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Bd. 2: Der deutsche Landkrieg, Zweiter Teil:
Vom Frühjahr 1915 bis zum Winter 1916/1917

Kapitel 4: Die große Offensive 1915 im Osten   (Forts.)
Generalleutnant Max Schwarte

6. Der Übergang zur allgemeinen Offensive.

Die Durchbruchsoffensiven der Heeresgruppe Mackensen und der Armee Gallwitz waren die Wegweiser für den Kampf der Mittelmächte im Osten. Sie beanspruchten alle verfügbaren und an den anderen Teilen der Ostfront irgend entbehrlichen Kräfte. Es würde aber deutscher Energie und Tatkraft nicht entsprochen haben, wenn die an diesen Frontstrecken stehenden Armeen bei dem furchtbaren Ringen lediglich Zuschauer geblieben wären. Trotz ihrer unterlegenen und aufs äußerste angespannten Verbände hatten sie vor Beginn jener Feldzüge in energischen Stößen die Aufmerksamkeit der russischen Heeresleitung von den Einbruchsstellen erfolgreich abgezogen und so zum Gelingen beigetragen. Weiterhin trat die Aufgabe an sie heran, durch ständiges Drohen mit dem Angriff die ihnen gegenüberliegenden Kräfte zu fesseln, um sie von der Entscheidungsstelle fern zu halten und, sobald sich durch den gelungenen Durchbruch die russische Front zu lockern und nach rückwärts in Bewegung zu setzen schien, selbst zum Angriff überzugehen, um die Erfolge der Stoßarmeen auszugestalten. Von den letzteren ausgehend schlossen sie sich in immer wachsender Breite dem Vorgehen an, bis schließlich die ganze Front von der Moldau bis zur Ostsee in Bewegung geriet.

Der russische Oberbefehlshaber, Großfürst Nikolai Nikolajewitsch, erwies sich in diesem weitgespannten Ringen als ruhiger, zielbewußter Feldherr, der mit äußerster Zähigkeit dem Ansturm der Verbündeten zu begegnen und - wahrscheinlich in schwerem Entschluß, aber rechtzeitig Polen, die Ausgangsstelle seiner zukünftigen Offensivpläne, räumend - das russische Heer der drohenden Umklammerung zu entziehen wußte. - Als am 2. Mai Mackensen tief in die russische [210] Front einbrach, war er sich sofort der Gefahr bewußt, die den russischen Verbänden drohte, die er unter furchtbaren Opfern bis auf die Höhe der Karpathen sich hatte herankämpfen lassen, um sie bei weiterschreitendem Frühjahr in die Ebenen Ungarns herabzuführen. Wohl warf er von allen Seiten dem Angriff Mackensen Verstärkungen entgegen; aber gleichzeitig gab er die Befehle zum Beginn des Rückzugs aus den Karpathen. Nur dieser schnelle Entschluß rettete die südlich des Durchbruchs stehende Armee Brussilows vor der Vernichtung; zur Öffnung der von den Deutschen schon bedrohten, teilweise sogar gesperrten Rückmarschstraßen mußte sie aber große Opfer an Gefallenen und Gefangenen bringen.

Den weichenden Russen hatten sich sofort die rechts der 11. und der k. u. k. 3. Armee kämpfenden österreichisch-ungarischen und deutschen Verbände (Linsingen) angehängt. Den Austritt aus dem Gebirge mußten sie sich hierbei in schweren Gefechten erzwingen. Die für den Schutz gegen Italien notwendige werdenden Abgaben nahmen dann allerdings diesen Armeen die überlegenen Stoßkraft, so daß ihr Vorgehen zeitweise eingestellt werden mußte. - Auch links von der k. u. k. 4. Armee schlossen sich die k. u. k. 1. Armee und die Armee-Abteilung Woyrsch jenseits (nördlich) der Weichsel dem allgemeinen Angriff trotz ihrer geringen Stärken an, bis auch hier ein russischer Gegenstoß bei Opatow sogar zu einer gewissen Krise führte; die drohende Lücke zwischen Dankl und Woyrsch konnte nur mühsam geschlossen werden; auch hier trat zunächst wieder ein Stillstand ein.

Großfürst Nikolai suchte aber nicht nur in passiver Abwehr die Gefahr der deutschen Offensive zu bannen; auf seinem äußersten linken Flügel sammelte er starke Kräfte, die er in energischem Angriff gegen die k. u. k. 7. Armee (Pflanzer-Baltin) warf, um von hier aus über die Karpathen in Ungarn einzubrechen. Selbst die zum Angriff auf Konstantinopel bei Odessa bereitgestellten Divisionen wurden von ihm zur Entscheidung herangeholt. Die russische Offensive am Pruth hatte zuerst erhebliche Erfolge; erst nach und nach gelang es Pflanzer-Baltin unter Einsatz der ihm zufließenden Verstärkungen, den russischen Einbruch zu verhindern. Aber die Zeit zur eigenen Offensive war für ihn noch nicht gekommen.3

Erst der weitere Vorstoß Mackensens und die Eroberung von Przemysl gaben den rechts und links an die Heeresgruppe Mackensen anschließenden Armeen die Möglichkeit, den Vormarsch wieder aufzunehmen. Allerdings hatte der Zwang, immer mehr Kräfte an die italienische Front abzugeben, dazu geführt, die k. u. k. 3. Armee aufzuteilen, so daß die k. u. k. 2. Armee mit den - wenigen - von der 3. Armee zu ihr übertretenden Verbänden der 11. Armee benachbart und Mackensen unterstellt wurde. Die Südarmee drang bis in das Tal des Dnjestr vor; ein erneuter russischer Angriff gegen die k. u. k. 7. Armee [211] wurde erst nach erheblichen Angriffserfolgen durch das Eingreifen von Verbänden Linsingens erfolgreich abgewiesen. Sofort stießen die Russen gegen die hierdurch geschwächte Front der Südarmee vor; wieder brachte ein Flankenstoß des zurückgeholten Korps Bothmer die russische Offensive zum Stehen. In den blutigen wechselnden Kämpfen vermochte sich Linsingen im Dnjestr-Tal zu behaupten, die k. u. k. 7. Armee konnte den Fluß überschreiten und sich östlich desselben behaupten. Alle diese Kämpfe entsprangen der Sorge des russischen Führers um die Südflanke von Lemberg, die er durch ein Vorbrechen von Linsingen und Pflanzer-Baltin, falls es glücken sollte, mit Recht als stark gefährdet ansehen mußte.4

Während Mackensen den Kampf um Lemberg mit der Eroberung der Stadt in blutigen Kämpfen zum Abschluß brachte, war die Kampftätigkeit auf der ganzen langen Ostfront außerordentlich lebhaft. Auf dem äußersten Südflügel ging die Initiative wieder von den Russen aus. Abermals griffen sie Pflanzer-Baltin mit überlegenen Kräften an; doch konnte sich dieser vorwärts der wichtigen Stadt Czernowitz und in den über den Dnjestr vorgeschobenen Brückenköpfen halten. Die Südarmee wartete auf das Vordringen der gegen Grodek und südlich angesetzten k. u. k. 2. Armee, um sich trotz der feindlichen Überlegenheit der Offensive anzuschließen.

Nördlich der Weichsel griff Armee-Abteilung Woyrsch am 14. Juni die russische Stellung an der Opatowka erfolgreich an; ihr Angriff konnte erst durch das Heranholen starker russischer Verstärkungen aus Iwangorod zum Stehen gebracht werden, die auf diese Weise von der Hauptentscheidung fern gehalten wurden. Auch die 9. Armee des Prinzen Leopold von Bayern brach an mehreren Stellen, besonders bei Bolimow und in Richtung Radom, in die russische Stellung ein.

Auch zwischen Weichsel und Niemen eroberten die Armee-Abteilung Gallwitz und die Armee Scholtz in diesen Wochen wichtige, vor die Hauptstellung vorgeschobene Stellungen. - Selbst die Armeen des äußeren linken Flügels am Niemen und in Kurland gingen zu energischen Vorstößen über, warfen die Russen auf Olita und auf die Außenwerke von Kowno und endlich auch bei Rossieny und am Windau-Kanal.

Während des Ringens um Lemberg sollte die Südarmee in entscheidender Weise mitwirken. Durch einen energischen Angriff über den Dnjestr und seine rücksichtslose Weiterführung hofften die Heeresleitungen, in den Rücken der westlich Lemberg kämpfenden russischen Korps zu kommen und diese aufzureiben. Am 21. und 22. Juni brach die Südarmee bei Zurawno und Zydaczow über den Fluß erfolgreich vor. Aber die Russen leisteten erbitterten Widerstand; die Kämpfe dauerten über eine Woche, bevor alle Teile der Südarmee den Abschnitt überwunden hatten. Am 22. Juni aber war Lemberg schon gefallen; den von [212] dort nach Osten weichenden Gegnern schlossen sich auch die weiter südwärts stehenden Armeen an. Infolge des frühen Rückzugs der Russen mußte die Südarmee aus der zunächst beabsichtigten Nordost- in die Ostrichtung einschwenken. Ihre energische Verfolgung fand aber an den Nebenflüssen des Dnjestr, dem Swierz und der Gnila Lipa, zähen Widerstand; nach Erreichen der Zlota Lipa trat ein vorläufiger Halt ein. Die veränderte Lage und die neuen Absichten (Mackensens Vormarsch nach Norden) erforderten zunächste eine Neuordnung der Verbände und Umgruppierung der Kräfte.

In der nächstfolgenden Zeit schlief die Kampftätigkeit zwar nicht ein; aber das erneute Herausziehen von Divisionen zur Stärkung der großen Stoßgruppen zwang zur Zurückhaltung, bis von den Erfolgen der letzteren wieder der Anstoß zu energischerem Vorgehen auch für die Nebenfronten ausging.

Der Oberbefehlshaber Ost hatte durch die Entscheidung des Kaisers auf die Durchführung seines großgedachten Vorgehens über Kowno auf Wilna vorläufig verzichten müssen. Das konnte ihn aber nicht abhalten, an den Vorbereitungen für seinen Plan weiter zu arbeiten, soweit es die aufs äußerste geschwächten Verbände gestatteten. - Der engere Zusammenhang der die russischen Armee in Polen umspannenden Armeen von der Bug-Armee rechts bis zur 8. Armee v. Scholtz mußte sich schließlich zu einer einheitlichen Kampfhandlung ausbilden, je mehr sich durch das Vorgehen von allen Seiten die Fronten verengten und die Fühlung enger wurde. Auch die rechts der Bug-Armee zum Schutz von deren rechter Flanke kämpfenden k. u. k. Armeen waren in diese gewaltige Kampfhandlung eingeschlossen.

Während, teilweise auch vor Beginn der neuen Offensive Mackensens traten je nach den Kampfnotwendigkeiten und dem engeren Zusammenschieben der Armeefronten erhebliche Verschiebungen der Divisionen und Korps innerhalb der Armeen, aber auch auf den Kampffronten - teils dauernd, teils vorübergehend - ein, die im einzelnen zu verfolgen nicht möglich ist. Die stärkste Verschiebung sei erwähnt: die k. u. k. 1. Armee, zwischen der k. u. k. 4. Armee und der Armee-Abteilung Woyrsch an der oberen Weichsel eingesetzt, wurde während des Vorgehens herausgelöst und zwischen die nach Osten sichernde k. u. k. 2. Armee und die nach Norden vorgehende Bug-Armee geschoben, um die dort von Tag zu Tag größer werdende Lücke zu schließen. Damit traten k. u. k. 4. Armee und Armee-Abteilung Woyrsch zuerst in weitere, später in enge nachbarliche Fühlung. - Im weiteren Verlauf - gegen Ende - der Offensive wurden auch die Korps der k. u. k. 4. Armee derartig eingeengt, daß sie nach und nach herausgezogen werden mußten. Sie wurden den Armeen zugeleitet, mit denen Generaloberst v. Conrad die Offensive auf Luck durchführen wollte.5 - Die Armee-Abteilung Woyrsch war es, die, dem Vordringen Mackensens folgend, zuerst die [213] ihm gegenüberstehenden Russen zurückwerfen konnte. Nachdem er den langsam auf Iwangorod zurückgehenden Feinden anfangs ohne Kampf gefolgt war, durchstieß er am 17. Juli ihre stark ausgebaute Stellung bei Sienno, am 19. und 21. Juni zwei weitere Stellungen bei Kazanow und Jalonow und warf die Russen teils über die Weichsel, teils auf Iwangorod zurück.

Ebenso wie Woyrsch hatte auch die 9. Armee (Prinz Leopold von Bayern) erhebliche Kräfte an die 12. Armee abgeben müssen. Trotzdem schloß auch sie sich dem allgemeinen Angriff in Richtung auf die Warschau deckende Blonie-Stellung an.

Die der 12. Armee auf der anderen Seite - links - benachbarte 8. Armee war mit ihrem rechten Flügel unmittelbar an dem Durchbruch der 12. Armee gegen den Narew beteiligt; in der Front durch Abgaben nicht unerheblich geschwächt, mußte sie abwarten, daß der Durchbruch von Gallwitz auch die anstoßenden feindlichen Fronten lockerte, um dann sofort auch selbst den Narew zu überschreiten.

Dem gleichzeitigen Angriff von Mackensen und Gallwitz Mitte Juli 1915 entsprach gleichfalls wieder ein erneutes Anpacken der westlich der Weichsel zwischen ihnen stehenden Armeen. Armee-Abteilung Woyrsch griff an der Ilzanka an, drängte die vor ihm weichenden Gegner auf die Außenwerke der Festung Iwangorod zurück und schloß diese am 21. Juli westlich der Weichsel ein, gleichzeitig bei Nowo Alexandria über den Strom hin mit dem linken Flügel der k. u. k. 4. Armee engste Verbindung aufnehmend. Auch die 9. Armee drängte vor, warf unter zum Teil schweren Kämpfen die Russen auf die Blonie-Stellung zurück, hierdurch Warschau auf dem westlichen Weichsel-Ufer enger als bisher umschließend.

Aber auch der äußerste linke Flügel der langgestreckten Ostfront trat erneut in den Kampf. Die jetzt von General Otto v. Below befehligte Niemen-Armee überschritt die Windau und warf die tapfer kämpfenden Russen auf Tukkum zurück; ihre Mitte hatte schwere Gefechte bei Kurschany, Popeljany und Rossienie zu bestehen, die sich in der Linie Kejdany - Poniewiez - Bausk fortsetzten und am 1. August zur Einnahme von Mitau führten. Die anfangs überraschten russischen Korps konnten dann aber, zahlenmäßig überlegen, den deutschen Vorstoß zum Halten bringen und schließlich zum Gegenangriff schreiten. Anscheinend verhinderten aber die schwerwiegenden Ereignisse am Narew und bei Lublin - Cholm seine Fortsetzung; alle irgend verfügbaren russischen Kräfte wurden jetzt nötig, um die von Norden und Süden in Polen eindringenden deutschen Kräfte so lange aufzuhalten, bis die zwischen Nowo Georgiewsk und Iwangorod mit Front nach Westen kämpfenden Armeen, die gewaltigen, in Polen aufgestapelten Vorräte und die Kampfmittel der Festungen ihren gesicherten Rückmarsch hinter den Bug beendet hatten.

Schon am 27. Juni hatte unter Vorsitz des Zaren ein Kriegsrat in Brest Litowsk sich mit der Frage der Räumung Polens beschäftigt. Großfürst Nikolai Nikolajewitsch sah aber noch keine Gefährdung seiner Truppen in dem damals [214] ostwärts gerichteten Durchbruch Mackensens. Er widersetzte sich mit seiner ganzen Willensstärke der frühzeitigen Räumung. Abgesehen von dem politischen und moralischen Schaden, den er aus dem Eingeständnis einer großen Niederlage voraussah, wollte er zunächst nicht auf die Möglichkeit einer demnächstigen entscheidenden Offensive nach Deutschland verzichten; zu ihr blieb der Besitz Polens aber die notwendige Voraussetzung.

Die deutschen erfolgreichen Angriffe, die von Süden und Norden gegen seine Flanken vorbrachen, hatten ihn dann aber überzeugt, daß er die weitergehenden Pläne zurückstellen, daß er an die Erhaltung des russischen Heeres denken müsse. Diese schien nur gesichert durch die rechtzeitige Zurückführung der Korps und vor allem des jetzt immer stärker mangelnden und nicht sofort zu ersetzenden Kriegsmaterials. So hatte er Mitte Juli die Zurückführung befohlen und diese sofort beginnen lassen. Bei der ungeheuren Masse des bereitgelegten Geräts mußten Wochen vergehen, bis es aus der drohenden Umfassung gerettet war.

Daraus entstand für ihn die Notwendigkeit, die gefährdeten Fronten nach Norden und Süden mit starken Kräften zu halten; daß sich der russische Führer dabei nicht lediglich auf Abwehr verließ, sondern zu außerordentlich großen, energisch, ja rücksichtslos geführten Gegenangriffen - zum Teil auch an entfernteren Fronten - schritt, ist schon geschildert (S. 158, 192, 200, 211).

Diese Maßnahmen hatten sich auf deutscher Seite (wie dort ausgeführt) durch eine erhebliche Verlangsamung des Vorgehens der großen Stoßgruppen fühlbar gemacht, anderseits aber auch durch Nachlassen der russischen Gegenoffensiven und durch einen weniger zähen Widerstand an der Weichsel-Front und bei den Festungen. Vor der Heeresgruppe Mackensen wuchsen sich die durch diese Gegenangriffe starker Abwehrkräfte herbeigeführten Verhältnisse sogar zu einer gefährlichen Krise derart aus, daß die Oberste Heeresleitung glaubte, eine schnellere Entlastung, als sie die 12. Armee bringen konnte, erzwingen zu müssen. Sie bestimmte dazu die Armee-Abteilung Woyrsch, die (aus dem schlesischen Landwehrkorps, einer weiteren Landwehr-Division, dem k. u. k. XII. Armeekorps und der k. u. k. 7. Kavallerie-Division bestehend) bis Nowo Alexandria und bis vor Iwangorod vorgedrungen war. Bei ersterem Ort hatte sie - österreichischem Wunsch entsprechend - die Weichsel überschreiten sollen. Jetzt gab die Oberste Heeresleitung einem früheren Antrag von Woyrsch statt. Er führte die deutschen Truppen hinter dem die Festung auf der Westfront einschließenden k. u. k. XII. Armeekorps entlang vom rechten auf den äußersten linken Flügel, überschritt an der Radomka-Mündung überraschend am 28. Juli den Strom trotz feindlicher Besetzung des jenseitigen Ufers und heftiger Gegenwehr und stieß, nachdem er sich gegen schnell herangeworfene Verstärkungen in harten Kämpfen einen Brückenkopf geschaffen, von dort ostwärts vor, d. h. in den Rücken der gegen Mackensen kämpfenden Verbände. Dadurch gewann auch die k. u. k. 4. Armee östlich der Weichsel einen starken Impuls. Mit dem linken Flügel Weichsel- [215] abwärts vordringend, schloß sie Iwangorod auf der Südwestfront ab. Dem beabsichtigen Angriff entzog sich die Besatzung; sie räumte am 4. August den Brückenkopf westlich der Weichsel, am folgenden Tage die Festung selbst. In sofort befohlener Verfolgung drang Woyrsch auf Zelechow vor.

Der überraschende Übergang über einen 1000 m breiten Strom gegen einen überlegenen Feind ist ein bestes Stück kraftvollen Wagemuts der Führung und Heldentums deutscher Landwehr, die an herangezogenen österreichischen Pionieren eine vortreffliche Hilfe fand.

Ponton-Notbrücke bei Warschau.
Deutsche Truppen überschreiten in Verfolgung
der Russen auf einer Ponton-Notbrücke
bei Warschau die Weichsel.      [Vergrößern]

Aus: Der Weltkrieg in seiner
rauhen Wirklichkeit
, S. 392.
Auch die 9. Armee trat wieder zum Angriff an. Unter sehr schweren Kämpfen, die sich vom 27. bis 29. Juli hinzogen, wurden die vorwärts Warschau stehenden russischen Kräfte geworfen und am 3. August die Südfront der Außenwerke durchbrochen. Jetzt räumten die Russen die westlich der Weichsel liegende eigentliche Stadt, hielten aber das rechte Ufer mit der Vorstadt Praga bis zum 9. August, so daß erst an diesem Tage Teile der 9. Armee den Strom überschreiten konnten. Am 11. August räumten die Russen dann auch die Aufnahmestellung für die Besatzung ohne Kampf. Als am 12. August die Linie Lukow - Siedlec von den (jetzt unter des Prinzen Leopold Befehl als Heeresgruppe) vereinigten Verbänden der 9. Armee und der Armee-Abteilung Woyrsch überschritten wurde, war die enge Fühlung mit den Nachbararmeen (k. u. k. 4. Armee rechts, 12. Armee links) hergestellt. Gegen die Südfront des von der Armee-Abteilung Beseler angegriffenen Nowo Georgiewsk hatte schon vor Überschreitung der Weichsel die 9. Armee ein Detachement (Westernhagen) zur Beobachtung und - lockeren - Einschließung abgezweigt. Als am 20. August die Festung fiel, hatten die Feldarmeen (Bug-, 11., k. u. k. 4., 9. - mit Woyrsch -, 12. und 8. Armee) schon große Fortschritte in östlicher Richtung gemacht; sie hatten zum größten Teil schon die Bahn Brest Litowsk - Bialystok - Ossowiec überschritten. Bei der 12. und 8. Armee war die Verfolgung schon zu einem frontalen Nachdrängen in östlicher Richtung geworden, dem die Russen an den zahleichen starken Abschnitten dauernd einen zähen Widerstand entgegensetzten, um sich aber einer durchschlagenden Entscheidung stets geschickt zu entziehen.

Das, was der Oberbefehlshaber Ost erstrebt hatte, war durch die Weisungen Falkenhayns - das ließ sich schon jetzt erkennen - nicht erreicht und konnte, leider, auch nicht mehr erreicht werden, obschon die Oberste Heeresleitung jetzt endlich dem Drängen von Hindenburg-Ludendorff nachgab und die Offensive auf Wilna gestattete. Aber es war nicht nur zeitlich zu spät; auch die Rücksicht auf die Gesamtlage brachte neue Hemmnisse. Außer den drei gegen Nowo Georgiewsk eingesetzten Divisionen konnte Oberost keine weiteren Verstärkungen zugeführt werden. Was an deutschen und k. u. k. Truppen beim stetig engeren Zusammenschieben der Armeen überflüssig wurde, wurde herausgelöst, aber auf anderen Kriegsschauplätzen (Italien, Frankreich, in Gegend südöstlich Lemberg und endlich in Serbien) dringend benötigt.

[216] Diese Dinge ließen sich aber Mitte August nicht voraussehen. Feldmarschall Hindenburg und Ludendorff wollten jedenfalls auf die einzige Möglichkeit, den russischen Gegner vernichtend zu schlagen, nicht verzichten, ohne den letzten Versuch dazu gemacht zu haben. In der Hoffnung, daß nach den gelungenen Durchbrüchen ihnen die Oberste Heeresleitung Kräfte zuteilen würde, hatten sie ihre Absicht auch bisher keineswegs aus den Augen verloren, sondern in ihrem Sinne systematisch weitere Vorbereitungen dafür geschaffen. Schon die Offensive der Niemen-Armee diente - neben dem Fernhalten starker russischer Kräfte von der Hauptentscheidung - ihren Absichten, indem sie den Rücken und die linke Flanke für den Vorstoß auf Wilna sichern sollte. In gleicher Richtung liefen die Angriffshandlungen, die zur Fesselung des Gegners auch nördlich des Narew von Oberost angeordnet wurden.

Um eine sichere Ausgangsbasis für das Vorbrechen auf Wilna zu gewinnen, mußte die Festung Kowno gewonnen werden. Sie gehörte zu den großen russischen Festungen, war - wenn auch nicht absolut modern - voraussichtlich während des ersten Kriegsjahres gut ausgebaut und mit ausreichender Besatzung versehen. In den Kämpfen um Ostpreußen hatte sie die Bereitstellung der russischen Armeen und den Beginn ihres Vormarsches gedeckt, nach ihren Niederlagen die zurückgehenden Massen sicher geschützt. Daß hinter der Niemen-Front Grodno - Olita -Kowno und bei Wilna starke feindliche Kräfte als Reserven der über den Strom vorgeschobenen Korps standen, war festgestellt. Es war also eine schwere Aufgabe und ein kühnes Unterfangen, die 10. Armee mit der Wegnahme der Festung zu betrauen. Die Zahl der schweren und schwersten Geschütze, die dem XXXX. Reservekorps (General Litzmann) zur Verfügung gestellt werden konnten, war auch nur gering. Aber der stärkere Kampfwille sollte - so vertraute Hindenburg - auch hier die größere Zahl überwinden. Während die Niemen-Armee von Norden her die Festung abschloß, warf das verstärkte XXXX. Reservekorps die Außenpostierungen auf die Forts der Westfront und auf die Jesia zurück. Trotz der dauernden Gefahr, von überlegenen Kräften angegriffen zu werden (Reserven hatte die 10. Armee kaum noch, da alle verfügbaren Verbände an Gallwitz abgegeben waren), brachte es sofort die schweren Batterien in Stellung, die am 8. August das Feuer eröffneten. Wie bisher immer, so wirkte auch hier die zerstörende Wucht der schwersten Artillerie demoralisierend auf die Besatzung; unter ihrem Schutz und stetig steigernder Wirkung griff die Infanterie die Vorstellungen und, ohne Unterbrechung vorschreitend, auch die Hauptkampfstellung an und durchbrach, unter Erstürmung von mehreren Werken, die Fortslinie am 16. August. Äußerst heftige Gegenstöße, die die von rückwärts verstärkte Besatzung in den Tagen vom 9. bis 15. August gegen die Front des XXXX. Reservekorps, und andere starke russische Kräfte von Preny her gegen das benachbarte XXI. Armeekorps führten, hatten das Vorgehen verzögert, aber nicht [217] aufhalten können. Der Einbruch in die Kampfstellung genügte, um den Widerstand des Verteidigers endgültig zu brechen; am 17. August konnten die tapferen Truppen, obwohl alle Brücken zerstört waren, den Niemen überschreiten, die Stadt und die meisten Forts stürmen. Am 18. August räumten die Russen auch die letzte, in der Linie der Forts der Süd- und Ostfront angelegte Aufnahmestellung. Über 20 000 Gefangene und 1300 Geschütze fielen in deutsche Hand.

Aber für die Truppen gab es auch nach schwerem Kampf und stolzem Erfolg keine Ruhe; noch am gleichen Tage ordnete sich das XXXX. Reservekorps zum weiteren Vormarsch. Am folgenden Tage trafen die Befehle von Oberost ein, die den Durchbruch auf Wilna und gegen die Verbindungen aus Polen nach dem Innern Rußlands einleiteten.


Der Vormarsch auf Wilna.

Die Absicht von Hindenburg-Ludendorff sollte erstrebt werden durch eine weit ausholende Umfassung des linken Flügels der 10. Armee, deren Mitte direkt auf Wilna vorzumarschieren hatte. Dazu sollte der rechte Flügel zunächst Augustow halten; die Mitte sollte den Gegner über den Niemen werfen, und zwar von Druskeniki abwärts; der linke Flügel sollte, östlich ausholend, Wilna nehmen.

Die Kräfte der 10. Armee waren zunächst gering: XXI. Armeekorps, XXXX. Reservekorps, 77., 76., 3. Reserve-Division, 115. Infanterie-Division, Landwehr-Division Königsberg, mehrere Infanterie- bzw. Landwehr-Brigaden. Dazu traten im Lauf des Feldzuges Garde- und III. Reservekorps, 89., 87., 58., 2. Infanterie-, 14., 10. Landwehr-Division, Höherer Kavallerie-Kommandeur 6, 4., 9., 3. Kavallerie-Division, gemischte Garde-Kavallerie-Brigade und mehrere kleine Verbände. Ein großer Teil dieser Formationen trat von der links benachbarten Niemen-Armee zur 10. Armee über, um die Einheitlichkeit des Einsatzes zu sichern. Aus der ganzen Lage heraus ergab sich ohne weiteres, daß schon mit dem vorschreitenden Angriff der 10. Armee auch die Niemen-Armee werden vorgehen müssen, um den Schutz der linken Flanke der ersteren zu übernehmen. Die Niemen-Armee setzte sich Mitte August zusammen aus: Division Beckmann (Teil des XXXX. Reservekorps), I. Reservekorps (1. und 36. Reserve-Division), 78., 6. Reserve-Division, 41. Infanterie-Division, Höhere Kavallerie-Kommandeur 1, sowie 8., 3., 2., 1. und bayerische Kavallerie-Division.

Die Entscheidung herbeizuführen war XXXX. Reservekorps ausersehen; seinem Vorschreiten sollte sich der Rest der 10. Armee und die benachbarten Teile der Niemen-Armee anschließen.

Zweifellos standen den Truppen schwere Kämpfe bevor. Die aus dem Weichselbogen zurückgeführten Korps standen jetzt je nach ihrem Antransport der russischen Heeresleitung zur Verfügung. - Das Oberkommando (Generaloberst v. Eichhorn) gab die entsprechenden Weisungen: der rechte Armee-Flügel [218] sollte auf Grodno vorgehen, um die Einschließung und den Angriff gegen die Nord- und Nordwestfront dieser letzten großen russischen Festung durchzuführen; die Mitte, deren Kern das verstärkte XXI. Armeekorps bildete, sollte unter Sicherung gegen den befestigten Brückenkopf von Olita bei Preny den Niemen überschreiten; linker Flügel zunächst in östlicher Richtung vorgehen. Die Kavallerie-Divisionen sollten darüber hinaus sichern.

Die Russen dachten aber nicht daran, sich ihre Bahnverbindungen entreißen zu lassen. Selbst am Niemen hielten sie beiderseits des Flusses mit Front nach Westen und Nordwesten zäh ihre Stellungen fest und gingen von dort aus zu energischen Gegenangriffen vor. Auch der Vormarsch des linken Flügels (XXXX. Reservekorps) traf bei Koszedary auf energischen, durch Gegenangriffe verstärkten Widerstand. Am Abend gelang es General Litzmann, die feindliche Stellung nördlich Koszedary zu durchbrechen. Um den Übergang über den Niemen zu öffnen, setzte XXI. Armeekorps seine Divisionen auf Preny in Marsch. An den folgenden Tagen (23. und 24. August) konnte der rechte Flügel der 10. Armee die gegenüberstehenden Kräfte auf Olita zurückwerfen und - an der Straße nach Siejny - Sierieje - das sumpfige Waldgelände durchschreiten. XXI. Armeekorps ging bei Preny über, stieß aber sofort auf zähen Widerstand beim Versuch, Kräfte stromauf vorzutreiben, um Olita von rückwärts anzugreifen. - Auch XXXX. Reservekorps gewann nur unter schweren Kämpfen bis in Höhe von Dajnowo Gelände.

Während auch am folgenden Tage beiderseits des Niemen trotz heftiger Angriffe der rechte Flügel und die Mitte der Armee wenig Fortschritte machen konnten, glaubte General Litzmann aus dem Verlauf der bisherigen Tage den Schluß ziehen zu müssen, daß an der Straße Kowno - Wilna ein schneller Fortschritt nicht zu erwarten sei. Er stellte deshalb den Antrag, mit starken Kräften auf das nördliche Wilia-Ufer zu gehen und dort den Vormarsch auf Wilna fortzusetzen. Generaloberst v. Eichhorn stimmte dem nicht zu. Aber auch er erkannte die Notwendigkeit - besonders, als durch Flieger rückgängige Bewegungen der noch vorwärts Grodno haltenden Divisionen festgestellt wurden -, den linken Stoßflügel erheblich zu verstärken, um dem Angriff größere Wucht und schnelleres Fortschreiten zu geben.

Kampf um Wilna

[219]
      Skizze 7: Kampf um Wilna
Diese Links-verschiebung begann am 26. August. Vor dem rechten Flügel gingen die Russen weiter zurück, soweit sie westlich des Niemen standen; zwischen Niemen und Wilia aber setzten sie sich vorwärts der Bahn Grodno - Orany - Wilna zu zähester Abwehr fest, um den Abtransport der noch in Polen kämpfenden Kräfte zu sichern. Vor dem linken Flügel gingen sie beiderseits der Bahn und Straße Wilna - Kowno sogar zu außerordentlich heftigen Gegenstößen über. Wenn es auch Litzmann gelang, diese durch Gegenangriffe seinerseits abzuweisen, so vermochte er auch selbst nicht vorwärts zu kommen. Jenseits der Wilia gingen die Kavallerie-Divisionen mit dem Detachement Esebeck bis zum Dukszta-Ab- [219] schnitt in Gegend Kiemiele vor, an dessen stark befestigten Linien sie zum Halten kamen.

Mit dem Eintreffen der Verstärkungen wurden auch die Verbände anders gegliedert. Das Generalkommando III. Reservekorps übernahm den Befehl über die auf dem rechten Flügel stehenden Verbände, um sie einheitlich gegen Grodno vorzuführen, während das Generalkommando XXI. Armeekorps die Verbände der Mitte gegen die Bahn Grodno - Wilna, Generalkommando [220] XXXX. Reservekorps die Divisionen des linken Flügels gegen Wilna vorführte. Noch immer hielten die Russen ihre Stellungen Lipsk - Merecz - Olita - Butrymancy - Okmiany-See (nördlich Nowo Troki) und den Dukszta-Abschnitt zäh fest. Flieger erkundeten den fortdauernden Antransport von Truppen nach Wilna, die von dort weiter an den Dukszta-Fluß vorgeschoben wurden, so daß das Armee-Oberkommando gleichfalls Verstärkungen dem äußersten linken Flügel nachschicken mußte. Aber Fortschritte konnten hier, am Nordflügel, nicht erzielt werden, während Mitte und linker Flügel den Gegner weiter zurückdrücken vermochten; anderseits konnte General Litzmann die täglich sich wiederholenden wuchtigen Gegenangriffe der Russen erfolgreich abwehren.

Während dieser Kämpfe hatte 8. Armee ihr Vorgehen so weit fortgesetzt, daß sie in Gegend Lipsk Anschluß an die 10. Armee gewonnen hatte. Um der letzteren die Möglichkeit zu geben, den Angriff auf Wilna energischer fortzuführen, beauftragte Oberost am 30. August die 8. Armee mit dem Angriff auf Grodno und gab die Zustimmung dazu, stärkere Kräfte (2., 58., 88. Infanterie-, 10. Landwehr- und 9. Kavallerie-Division) auf dem nördlichen Wilia-Ufer einzusetzen. Diese Maßnahme erwies sich um so nötiger, als die zur Unterstützung der Kavallerie vorgeschobene 14. Landwehr-Division nach einem kurzen Durchbruchserfolg vor stark überlegenen Kräften wieder über die Dukszta zurückgehen mußte.

Am 31. August machten die beiderseits des Niemen vorgehenden Verbände erhebliche Fortschritte auf Grodno - ein Zeichen des hier nachlassenden Widerstandes, so daß am 1. September einleitende Schritte zum abgekürzten, gewaltsamen Angriff auf die Festung angeordnet werden konnten. Generalkommando XXI. überschritt mit der Mitte der Armee am 1. September die Straße Grodno - Orany - Wilna und ging bis an den Abschnitt der Mereszanka vor. Da derselbe sich als stark befestigt erwies, sah es zunächst von der Fortführung des Angriffs und Besetzung des Bahnhofs Orany ab; bei Konjuchy in Stellung gebrachte schwere Artillerie legte aber jede weitere Benutzung der Bahn lahm.

Die Lage vor der 10. Armee drängte unter diesen Verhältnissen zu einer Neugliederung der Verbände unter abermaliger starker Verschiebung derselben nach links. Das Oberkommando ordnete deshalb an, daß das Generalkommando III. Reservekorps die Verbände des Generalkommandos XXI. (Mitte) abzulösen habe; daß diese beschleunigt in Marsch zu setzen seien, um hinter dem in enger Kampfberührung festliegenden XXXX. Reservekorps entlang jenseits der Wilia einen neuen Stoßflügel zu bilden. Immer wieder meldeten Flieger und Kavallerie neu eintreffende russische Verstärkungen, die den deutschen Flügel zu überragen und demnächst zu umfassen drohten.

Die Tage vom 1. bis 8. September, die von diesen Märschen beansprucht wurden, waren Tage stärkster Spannung; immer aufs neue griff der Gegner nördlich der Wilia heftig an, und erst am 6. September schien seine Angriffskraft [221] allmählich abzunehmen. Endlich waren am 8. September die Truppen jenseits (nördlich) der Wilia unter den Generalkommandos XXI und I derart bereitgestellt, daß der Angriff neu vorgetragen werden konnte.

Grodno mit der gesprengten Verkehrsbrücke über den Njemen.
Die russische Stadt Grodno mit der gesprengten Verkehrsbrücke über den Njemen.      [Vergrößern]
Aus: Der Weltkrieg in seiner
rauhen Wirklichkeit
, S. 391.

Erbeutete russische Küsten-Geschütze bei Dünaburg.
Erbeutete russische Küsten-Geschütze japanischen Ursprungs bei Dünaburg.      [Vergrößern]
Aus: Der Weltkrieg in seiner
rauhen Wirklichkeit
, S. 385.
Während dieses Stillstands des deutschen Vormarsches war Grodno gefallen. Im unmittelbaren Anschluß an den Anmarsch war 8. Armee zum Angriff geschritten, hatte schwere Artillerie in Stellung gebracht und schon am 2. September das erste Fort der Westfront gestürmt. Nach dem Durchbrechen der Fortslinie waren die Truppen in unwiderstehlichem Vorwärtsdrängen bis an den Niemen gefolgt und hatten ihn, da die Russen alle Brücken verbrannt hatten, auf Kähnen, Pontons und Fähren überschritten. Am 4. September war auch diese russische Festung in deutscher Hand - ohne Ruhepause schloß sich auch der linke Flügel der 8. Armee wieder dem allgemeinen Vormarsch ostwärts an in gleicher Höhe mit der weiter südlich folgenden 12. und 9. Armee.

Aber auch im Norden warf Hindenburg seine Divisionen in den Kampf. Während der Südflügel der Niemen-Armee vor allem mit der starken Kavallerie (Höhere Kavalleriekommandeur 1) sich dem Vorgehen des linken Flügels der 10. Armee anschloß, um dessen Flanke zu decken, griff der Nordflügel die noch vorwärts (südwestlich) der Düna von den Russen gehaltenen Brückenköpfe an. Unter Sicherung gegen die starken Befestigungen von Dwinsk (Dünaburg) und Riga griffen die dortigen Divisionen Lennewaden, Friedrichstadt und Jakobstadt vom 2. September ab an. Der Angriff hatte bei den zuerst genannten Orten Erfolg; die Brückenköpfe wurden erstürmt und die Russen über den Strom geworfen, wie immer, so auch hier die Brücken zerstörend. Ein Entlastungsstoß aus Jakobstadt wurde unter stärksten Verlusten für den Feind zurückgeschlagen.

Nach Erstürmung von Grodno waren 8. und 12. Armee, allerdings unter steten schweren Kämpfen, in ununterbrochenem Vormarsch - die Russen wichen überall zurück. Sollte von den letzteren, wie es Oberost von Beginn an gefordert und erstrebt hatte, ein entscheidender Teil vom Rückzug ins Innere Rußlands abgeschnitten werden, so war es nötig, daß der bisher unentschiedene Kampf, der umfassende Angriff auf Wilna, mit äußerster Beschleunigung zum Abschluß gebracht wurde. Um der 10. Armee den Angriff zu erleichtern, befahl die Oberste Heeresleitung der 9. Armee, nach Überwinden des Forstes von Bialowies gegen die Bahnstrecke Slonica - Zelwa und damit gegen den Rücken der vor Hindenburgs rechtem Flügel stehenden feindlichen Korps energisch vorzugehen.

Dem Wunsch von Oberost sich anpassend änderte die Oberste Heeresleitung den ersten Befehl zum Übergang in die Dauerstellung; sie befahl am 9. September, daß Oberost den Oginski-Kanal erreichen solle und daß die südlich anstoßenden Armeen zwischen Pinsk und Baranowitschi die endgültige Frontlinie einzurichten hätten.

Der neue Angriff der 10. Armee begann am 9. September; die beiden nördlich der Wilia vorgehenden Gruppen (rechts Generalkommando des XXI., weiter [222] links des I. Armeekorps, auf dem äußersten Flügel der Höhere Kavalleriekommandeur 6) erreichten an diesem Tage unter zum Teil heftigen Kämpfen die Gegend westlich Szirwinty - Sybaly - Poselwi - Bolniki - Owanta - Leljuny; dort war Fühlung mit dem rechten Flügel der Niemen-Armee.

Am folgenden Tage wich die geworfene starke russische Kavallerie vor den deutschen Divisionen auf Kukuzischki zurück. - Der Angriff der deutschen Korps richtete sich vor allem gegen den rechten Flügel der 10. russischen Armee, der eine empfindliche Niederlage erlitt. Der deutsche Armeeflügel erreichte die Linie Mejszagola - Paciuny - Gedroize - Lasarzi. Bei den Kämpfen wurde sicher erkannt, daß das I. Armeekorps den äußersten rechten Flügel des Gegners stark überragte, so daß die Möglichkeit der Umfassung gegeben schien. Allerdings kämpfte die 10. Armee mit einem starken Hemmnis; obschon die Wiederherstellung der zerstörten Eisenbahn erheblich vorgeschritten war, konnte der Nachschub infolge der zeitraubenden, schwierigen Arbeiten an der Bahnbrücke bei Kowno nur spärlich nachgeführt werden. Erst am 20. September wurde sie betriebsfähig.

Auch am 11. September hielten die Russen vor der 12., 8. Armee und dem rechten Flügel der 10. Armee noch zähe stand; aber der linke Stoßflügel konnte erheblich vorwärts kommen und versprach guten Erfolg. Trotzdem glaubte Oberost, in der sicheren Voraussetzung des Herankommens neuer russischer Kräfte, dem linken Flügel weitere Verstärkungen zuführen zu müssen, und erbat von der Obersten Heeresleitung die Zuweisung des freigewordenen X. Armeekorps auf kurze Zeit. Das Ansuchen wurde abgeschlagen. Trotz seiner infolgedessen beschränkten Mittel entschloß sich der Oberbefehlshaber, mit den bisherigen Kräften allein den Angriff fortzusetzen.

Anzeichen deuteten aber schon jetzt darauf hin, daß das Ziel kaum noch mit vollem Erfolge erreicht werden würde. Auf der ganzen westwärts gerichteten Front der Russen setzten am Abend Rückzugsbewegungen ein, die an den nächsten Tagen in ziemlich starkem Tempo fortschritten. Wirkte sich in diesem Entschluß auch die Gefahr aus, die aus der Umfassung von Wilna für die noch westlich stehenden Kräfte entstehen konnte, so deutete er umgekehrt aber auch an, daß die Hauptmasse der russischen Heere und ihrer Kampfmittel aus der Gefahrzone nach Osten gerettet seien. - Auch an diesem Tage noch machte der Angriffsflügel starke Fortschritte: die deutschen Kavallerie-Divisionen erreichten Gegend Kukuzischki.

Während am 12. September die rückgängigen Bewegungen des linken russischen Flügels fortgesetzt wurden, nahmen die Kämpfe jenseits der Wilia einen außerordentlich hartnäckigen Charakter an; vor allem stieß das rechte (XXI.) Armeekorps auf zähesten Widerstand, der das ganze Vorgehen zu hemmen drohte. Um dem Angriff einen schärferen Nachdruck zu geben, befahl das Oberkommando, daß das Generalkommando XXI entweder durchzubrechen [223] habe, oder - falls dies unausführbar erscheine - erhebliche Kräfte an das I. Armeekorps abgeben solle, um dessen Druck zu verstärken. - Der Einbruch durch die Dukszta-Stellung gelang bei Mejszagola, konnte aber nur wenig Gelände gewinnen. Dagegen erreichten die Divisionen des Generalkommandos I. Armeekorps in Gegend Korkoziszky - Koltynjany die Eisenbahn Wilna - Dwinsk, ebenso die Kavallerie weiter nördlich; den Russen war damit eine ihrer wichtigsten Bahnstrecken entrissen. Die deutschen Divisionen überschritten am 13. September die Bahn auch mit ihrem Gros, weiter südöstlich vorrückend. Auch 12., 8. und rechter Flügel der 10. Armee folgten dem schnell zurückgehenden Gegner. Dagegen hielten die im weiten Bogen südwestlich, westlich, nördlich und nordöstlich Wilna deckenden russischen Truppen ihre Stellungen mit äußerster Hartnäckigkeit. Oberost glaubte, im Hinblick auf die Größe des erstrebten Zieles, das allgemeine Vorgehen beschleunigen zu müssen, und erließ einen dahin gehenden Befehl, der zu äußerster Kraftanstrengung aufforderte.

Gleichzeitig befahl aber der Oberbefehlshaber auch die Vereinigung der ihm zur Verfügung stehenden großen Kavalleriemassen und ihren Einsatz gegen Flanke und Rücken der bei Wilna standhaltenden und über Lida nach Osten zurückgehenden russischen Armeen. Hatte die Marschleistung der Infanterie, trotz äußerster Hergabe aller Kräfte, die großen Räume nicht so rechtzeitig überwinden können, um die russischen Rückzugsstraßen zu unterbrechen, so hofften Hindenburg und sein Generalstabschef durch die Kavalleriekorps den Russen so lange Aufenthalt bereiten zu können, bis die in Eilmärschen nachgeführte Infanterie die endgültige Entscheidung bringen konnte, und ihnen durch Vorlegen an der Berezina endgültig den Rückzug zu unterbinden.

Am 12. September setzten sich die Kavallerie-Divisionen gegen die russischen rückwärtigen Verbindungen in Bewegung in allgemeiner Richtung auf den wichtigen Bahnknotenpunkt Molodeczno. Gelang es, ihn in Besitz zu nehmen und auch bei Smorgon und Wyleika die Marschstraßen zu durchschneiden, so schien der Rückzug der bei Wilna kämpfenden Russen unmöglich; die Masse der mit der Front nach Westen kämpfenden Divisionen fand in dem schmalen Raum zwischen dem Wilia-Bogen und dem für Truppenmärsche unbenutzbaren Sumpfgebiet der Berezina nicht die für einen ungehinderten Rückzug erforderlichen Wege.

Hauptsorge war zunächst die Unterbrechung der wichtigsten rückwärtigen Verbindungen des Gegners: seiner Eisenbahnen. Mit ihrer ersten Unterbrechung wurden zwei Patrouillen beauftragt, die, den Divisionen weit vorauseilend, ihre schwere Aufgabe erfüllten; die Sprengungen, die sie an den Bahnen Molodeczno - Polock und Minsk - Smolensk ausführten, brachten starke Erregung in das Etappengebiet und Unruhe in die russische Führung selbst. Hinter ihnen schoben sich die Kavallerie-Divisionen der 10. und der Narew-Armee (4., 6., 3., 9., später auch 1. und bayerische) in den von der Wilia gebildeten und - wie [224] schon ausgeführt - die Rückzugsstraßen empfindlich bedrohenden Bogen Smorgon - Molodeczno - Wyleika; von der rechten Kolonne wurde die Bahn Wilna - Molodeczno schon am 14. September bei Soly besetzt. In der Erkenntnis der ihnen jetzt unmittelbar drohenden schweren Gefahr trieb die russische Heeresführung nun alles irgend an Kräften Erreichbare gegen die tapferen und kühnen deutschen Reiter vor. Schon am 15. September entwickelten sich hier außerordentlich heftige Kämpfe. Obschon die Reiterregimenter noch jeder Infanterieunterstützung entbehrten, griffen sie Wyleika an, erstürmten es und wiesen die sofort dagegen vorgehenden Kräfte ab. Die Kavallerie des rechten Flügels der Niemen-Armee übernahm als besondere Aufgabe die Sicherung des Rückens und der Flanke der in südöstlicher Richtung vorgestoßenen Divisionen; sie besetzte Widsy und setzte sich in den Engen der Seen (Dryswiaty-See, Swir-See, Narocz-See usw.) fest.

Immer stärkere Kräfte konnte der russische Führer mit Fußmarsch und Eisenbahn gegen die weit vorgeschobene deutsche Kavallerie ansetzen; von drei Seiten ging er umfassend gegen sie vor. Trotzdem war die Gefahr für die noch bei Wilna stehenden russischen Divisionen groß, da auch von Südwesten her die 8. und 12. Armee auf Lida energisch nachdrängten. Hier mußte zunächst eine nachhaltige Abwehr die verfolgenden deutschen Armeen aufhalten, bis die sperrenden Divisionen von Smorgon - Wyleika zurückgedrückt und zwischen beiden Fronten die Wilna-Truppen durchgezogen waren.

Leider waren die Spitzen der deutschen Infanterie-Divisionen noch so weit entfernt, daß sie nicht rechtzeitig in ausreichender Stärke im Wilia-Bogen eingreifen konnten. 75. und 115. Reserve-Division warfen zwar die lediglich auf schlechte Wege angewiesenen und in ungeheuer anstrengenden Märschen eintreffenden Verbände sofort in den Kampf; aber die russischen Divisionen waren ihnen um ein Mehrfaches überlegen. Nach zähestem Widerstande und anfänglichem Erfolg mußten am 21. September Smorgon, am 23. Wyleika wieder den Russen überlassen werden; die Infanterie-Divisionen mußten sich den Rückweg unter schweren Opfern gegen die schon nördlich weit umfassenden Russen erkämpfen. Mit ihnen wichen die Reiter nur Schritt für Schritt auf die Seenkette zurück, wo sie von der jetzt anlangenden Infanterie aufgenommen wurden und sich wieder ordnen konnten. Dort klammerten sich die deutschen Verbände fest und brachten das russische Vorgehen zunächst zum Stillstand.

Unterdes hatte sich der Kampf um Wilna entschieden. Am 14. September machte der linke Flügel der 10. Armee (Generalkommando I. Armeekorps) wichtige Fortschritte, indem er, südwärts eindrehend, mit zwei Divisionen je einen Übergang über die Wilia - weit oberhalb Wilnas - westlich Bystriza und bei Michalischki erkämpfte, über die am folgenden Tage die Gros unter schwersten Kämpfen vorwärts zu kommen suchten; zwei weitere Divisionen folgten dorthin.

Trotz dieser sich immer stärker andeutenden Gefahr, völlig umfaßt zu wer- [225] den, hielten die Russen auch am 16. September das Vorgelände von Wilna noch fest in der Hand und gingen in dem von der Wilia gebildeten Winkel erst am Abend in eine der Stadt näher liegende Stellung zurück. Nordöstlich und fast östlich der Stadt konnte der deutsche Umfassungsflügel keine Fortschritte machen, obschon er hier jetzt sechs Infanterie-Divisionen hatte über die Wilia hinüberführen können (75. Reserve-, 10. Landwehr-, 31., 42., 58. und 2. Infanterie-Division). Gegen die links anschließenden, nach Osten sichernden Kavallerie-Divisionen schienen nach den einlaufenden Meldungen die Russen stärkere Kräfte (angeblich zwei Korps) zum Vorgehen bereitzustellen. Vom rechten Flügel der Niemen-Armee wurde dauende Verbindung mit dem Kavallerie-Korps 6 gehalten; am 16. September hatte er Widsy in Besitz genommen.

Noch einmal drängte ein Befehl Hindenburgs auf äußerste Kraftentfaltung und Energie beim Vormarsch aller Armeen; dann seien große Erfolge zu erreichen. 10. Armee solle sich bei diesem Vormarsch stark vorwärtsstaffeln und die Kavallerie-Divisionen sich dem feindlichen Rückzug zunächst in Linie Wyleika - Minsk, demnächst an der östlichen Berezina vorlegen. Außer Kavallerie solle zur Verstärkung des Drucks die Niemen-Armee auch Infanterie an die 10. Armee abgeben.

Die Kavallerie-Divisionen hatten sich unterdes im Wilia-Winkel Smorgon - Molodeczno - Wyleika festgesetzt und hielten dort in tapfersten Kämpfen stand.

Um der Operation einen weiteren Anstoß zu geben, beantragte Oberost bei der Obersten Heeresleitung, diese möge auch die Heeresgruppe Prinz Leopold und Mackensen auf energische Verfolgung hinweisen; sie erhielt die Antwort, daß längst entsprechende Weisungen gegeben seien.

Als am 18. September die 10. Armee erneut zum Angriff vorgehen wollte, hatten die Russen nicht nur ihre Kampfstellung nördlich und westlich Wilna, sondern auch die Stadt selbst geräumt; aber schon dicht südlich derselben widersetzten sie sich in einer gut ausgebauten Stellung aufs neue. - Abermals machte die Neugestaltung der Lage eine Verschiebung der Kräfte nötig; Oberost gab Weisung, daß beschleunigt alle verfügbaren Divisionen (115., 77., 42., 75. R.) aus der Mitte herausgezogen und nach dem äußersten linken Flügel zur Unterstützung der Kavallerie in Marsch gesetzt werden sollten. - Der Nordteil der Niemen-Armee erstürmte an diesem Tage die vorderste Stellung des Brückenkopfs Dwinsk.

Aber der 19. September hatte einen Befehl der Obersten Heeresleitung gebracht, der - in Verbindung mit den Maßnahmen des Gegners - außerordentlich schwer in die weiteren Pläne von Oberost eingreifen sollte. Er ordnete an, daß eine ganze Reihe von Generalkommandos (XIII und XI) und Divisionen (1. Garde-Reserve-, 4. Garde-, 26., 50., 54., 38) nach anderen Kriegsschauplätzen abbefördert werden sollten - 26. Infanterie-Division sofort.

Da Oberost diese Division nach Norden hatte schieben wollen, um sie zur [226] Deckung von Mitau gegen neu aus Galizien nach der unteren Düna herantransportierte Verstärkungen einzusetzen, trat abermals ein Konflikt zwischen Oberster Heeresleitung und dem Oberbefehlshaber Ost ein, der scharfe Worte auslöste, eine Änderung des Befehls aber nicht erzielte.

Am 19. September erreichte, rechts an 8. Armee anschließend, 10. Armee die Linie Konwaliszki - Kamionka - Turgieli - Szumsk - Korwely - Kowale - nördlich Smorgon; 4. und 1. Kavallerie-Division standen bei Smorgon, 3. dahinter, bayerische bei Postawy.

Um der sich jetzt deutlicher abzeichnenden Umfassung der Russen durch die 10. Armee die Hand zu reichen, forderte Hindenburg von der 12. Armee ein energisches Vorgehen längs der Eisenbahn Lida - Molodeczno mit ihrem starken rechten Flügel. Aber auch die russische Heeresleitung hatte die außerordentliche Gefahr für die südlich und östlich Wilna stehenden erheblichen Massen erkannt und Gegenmaßnahmen eingeleitet, die am 20. September in Gestalt eines starken Angriffs begannen. Sollte den russischen Korps wieder der Weg freigemacht werden, so mußte die schon empfindlich fühlbare Umfassung durch einen Stoß gegen die ihre äußerste Flanke bedrohenden deutschen Kräfte zurückgeworfen werden. So richtete sich der russische Angriff gegen die lockere Verbindung zwischen den inneren Flügeln der 10. Armee und der Niemen-Armee, also zunächst gegen die bei Smorgon - Wyleika stehenden Kavallerie-Divisionen. Smorgon mußte - wie schon dargestellt - von der es hartnäckig verteidigenden 1. Kavallerie-Division unter schweren Verlusten geräumt werden.

Allerdings konnte aus den aufgefangenen russischen Funksprüchen (Zurückverlegen der Generalkommandos des Garde-, III. und V. kaukasischen, sowie II. Korps) der Schluß gezogen werden, daß der russische Führer an eine Offensive großen Stils nicht denke. Aber die Gefahr eines Einbrechens zwischen den Armeen war doch außerordentlich groß. Aus dieser Sorge heraus hatte das Armee-Oberkommando schon alle aus der Front bei Wilna entbehrlichen Divisionen nach dem linken Flügel in Marsch gesetzt, um den Wilia-Bogen in der Hand zu behalten, oder, falls das nicht möglich, an der Seenkette gemeinsam mit den Kavallerie-Divisionen den feindlichen Ansturm abzufangen.

Während Oberost auf Grund aufgefangener Funksprüche die russische Absicht, "mit 10. Armee anzugreifen und mit 2. Armee überraschend gegen Wyleika - Smorgon vorzubrechen", die Armeen am 21. September zum einheitlichen Vorgehen anwies, entspannen sich in Gegend Smorgon neue Kämpfe von einer Erbitterung und einem Ungestüm, wie sie bisher im Osten kaum erlebt waren. Die Verluste waren bei den Russen außerordentlich schwer, aber auch auf deutscher Seite recht groß. Auch von der Niemen-Armee mußte stärkere Hilfe geleistet werden; sie schob außer der 2. Kavallerie- auch die 88. und 3. Infanterie-Division über Widsy nach Osten und Südosten schärfer an den linken Flügel der 10. Armee heran. Die Gefahr bestand vor allem darin, daß die in Marsch ge- [227] setzten Divisionen der 10. Armee (42., 115., 75. R., 77.) auch zur Sperrung der Engpässe zwischen den Seen zu spät eintreffen könnten.

Auch auf dem südlicheren Teil der Ostfront verlangsamte sich vom 22. September ab das Vorgehen wieder; teilweise mußten sogar starke russische Gegenangriffe abgewehrt werden. Anscheinend glaubten die Russen aus dem Angriff der östlich und südöstlich Wyleika zusammengeführten starken Massen (es wurden XXXVI., XIV., XXVII., XX. und sibirisches IV. Armeekorps sowie die 1. und eine kombinierte Kavallerie-Division festgestellt) einen entscheidenden Erfolg gegen die Flanken der 10. und Niemen-Armee erreichen zu können und jedenfalls eine weitere Gefährdung ihres Rückzugs zu hindern. Unter Hinweis auf die tatsächlich drohende schwere Gefahr für beide Armeen ordnete der Heeresbefehl vom 22. September erneut Vorgehen und Angriff auf der ganzen Front an, besonders für 12., 8. und 10. Armee. Abermals entspannen sich bei allen Armeen schwerste Kämpfe, in deren Verlauf die 12. Armee Nowogrudok stürmte, aber Wyleika trotz aufopferndster Verteidigung schließlich geräumt werden mußte.

Am 24. September lief von der 9. Armee die Meldung ein, daß von der Obersten Heeresleitung der Befehl eingegangen sei, daß der Oginski-Kanal, der Serwecz und der Niemen im allgemeinen nicht zu überschreiten seien; Grenze gegen 9. Armee (Prinz Leopold) sei die Mündung der (kleinen) Berezina6 in den Niemen; Oberost erhielt diesen Befehl nicht und regte bei der 9. Armee an, daß diese auch mit ihrem Gros die Berezina überschreiten solle, wenn sich die Möglichkeit ergäbe, weiter auf Minsk vorwärts zu kommen. - Die 10. Armee machte in ihrem erneuten Angriff auf Smorgon nur geringe Fortschritte, hatte vielmehr wieder sehr schwere Angriffe gegen ihren linken Flügel abzuwehren.

Gleichzeitig mit der Nachricht vom Beginn außerordentlich schwerer Kämpfe im Westen erließ am 25. September die Oberste Heeresleitung den endgültigen Befehl, in Dauerstellung zu gehen. Für Oberost enthielt er überdies die Weisung, erhebliche Kräfte (Generalkommando XXI, 6. Reserve-, 115., 58., 31. und 42. Infanterie-Division) für andere Aufgaben abzugeben.

Das bedeutete das Ende der großen, bei frühem Beginn und ausreichenden Kräften große Erfolge versprechenden Offensive gegen Flanke und Rücken des in Polen stehenden russischen Heeres. Die Lösung der Truppen aus der engen Kampfberührung war nicht leicht; zunächst mußte der Gegner durch energischen Angriff zurückgeworfen und so Bewegungsfreiheit erzielt werden.

Aus den sich hieraus entspinnenden deutschen Angriffen und den mit Erbitterung dauernd wiederholten Gegenangriffen der Russen entwickelten sich abermals blutige Kämpfe, die für beide keine Fortschritte zeitigten. Der deutschen [228] 10. Armee gelang es nicht, Smorgon definitiv wieder in Besitz zu nehmen; aber auch der russische Führer vermochte die sich allmählich bildende deutsche Front nicht zu durchbrechen. Den für die jetzigen Aufgaben nicht mehr nötigen, aber für den Verlauf einer Dauerstellung ungünstigen, nach Osten ausspringenden Bogen zwischen Smorgon und Wyleika räumten die deutschen Truppen freiwillig, nachdem sie die sofort einsetzenden russischen Angriffe blutig abgewiesen hatten. Bis weit in den Oktober hinein setzten sich diese Kämpfe fort, bis allmählich auch die russische Überzahl erlahmte. Besonders schwer und opferreich waren die Tage vom 22. bis 24. September gewesen, aber die Armee- und Heeresfront hatten gehalten. Am 27. Oktober gab der Oberbefehlshaber Ost den Befehl zum Einstellen der Kämpfe unter Festhalten der zur Dauerstellung ausersehenen und sofort auf das stärkste auszubauenden Linie. Er bestimmte sie vom linken Flügel der 9. Armee (Heeresgruppe Prinz Leopold) ausgehend an der (kleinen) Berezina, Smorgon vor der Front lassend in Richtung auf den Narocz-See, den Miadziol-See, Widsy auf Illuxt und - unter Umschließung der noch links der Düna von den Russen gehaltenen Brückenköpfe - zwischen Riga und Mitau bis zum Rigaischen Meerbusen nördlich Schlock.

Damit war die Front festgelegt, in der die deutschen Truppen im Osten bis zum Herbst 1917 aushalten mußten, um der Obersten Heeresleitung ihre großen Feldzüge auf den anderen Kriegsschauplätzen zu ermöglichen. In den vergeblichen Anstürmen gegen die von der Moldau bis zur Ostsee reichenden gemeinsamen Front der Verbündeten erschöpfte sich die Kraft des russischen Heeres endgültig. Daß es nicht schon 1915 gelang, sie zu zerbrechen, hat den Ausgang des Weltkrieges auf das stärkste beeinflußt.


3 [1/210]Vgl. hierzu Band 5: Der österreichisch-ungarische Krieg. ...zurück...

4 [1/211]Vgl. hierzu Band 5: Der österreichisch-ungarische Krieg. ...zurück...

5 [1/212]Vgl. hierzu Band 5: Der österreichisch-ungarische Krieg. ...zurück...

6 [1/227]Es handelt sich hier nicht um die (von 1812 her bekannte) große Berezina, die zum Stromgebiet des Pripjet gehört, sondern um die kleine oder Saberezina, den Nebenfluß des Niemen. ...zurück...


Der Weltkampf um Ehre und Recht.
Die Erforschung des Krieges in seiner wahren Begebenheit,
auf amtlichen Urkunden und Akten beruhend.
Hg. von Exzellenz Generalleutnant Max Schwarte