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Bd. 1: Der deutsche Landkrieg, Erster Teil:
Vom Kriegsbeginn bis zum Frühjahr 1915

[452] Kapitel 7: Der Krieg im Herbst und Winter im Osten
Oberst Friedrich Immanuel

1. Das Landwehrkorps Woyrsch bis September 1914.

Die Abmachungen des deutschen Generalstabes mit dem österreichisch-ungarischen für den Fall des Zweifrontenkrieges waren nur in ganz großen Zügen getroffen worden, denn "Graf Schlieffen fürchtete einen Vertrauensbruch, wie ein solcher auch tatsächlich vorgekommen war."1 Österreich-Ungarn2 entschloß sich, etwa drei Fünftel seiner Kampfstärke gegen Rußland, zwei Fünftel gegen Serbien einzusetzen. Auf beiden Kriegsschauplätzen wollte es angriffsweise verfahren, denn es hoffte, dem feindlichen Aufmarsch zuvorzukommen, und plante, den Krieg von vornherein in Feindesland zu tragen. Diese Erwartungen haben sich, von kurzen Anfangserfolgen abgesehen, nicht verwirklichen lassen. Die gegen Rußland aufgestellten Armeen erwiesen sich als nicht stark genug, um den russischen Gegendruck auszuhalten, der nach den ersten Erfolgen des k. u. k. Heeres in Südostpolen eintrat. Rußland war bereits seit Monaten in der Mobilmachung begriffen und - im Gegensatz zu den Berechnungen des österreichisch-ungarischen Generalstabes - völlig schlagfertig, als der entscheidende Kampf begann. Gleichwohl beabsichtigte das k. u. k. Armee-Oberkommando, den Krieg gegen Rußland so zu führen, daß die linke Flügelarmee Dankl auf Lublin, die östlich neben ihr stehende Armee Auffenberg auf Cholm vorgehen sollte, um sich zunächst in den Besitz der Bug-Linie zu bringen. Sodann sollten sich auch die beiden Armeen des rechten Flügels - Brudermann über Brody, Boehm-Ermolli über Chotin - in Bewegung setzen. So sollte der ganze russische Aufmarsch, den man im Bogen Iwangorod - Rowno - Shmerinka annahm, noch vor seiner Vollendung über den Haufen geworfen und dann der gemeinsame Vormarsch aller Armeen auf Kiew angetreten werden.

Die Voraussetzungen erwiesen sich aber als nicht zutreffend. Die Russen waren ebenso schnell, überdies in fast doppelter Überzahl zur Stelle, so daß der strahlenförmig auseinandergehende österreichisch-ungarische Angriff von Anfang an den Keim des Mißerfolges in sich trug.

Der der Gesamtkriegführung zugrunde liegende deutsche Kriegsplan sah für den Osten vor, daß sich Deutschland mit einem Mindestmaß von Truppen in Ost- [453] preußen begnügen, die Hauptlast der Kriegführung auf dem östlichen Kriegsschauplatz aber dem österreichisch-ungarischen Verbündeten überlassen mußte. Der k. u. k. Generalstab drängte im Gefühl der Schwäche seiner Streitmittel und in Beunruhigung über die Loslösung Italiens vom Dreibunde schon vor Kriegsbeginn an mit steigender Ungeduld darauf, daß Deutschland so schnell wie möglich Maßnahmen zur Unterstützung Österreich-Ungarns im Kampfe gegen Rußland treffen sollte. Man erwartete, daß erhebliche deutsche Kräfte aus Ostpreußen über den mittleren Narew auf Siedlce vorgehen würden, um den aus Galizien kommenden k. u. k. Armeen die Hand zu reichen. Auch wurde auf eine unmittelbare Unterstützung der galizischen Armeen durch deutsche Kräfte gerechnet.

Da sich diese Gedanken und Wünsche nicht verwirklichen ließen, hatten die beiden Generalstäbe sich dahin verständigt, daß Deutschland zunächst ein Armeekorps zur Deckung des linken k. u. k. Heeresflügels stellen sollte, bis weitere deutsche Kräfte verfügbar wurden. Dieses Armeekorps war das schlesische Landwehrkorps Woyrsch. Es erhielt die Aufgabe, anschließend an den linken Flügel der k. u. k. Armeen aus der Linie Beuthen - Kreuzburg in allgemeiner Richtung gegen Iwangorod vorzugehen. Es war an Fußtruppen stärker als ein deutsches Armeekorps in gewöhnlicher Zusammensetzung, doch war es nicht möglich gewesen, ihm genügend Feldartillerie und schwere Artillerie zuzuteilen. Es umfaßte die 3. und 4. Landwehr-Division, 10 Brigade-Ersatz-Bataillone, etwas Reiterei, 2 Feldartillerie-Regimenter, einige technische Truppen, zusammen 37 Bataillone, 12 Batterien.

Rechts des Korps Woyrsch sammelte sich bei Krakau das österreichisch-ungarische Landsturmkorps Kummer, dem eine Kavallerie-Division unterstellt wurde. Das Korps war zum Teil dürftig ausgerüstet und hatte die Aufgabe, hart am nördlichen Ufer der Weichsel entlang stromabwärts als unmittelbarer Flankenschutz der Armee Dankl den Fluß zwischen Sandomir und Iwangorod zu erreichen, um im Verein mit dem Korps Woyrsch russische Angriffsstöße aus Iwangorod abzuweisen, nach Möglichkeit aber auch in die Kämpfe auf dem östlichen Weichsel-Ufer einzugreifen. Die deutsche Ostgrenze wurde in der Linie Kalisz - Alexandrowo durch Festungs- und Besatzungstruppen, meistens Landsturm, geschützt. Da sich die Russen westlich Warschau ruhig verhielten und sich auf die Verwendung von Grenzschutztruppen und Kavallerie beschränkten, so reichten die geringen deutschen Kräfte aus, um das Korps Woyrsch in der offenen linken Flanke zu decken, die von Warschau her auf das empfindlichste gefährdet werden konnte, falls die Russen von ihrer sehr bedeutenden Überlegenheit Gebrauch machten. Sie verzichteten aber auf jede angriffsweise Tätigkeit in Polen westlich der Warschau und ließen sich durch die außerordentlich geschickte Führung und Verschleierung des Korps Woyrsch über dessen Schwäche im Vergleich zu der ihm gestellten sehr schweren Aufgabe gründlich täuschen.

Die Aufklärungstruppen des Korps Woyrsch - Kavallerie und Radfahrer - [454] besetzten bereits am 3. August die Linie Kalisz - Wielun - Czenstochowa - Bendzin und sicherten dadurch das für Deutschlands Wirtschaftslage und Kriegführung unentbehrliche oberschlesische Kohlengebiet. Die Russen zogen sich in die Lysa Gora zwischen Kielce und Bzin zurück und zerstörten Eisenbahn- und Straßenbrücken, auch den großen Tunnel bei Miechow im Zuge der von Iwangorod nach der Südostecke Oberschlesiens führenden Bahnlinie.

Russischerseits setzten sich am 21. August sehr schwerfällig, aber doch nach einheitlichem Plan die Armeen mit folgenden Zielen in Bewegung:

  • 4. Armee Ewert auf Krasnik,
  • 5. Armee Plehwe auf Samostje,
  • 3. Armee Rußki auf Sokal,
  • 8. Armee Iwanow auf Tarnopol,
  • 7. Armee Brussilow auf Czernowitz.

Der rechte Flügel erhielt einen beträchtlichen Vorsprung, um den Westflügel des Gegners zu binden und zu umfassen, bis der linke russische Flügel herangekommen sein konnte. Die österreichisch-ungarische Heeresleitung beabsichtigte, mit den Armeen Dankl und Auffenberg über die beiden westlichen Armeen des Feindes herzufallen und sie zu schlagen, bevor der russische Druck von Osten her gegen die Front Lemberg - Czernowitz fühlbar geworden war. Am linken Weichsel-Ufer hatten die Russen als Flankendeckung gegen die Korps Kummer und Woyrsch in die Gegend südlich und südwestlich Iwangorod nicht weniger als sechs Kavallerie- und Kosaken-Divisionen vorgeschoben, hinter ihnen die auf etwa drei gemischte Brigaden zu schätzende Hauptreserve der Festung. Während die Armee Dankl am 24. und 25. August bei Krasnik siegreich kämpfte, wurde das Korps Kummer auf dem linken Weichsel-Ufer an der unteren Kamienna nördlich Tarlow von großer Überlegenheit angegriffen und zum verteidigungsweisen Kampfe in der Linie Lasoczin - Ostrowiec - Wierzbnik genötigt. Korps Woyrsch, das der österreichisch-ungarischen Heerführung nicht unmittelbar unterstellt war, sondern sich mit ihr von Fall zu Fall ins Benehmen zu setzen hatte, löste seine Aufgabe in vortrefflicher Weise dadurch, daß es - zugleich sich die volle Bewegungsfreiheit wahrend - sehr weit nach Norden hin ausholte. Auf diese Weise unterstützte es den linken Flügel des Korps Kummer operativ und schützte zugleich die schlesische Grenze gegen russische Unternehmungen von Warschau wie von Iwangorod her. Allerdings stellten diese Bewegungen sehr erhebliche Ansprüche an die Marschfähigkeit der Truppen, die sich hinsichtlich ihrer Ausdauer und Leistungsfähigkeit auf den schlechten Straßen Südwestpolens glänzend bewährten. Das Korps trieb die russische Reiterei vor sich her und marschierte von Czenstochowa über Nowo-Radomsk - Przedborz - Konskie auf Sydlowiec (30 Kilometer südwestlich Radom), wo es am 25. August so bereit stand, daß es die vor dem Korps Kummer befindlichen russischen Kräfte in der [455] Flanke bedrohte und somit die Flankendeckung des österreichisch-ungarischen Heeres im operativen Sinne löste.

Inzwischen war durch den Gegenstoß großer russischer Massen die Armee Dankl in die Verteidigung geworfen worden. Zur Entlastung des bedrohten Westflügels wurde das Korps Kummer in der Nacht vom 29. August bei Jozefow, wo Notbrücken geschlagen worden waren, vom linken auf das rechte Weichsel-Ufer gezogen, allein auch diese Truppen konnten die Kampflage der Armee nicht wenden, sondern sahen sich bei Opole in unentschiedene Kämpfe verwickelt. In dieser Lage griff die k. u. k. Heeresleitung auf die Hilfe des Korps Woyrsch zurück und veranlaßte es, unter Belassung der notwendigsten Deckungstruppen auf dem linken Weichsel-Ufer mit den Hauptkräften zur unmittelbaren Unterstützung der Armee Dankl in die Schlacht am rechten Ufer des Stromes einzugreifen. Generaloberst v. Woyrsch ging am 1. September aus der Linie Wierzbnik - Radom in südöstlicher Richtung gegen die Weichsel vor und warf den Feind bei Kasanow und Sjenno zurück. Dann überschritt das Korps, durch die Gruppe Kummer gedeckt, in der Gegend von Jozefow die Weichsel, um sich der Armee Dankl zur Verfügung zu stellen - "als Kerntruppe", wie der österreichisch-ungarische Bericht sagt, ein ehrendes Zeugnis für den Wert, den die Bundesgenossen den Deutsch-Schlesiern in der Stunde der Not zollten. Das Korps Woyrsch konnte keine sofortige Verwendung finden, um, wie es ursprünglich beabsichtigt war, unmittelbar von der Weichsel aus zur Umfassung des russischen rechten Flügels zu wirken. Die dringende Gefahr für die Armee Dankl lag jetzt darin, daß sie auf ihrem rechten Flügel umfaßt und unter Trennung von der Armee Boroevic (bisher Auffenberg) in das Sumpfgelände des Tanew geworfen wurde. Da dem General Dankl zur Abwendung dieser Gefahr Reserven nicht mehr zur Verfügung standen, wurde das Korps Woyrsch hinter der Schlachtlinie vorbei vom linken nach dem rechten Flügel gezogen und am 7. September in der Front Turobin - Tarnawa hinter dem Bache Por eingesetzt, wo es bis zum 9. "wie ein Fels" stand, an welchem sich alle russischen Angriffe zersplitterten. Drei Tage lang schlugen sich die deutschen Landwehren mit überraschender Zähigkeit und deckten, alle russischen Vorstöße siegreich abweisend, den Rückzug der Armee Dankl über den Tanew, um sich am 11. September auf Janow, dann über den San bei Ulanow und weiterhin über den unteren Leg zurückzuziehen. Das tapfere Korps hat unter den allerschwierigsten Umständen seine Aufgabe erfüllt, der Armee Dankl den Rückmarsch zu ermöglichen.

Wenn auch die Verluste auf dem Schlachtfelde und während der Loslösung vom Feinde bedeutend gewesen sind, wenn selbst eine Anzahl von zerschossenen Geschützen zurückgelassen werden mußte, wie zum Beispiel eine ganze Landsturm-Batterie in verzweifeltem Nahkampfe unterging, so hat die schlesische Landwehr ihre Treue gegenüber dem hart bedrängten Bundesgenossen ruhmvoll [456] gehalten. Man hatte das Korps Woyrsch bereits für verloren erachtet und hoffte nicht mehr darauf, daß es sich durch die Massen der nachdrängenden Russen durchschlagen werde. Aber das scheinbar Unmögliche wurde doch erreicht durch scharfe Abwehr, ja durch manchen Gegenstoß, namentlich aber durch Gewalt- und Nachtmärsche bei mangelhafter Verpflegung und dürftiger Unterkunft. Das Korps gelangte in die Gegend östlich Krakau, wo es nach ungeheuren Leistungen zur wohlverdienten Ruhe übergehen konnte. Es bildete die Verbindung zwischen der Armee Dankl und der neuen deutschen 9. Armee in Oberschlesien, die sich inzwischen zur Unterstützung des österreichisch-ungarischen Heeres bereitgestellt hatte. "Wir nahmen sofort Verbindung mit ihm auf", berichtet Ludendorff, "und sorgten, so gut es ging, für seine Ergänzung und Neuausstattung. Auf seine Bitte erhielt es auch schwere Artillerie. Wir konnten ihm nur ein Landwehr-Bataillon geben, das alte Feldhaubitzen hatte. Die Taten des Landwehrkorps sind eine stolze Erinnerung für alle Beteiligten. Sie bilden zugleich einen vollgültigen Beweis für die Güte unserer Armee, für die Richtigkeit unserer Heereseinrichtungen sowie für den hervorragenden Wert der Ausbildung unserer Soldaten vor dem Kriege. Dies setzte uns in den Stand, im Osten mit Landwehr- und Landsturm-Formationen in immer steigendem Maße den Krieg zu führen."3


1 [1/452]Ludendorff, Kriegserinnerungen, Seite 46. ...zurück...

2 [2/452]Vergleiche hierzu Band 5. ...zurück...

3 [1/456]Ludendorff, Kriegserinnerungen, Seite 63. ...zurück...


Der Weltkampf um Ehre und Recht.
Die Erforschung des Krieges in seiner wahren Begebenheit,
auf amtlichen Urkunden und Akten beruhend.
Hg. von Exzellenz Generalleutnant Max Schwarte