeugte für den geringen politischen Sinn des sonst so hochbegabten deutsch-österreichischen Stammes, daß sich dessen Vertreter nicht des krassen Widerspruches bewußt wurden, der zwischen der Kundgebung Seidlers und den tatsächlichen politischen Kräfteverhältnissen [591] bestand. Schon das Hohngelächter aus den Bänken der Nationalitäten hätte sie nachdenklich stimmen müssen.

Das Kabinett Seidler überlebte die Verkündung des "deutschen Kurses" - worunter die Erfüllung der "deutschen Belange" zu verstehen war - nur sechs Tage. Am 23. Juli schied es nach vergeblichen Versuchen, eine Mehrheit zustande zu bringen, aus dem Amt. Der Premier zog sich im Vollbesitz der Gnade seines Herrschers, dem er stets ein gehorsamer Diener war, auf den geruhsameren Posten eines kaiserlichen Kabinettsdirektors zurück. Die Tschechen sandten ihm wegen des Erlasses über die Kreiseinteilung in Böhmen eine Ministeranklage nach, die aber im Wirbel der Tage unterging. Sein Nachfolger als Ministerpräsident wurde der Kirchenrechtslehrer und frühere Unterrichtsminister Freiherr v. Hussarek, ein den Christlichsozialen nahestehender Staatsmann, der mit Ausnahme der zwei freiwillig ausscheidenden Polen alle Minister Seidlers in sein Kabinett übernahm. Er kam nicht mehr auf den "deutschen Kurs" zurück, erkaufte sich aber die Wohlgeneigtheit der deutschen Parlamentarier durch die Aufstellung des nordböhmischen Kreisgerichtes Trautenau, das seit Jahrzehnten auf dem Wunschzettel der deutschösterreichischen Politiker gestanden hatte. Auf diese Weise gelang es dem Ministerium, mit Hilfe der Deutschbürgerlichen, der paar konservativen Polen, Rumänen und der küstenländischen Italiener für den Staatsvoranschlag eine Mehrheit von 30 Stimmen zusammenzuraffen. Trotz des scheinbaren Erfolges hatte die Arbeiter-Zeitung recht, wenn sie in der lässigen Art, mit der das Haus dieses Budget bewilligte, geradezu eine Abkehr von Österreich erblickte. Die wahre Stimmung der Volksvertretung war ungleich deutlicher in den Geheimsitzungen zum Ausdruck gekommen, in denen Ende Juli die verunglückte Piave-Offensive besprochen wurde. Tschechen, Südslawen und Polen gaben dem Staat unter den heftigsten Schmähungen den Eselstritt. Die deutschen Sozialdemokraten stimmten den gegen das System vorgebrachten Angriffen der Nationalitäten begeistert bei und vertraten den extremsten Pazifismus. Aber auch die nichtsozialistischen Deutschösterreicher, die deutschböhmischen Abgeordneten ebenso wie die alpenländischen, nationale wie christlich-soziale, erhoben einstimmig die heftigsten Vorwürfe gegen Staats- und Armeeführung, forderten eine Untersuchung der Schuldigen und machten mit ihrer Kritik auch vor der höchsten Stelle nicht halt. Es bestätigte sich, was aufmerksame Beobachter längst wahrgenommen hatten: Der stark schwankenden Versöhnungspolitik des Kaisers war es versagt geblieben, die slawischen Völker des Reiches an sich zu fesseln. Sie hatte aber auch weite Schichten des deutschösterreichischen Volkes abgestoßen.

Die antidynastische Stimmung, die stellenweise unter der Oberfläche um sich griff, wagte sich nach der Junischlacht staunenswert weit hervor. Zahlreiche Gerüchte, zum Teil sehr abenteuerlicher Natur, durchschwirrten das [592] Land. In ihrem Mittelpunkt stand vor allem die Kaiserin mit ihrer Familie. Daß es nur ihrem Einfluß zuzuschreiben sei, wenn in Frankreich nicht stärkere österreichische Streitkräfte zur Verwendung gekommen waren, galt für alle Welt als ausgemachte Sache. Darüber hinaus bezichtigte man sie unsinnigerweise sogar, daß sie den Plan für die Junioffensive an Italien verraten habe! Diese Gerüchte empfingen nicht bloß aus Österreich selbst Nahrung, sondern auch aus Deutschland, wo seit der Sixtusaffäre eine heftige Pressefehde gegen das Haus Parma geführt wurde. Man hoffte in diesen reichsdeutschen Kreisen dadurch, etwaige gegen das Bündnis gerichtete Einflüsse zu lähmen. Es ist aber heute erwiesen, daß diese Zeitungskampagne nicht so sehr den Interessen des Bündnisses diente, als vielmehr jenen Kräften in Österreich, die auf den Umsturz hinarbeiteten und denen jede Schwächung des monarchischen Gedankens, wo immer sie herkam, willkommen war. Selbstverständlich hatte auch die Entente die Hand im Spiele.

Dr. v. Seidler warf sich knapp vor seinem Rücktritt noch persönlich in die Bresche, um die gegen das Kaiserpaar ausgesprengten Gerüchte als Lügen zu brandmarken. Verschiedene Loyalitätskundgebungen konservativer Kreise dienten dem gleichen Zweck. Die für den dynastischen Gedanken wirkende offiziöse Propaganda arbeitete rühriger als je zuvor. Daß sie dabei großes Geschick an den Tag gelegt hätte, könnte man aber nicht behaupten. Sehr viel von dem, was damals beflissene Federn über das Tun und Lassen des Kaisers schrieben, wirkte eher aufreizend als werbend und belastete den Herrscher auch mit der Verantwortung für Geschehnisse, an denen er keinerlei tätigen Anteil gehabt hatte.

In Ungarn war von einer gegen König und Dynastie gerichteten Wühlarbeit weit weniger zu bemerken. Um so gewaltiger brach sich in Budapest die Haßwelle Bahn, die das Unglück an der Piave gegen alles Österreichische hervorgerufen hatte. Einer geschickten Stimmungsmache war es gelungen, in ganz Ungarn zu verbreiten, daß just die einheimischen Regimenter dank der schlechten Führung die größten Verluste erlitten hätten. Ein Aufschrei ging durchs Land und fand hundertfältiges Echo im Pester Parlament: "Los von Österreich - befreit uns von den österreichischen Generalen!"1 Das Gefühl für die Schicksalsgemeinschaft mit dem Schwesterstaate war auf den Nullpunkt herabgesunken. Michael Karolyi, über alle Maßen ehrgeizig, trat, gestützt von im Verborgenen wirkenden Kräften, immer mehr in den Vordergrund. Die Regierung vermochte sich nicht anders zu helfen, als daß sie mit den Wölfen heulte und in den gegen Österreich gerichteten Chorus einstimmte. Die magyarenfeindliche Haltung der Tschechen und Südslawen [593] im österreichischen Parlament und die nur schüchterne, wenig überzeugungsvolle Verteidigung der ungarischen "Staatlichkeit" durch die Wiener Regierung boten Wekerle einen brauchbaren Anlaß. Nie sei, beklagte er sich beim König, das Verhältnis zwischen den beiden Staaten so schlecht gewesen wie jetzt. Von einem Abschluß der noch immer offenen Ausgleichsverhandlungen war nicht mehr die Rede. Sinnfälligen Ausdruck fanden die Beziehungen zwischen Österreich und Ungarn in den nicht immer unblutigen Gefechten, die von Zeit zu Zeit ungarische Gendarmen an der deutschösterreichischen Grenze nicht nur gegen Schmuggler führten, sondern auch gegen arme Weiber, die der Hunger zu einem Hamstergang in das ungarische Paradies verleitet hatte.

Die innerpolitische Lage Österreich-Ungarns wurde in der zweiten Hälfte Juli durch die Wendung im Westen ganz außerordentlich verschlechtert. Deutschland und sein unverwundbares Heer waren in der Donaumonarchie seit Kriegsbeginn die feste Hoffnung der staatstreuen und die Furcht der staatsfeindlichen Elemente gewesen. Mochte an der eigenen Front was immer geschehen sein - so lange das deutsche Schwert scharf blieb, war auch die Monarchie vor ernster Bedrohung gefeit! Nun kam auf einmal, nach dem 17. Juli, Hiobsbotschaft über Hiobsbotschaft aus Frankreich. Die Größe des Rückschlages war aus den amtlichen Heeresberichten wohl nicht ganz zu erkennen. Aber gerade jene Kreise, deren Zukunftshoffnungen auf einer deutschen Niederlage aufgebaut waren, die Tschechen, die radikalen Südslawen, die Magyaren um Karolyi, bedurften nicht erst der reichsdeutschen Berichterstattung. Die Entente trug Sorge, ihnen durch hunderterlei geheime Kanäle die Kenntnis des Tatsächlichen noch mit Übertreibungen zu vermitteln. Man geht nicht fehl, schon die unerhörte Sprache der Opposition in den Geheimsitzungen des Wiener Abgeordnetenhauses auf den Rückschlag im Westen zurückzuführen. Nun gab es für die zerstörenden Kräfte im Habsburgerreich kaum mehr einen Zweifel, daß für sie das Spiel gewonnen sei!

Auch von den zwei k. u. k. Divisionen aus dem Westen kam beunruhigende Kunde. Als sie nach mehrwöchiger Ausbildung Mitte August in die Front eingesetzt wurden - die 1., General Metzger, nördlich von Verdun, die 35., Podhoranßky, nordöstlich von Saint Mihiel - wurden sie von den deutschen Führern mit Auszeichnung, von den deutschen Mannschaften aber nicht selten mit der Frage empfangen: "Warum kämpft ihr hier, warum verlängert ihr den Krieg?" Man kann sich denken, wie rasch solche Gespräche den Weg in die tschechische und ungarische Heimat fanden...

Auf dem Ballplatz und in Laxenburg hielt man den Zeitpunkt für einen neuerlichen Friedensschritt gekommen. Um die Bundesgenossen für den Gedanken zu gewinnen, begab sich der Kaiser Karl, begleitet von Burian und Arz, am 13. August nach Spa. Burian erläuterte den führenden Männern Deutschlands einen Plan, von dem er sich außerordentlich viel versprach. Nicht ein Friedens- [594] angebot im eigentlichen Sinne des Wortes sollte gestellt, sondern bloß eine Aufforderung an Freund und Feind gerichtet werden, sich irgendwo, am besten im Haag, an einen Tisch zu setzen. Zur großen Freude des österreichischen Herrschers zeigten sich die deutschen Persönlichkeiten ohne Ausnahme durchaus friedensgeneigt. Nur mit dem Wege, den Burian einschlagen wollte, konnte man sich nicht befreunden. Man stellte den Antrag, lieber die Vermittlung einer neutralen Macht - etwa der Königin der Niederlande, oder des Königs von Spanien - in Anspruch zu nehmen. Die Heeresleitung forderte überdies, mit dem Schritt so lange zu warten, bis der Rückzug an der Front zum Stillstand gekommen sei. Generaloberst v. Arz betonte, daß die Monarchie den Krieg keinesfalls länger als bis zum Dezember führen könne und aus außer- und innerpolitischen Gründen darauf bedacht sein müsse, beim Friedensschluß über ein noch brauchbares Heer zu verfügen.

Kaiser Karl kehrte aus Spa nicht unbefriedigt zurück. Er war froh, daß sich auch Ludendorff für einen raschen Friedensschluß ausgesprochen hatte und damit für Österreich-Ungarn die Nötigung wegfiel, sich von Deutschland vorzeitig trennen zu müssen. Zu einem bestimmten Übereinkommen über die nächsten diplomatischen Schritte war man freilich nicht gelangt, da weder Burian noch die deutschen Staatsmänner von ihren Ideen abgehen wollten. Die Heeresleitungen hatten die Entsendung weiterer Divisionen der k. u. k. Wehrmacht nach dem Westen vereinbart. Ende August, anfangs September wurden die k. k. 106. Division und die 37. Honveddivision auf die Bahn gesetzt. Beide führten fast keine Artillerie mit. Die Honveddivision zählte überhaupt nur 5000 Feuergewehre. Die 106. war 15 000 Kämpfer stark, aber so schlecht gekleidet und ausgerüstet, daß bei ihrer Ankunft in Ornes der deutsche Ortskommandant auf eigene Verantwortung die nach hunderten zählenden Barfüßer aus seinen Beständen mit Stiefeln bekleiden ließ.

Burian bemühte sich von Wien aus, die deutsche Regierung doch noch für den von ihm geplanten Friedensschritt zu gewinnen. Auch während des Antrittsbesuches, den Admiral v. Hintze als neuer Leiter der deutschen auswärtigen Politik anfangs September in Wien machte, beherrschte die Buriansche Idee einen guten Teil der Besprechungen, ohne daß sich freilich der Gegenpart gewinnen ließ. Kein besserer Erfolg war dem neuerlichen Bemühen Burians beschieden, die Herren aus der Wilhelmstraße in letzter Stunde von der Notwendigkeit der austropolnischen Lösung zu überzeugen. Außerdem wurden Mittel und Wege besprochen, durch die Rumänien endlich zu der planmäßig hinausgezogenen Ratifikation des Bukarester Friedens gezwungen werden konnte. Man kam überein, wenn nötig, auch militärischen Druck wirken zu lassen. Glücklicherweise gab Jassy schon in den nächsten Tagen Zeichen des Einlenkens. Kaiser Karl war von Anfang entschlossen gewesen, seine Truppen an einem neuen Feldzug gegen Rumänien nicht teilnehmen zu lassen.

[595] Die Hoffnung, daß es dem deutschen Heere gelingen werde, wieder festen Fuß zu fassen, schien sich nicht zu erfüllen. Die Fortdauer des deutschen Rückzuges bestärkte Burian in seiner Absicht, seine Friedenseinladung "An alle" auch ohne Zustimmung der Bundesgenossen ergehen zu lassen. Die Ungeduld des Kaisers wirkte mit. Dieser sah sich bereits nach einem anderen Außenminister um, der ihm raschere Arbeit verbürgte. Die Namen des Österreichers Mensdorff und der Ungarn Szecsen und Szilassy wurden genannt; letzterer war bereits aus Stambul herbeigeholt worden, um dann freilich wieder unverrichteter Dinge abzuziehen.

Am 14. September ließ Burian seine Friedenstaube aufflattern. Das Berliner Kabinett hatte man knapp zuvor verständigt, aber so, daß es nicht mehr rechtzeitig antworten konnte. Auch eine Depesche des deutschen Kaisers,2 in der es hieß, daß ein eigenmächtiges Vorgehen Wiens "eine sehr ernsthafte Gefährdung des Bündnisses zur Folge haben würde", kam zu spät. Kaiser Karl beantwortete sie nach der Veröffentlichung der Note mit einem längeren, von Burian entworfenen Schreiben, in welchem es u. a. hieß:

      "...Nur kurz will ich erwähnen, daß die neuliche Rede des Vizekanzlers v. Payer wohl viel eher den Namen eines Friedensangebotes verdient als unser Vorschlag; daß das Mittel der Mediation eines neutralen Staates uns, falls der jetzige Schritt zu keinem Erfolg führt, in absehbarer Zeit noch immer zur Verfügung steht und daß - wie ich voraussah - unsere Aktion in der Monarchie nicht eine gefährliche Steigerung der Friedenssehnsucht bewirkt, sondern völlige Zustimmung und Befriedigung hervorgerufen hat. Die Stimmung meiner Armee, in der nach vier Kriegsjahren unverkennbare Symptome von Kriegsmüdigkeit zutage treten, kann am ehesten dadurch gehoben werden, daß sie sieht, es werde von mir aus nichts unterlassen, was zum Frieden führen könnte. Was schließlich die Gefahren für mich und mein Haus betrifft, so ist auch diese Seite der ganzen jetzigen Situation, in der sich Strömungen gegen die Dynastien immer stärker bemerkbar machen, wohl ernst genug, um nicht übersehen zu werden. Die bloße Erkenntnis der Gefahr ist aber nicht ausreichend, sondern es ergibt sich daraus auch das Gebot für alle Monarchen, sich dagegen zu schützen, vor allem durch gewissenhafte Erfüllung der Pflichten gegen ihre Völker und Armeen, welche ihren Herrschern nichts mehr verübeln würden, als die Vernachlässigung irgendeines Mittels, welches uns dem Friede näherzubringen geeignet wäre..."

Staatssekretär v. Hintze und seine Begleitung hatten schon von ihrem Wiener Besuch einen denkbar ungünstigen Eindruck nach Hause genommen. Zahlreiche Berichte aus allen Teilen der Donaumonarchie vervollständigten das Bild im gleichen Sinne. Die Unmöglichkeit, mit der Wiener Regierung [596] als einem halbwegs sicheren Partner des Bündnisses zu rechnen, wurde von Tag zu Tag augenfälliger. Nur verwechselte man in Berlin Ursache und Wirkung. Man hörte auf, das Habsburgerreich als Ganzes für die Kriegführung ins Kalkül zu ziehen, gab sich aber der Hoffnung hin, doch noch bei einzelnen der auseinanderstrebenden Teile freundliche Gesinnung und Hilfsbereitschaft zu finden. Inwieweit die Versuche nachgeordneter reichsdeutscher Funktionäre über die Köpfe der Wiener Regierung hinweg bei den Magyaren, ja sogar bei den Tschechen Sympathien zu erwerben, mit Vorwissen der obersten Reichsstellen unternommen wurden, ist unbekannt geblieben. Sie wären durch die gespannte Lage durchaus gerechtfertigt gewesen, wenn sie sich auf politisch richtige Erwägungen gegründet hätten. Doch war dies nicht der Fall. Was die Tschechen betrifft, die sich bereits ganz auf den Sieg der Entente eingestellt hatten, bedarf es keiner näheren Erläuterung. Aber auch bei den Magyaren mußte ein aufmerksamer Beobachter feststellen, daß die "Unabhängigkeitsströmung" damals ganz von selbst auch vom Bündnis hinwegführte. Das hat später der Umsturz in unzweifelhafter Form bewiesen.

So unwahrscheinlich es klingt, so waren, abgesehen von den bürgerlichen Deutschösterreichern, auch damals noch die verhältnismäßig verläßlichsten Stützen des Bündnisses in den offiziellen Wiener Kreisen zu suchen. Diese machten, wenn sie dem Bündnis treu bleiben wollten, vielleicht aus der Not eine Tugend. Aber sie sprangen in der Tat erst aus, als schon niemand mehr da war, ihnen in der Bündnispolitik Gefolgschaft zu leisten, Ende Oktober 1918. Und auch dann mußte für den entscheidenden Schritt noch ein Magyare aus Budapest herbeigeholt werden: Graf Julius Andrassy.

Burians eigenwilliger Schritt war nicht dazu angetan, der Verstimmung in Deutschland entgegenzuwirken. Auch das offizielle Berlin fühlte sich schwer hintergangen. Nur den eindringlichsten Vorstellungen des Botschafters Hohenlohe war es zu danken, daß der größte Teil der deutschen Presse schließlich doch gute Miene zum bösen Spiel machte und den Burianschen Schritt wohlwollend abtat. Burian ließ gereizt in Berlin erinnern, wie in der letzten Zeil der Ballplatz wiederholt durch den Bundesgenossen vor fertige Tatsachen gestellt worden sei, ohne daß sich die Monarchie darob in die Öffentlichkeit geflüchtet habe.

Die Vorgänge hinter den Kulissen der Entente sind noch viel zu wenig aufgehellt, als daß man mit einiger Sicherheit feststellen könnte, ob der Aufruf "An alle" die weitere Entwicklung schädlich beeinflußt habe und ob solches durch diplomatische Aktionen überhaupt noch möglich war. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, daß auch die Vermittlung durch eine neutrale Macht kein besseres Ergebnis gezeitigt hätte.

Das Reuterbureau legte Wert darauf, mitzuteilen, daß der amerikanische Staatssekretär Lansing für die Ablehnung der österreichischen Friedensnote [597] keine ganze Stunde der Überlegung gebraucht hätte. Clémenceau nahm sich sogar nicht einmal die Mühe, diplomatische Formen einzuhalten. Er ließ die Wiener Regierung auf eine im Journal officiel abgedruckte Senatsrede verweisen, an deren Schlusse es hieß: "Auf zum fleckenlosen Sieg!"


1 [1/592]Von den maßgebendsten Führern der Junischlacht war Erzherzog Josef ein Ungar, Arz ein Siebenbürger, Boroević Kroate und nur Conrad Deutschösterreicher. ...zurück...

2 [1/595]Wortlaut bei Cramon S. 178. ...zurück...


Der Weltkampf um Ehre und Recht.
Die Erforschung des Krieges in seiner wahren Begebenheit,
auf amtlichen Urkunden und Akten beruhend.
Hg. von Exzellenz Generalleutnant Max Schwarte